Die Unsichtbaren
hobo
und mir kommt es vor als ob genau das immer unser großes Unglück gewesen ist dass wir jedes Mal dachten dass es im Grunde genommen nur darauf ankommt zu siegen oder zu verlieren während doch alles was wir gemacht haben wirklich nie irgendwas mit Siegen oder Verlieren zu tun hatte denn wenn es nämlich nur darum geht zu siegen oder zu verlieren dann ist klar dass wir hier schon längst alles verloren haben aber Tatsache ist dass ich glaube und viele andere glauben das Gleiche wie ich dass wir im Grunde niemals weder dran gedacht haben zu siegen noch siegen wollten und auch mit keinem Gedanken gedacht haben dass es irgendwo irgendwas zu siegen gäbe und weißt du was wenn ich es mir recht überlege dann erscheint mir das Wort Siegen jetzt wahrhaftig gleichbedeutend mit Sterben
Als Nanni Balestrini seinen Ich-Erzähler diesen Schwall von Gedanken über einen Mitgefangenen stürzen lässt, ist die Frage nach Sieg oder Niederlage von der Frage nach dem Überleben längst in den Schatten gestellt. Im "politischen" Trakt eines Hochsicherheitsgefängnisses tobt die Häftlingsrevolte. Doch richtet sich der sorgfältig vorbereitete Aufstand nach innen, selbst ein angesichts der einsetzenden ungeheuren Gegengewalt aussichtlos erscheinender Sieg könnte die Mauern nicht durchbrechen.
Als Nanni Balestrini 1987 seinen Roman Gli ivisibili (Die Unsichtbaren) veröffentlicht, liegt seine eigene Flucht bereits acht Jahre zurück. Am 7. April 1979 hatte der italienische Staat zu einem von allen politischen Parteien bis hin zu den KommunistInnen mitgetragenen Schlag gegen die außerparlamentarische Linke ausgeholt. Einige Hundert Linksradikale wurden zu zum Teil jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt, die radikale Opposition und vor allem das autonome Spektrum wurden zerschlagen. Balestrini wurde die Zugehörigkeit zum bewaffneten Untergrund und Verwicklung in die Ermordung Aldo Moros vorgeworfen. Aber er konnte entkommen, er flüchtete auf Schiern über die Alpen.
Tatsächlich hatte der 1935 in Mailand Geborene im Alter von neunzehn Jahren literarisch auf sich aufmerksam gemacht. 1956 wurde er Redakteur der Zeitschrift Il verri, die für Unruhe im literarischen Betrieb sorgte. Eine Anthologie der "Gruppe 63" erschien im Verlag des Freundes Feltrinelli, der erst unlängst durch das Erscheinen einer neuen Biografie wieder in Erinnerung gerufen wurde. Balestrini sollte dem beim Versuch einer Strommastsprengung ums Leben gekommenen später einen Roman (Der Verleger) widmen, und kämpfte selbst in der "OEP", der italienischen außerparlamentarischen Opposition. Kontakte zu "Potere Operaio", der "Arbeitermacht", bewaffneten proletarischen Gruppen sowie der Roten Brigaden werden ihm nachgesagt.
Im nun in der Assoziation A neu aufgelegten Roman Die Unsichtbaren erzählt Balestrini die Geschichte der italienischen Autonomia-Bewegung der siebziger Jahre. Er erzählt sie in einer Art Inneren Monologs, in einer galoppierenden, oft sich überschlagenden Gedankenfolge. Er erzählt sie in drei parallelen Strängen, in der sein Ich-Erzähler durch die Jugend- und StudentInnenrevolten politisiert bald von der Wiederaneignung des eigenen Lebens träumt. - ich trage immer die gleichen Lumpen bis sie auseinander fallen denn das gehört zum Spiel wir gehen aufs Ganze wie kannst du an die Kleidung denken wenn du alles aufs Spiel setzt - In der tristen Situation ungelernter ArbeiterInnen aus dem Süden in der durch Umstrukturierungen gekennzeichneten Industrielandschaft Norditaliens wollen er und seine GefährtInnen von den traditionellen ArbeiterInnenparteien und ihren Kampfformen nichts wissen. Nicht für Arbeit und eine gerechte Entlohnung wollen sie kämpfen, sondern gegen diese und den den Zwängen innewohnende Gewalt. Ein linkes Parteilokal wird zum Zentrum der neuen Bewegung. - wir hatten zu dieser Zeit eine Menge Kämpfe am Laufen und diese Typen hier hatten sich noch nie blicken lassen und da kam der und verlangte von uns eine Auseinandersetzung mit der politischen Linie ihrer Partei - Die "Kämpfe" erstrecken sich von Auseinandersetzungen mit Schulbehörden, über die gruppenweise Aneignung von Lebensmitteln, Hausbesetzungen, der Errichtung einer Radiostation bis zu wilden Streiks und militanten Aktionen gegen streikbrechende Fabriken. - zu jener Zeit herrschte das allgemeine Chaos in den Fabriken und draußen in den Städten ganze Straßenzüge gingen in Flammen auf wenn die zigtausende Menschen zählenden Demonstrationszüge vorüberzogen es gab schwerste Auseindersetzungen mit der Polizei Waffenkammern wurden geplündert Fabriken und Universitäten besetzt - Aber die Wogen der Revolution schlagen auch über den Köpfen der Revolutionäre zusammen als ihre Kampfgenossinnen sie auf ihr gar nicht revolutionäres Verhalten stoßen. - aber dann wurde mir klar wurde uns allen klar dass es hier nicht nur um kleine private Geschichten ging es ging um etwas viel Größeres es war wie wir später erkannt haben ein Trauma ein großes Trauma ein Bruch der vielleicht radikaler war als alle bisherigen und der uns dann alle verändert hat - Ein fantastischer Sommer ist der Bewegung gegönnt, aber vielleicht meint der Erzähler auch die Bewegung und die ab einem Punkt grenzenlose Militanz, wenn er später im Hochsicherheitstrakt zurück blickt - die Revolte war wie ein Feuer gewesen das alles verbrannt hat alle Kraft die wir angesammelt hatten war bei der Revolte verbrannt und jetzt ging es darum uns Schritt für Schritt wieder aufzubauen um alles zurückzuerobern was wir verloren hatten - Denn die Bewegung wird zerschlagen. Davon handelt die Erzählung nicht mehr, der Erzähler wird früh verhaftet, sein Blick auf die Ereignisse ist durch die Gitterstäbe verstellt. Er kämpft lange Zeit weiter, aber er wird auch von Zweifeln geplagt. - manchmal frage ich mich jetzt wo alles vorbei ist frage ich mich was unsere ganze Geschichte bedeutet hat alles was wir gemacht haben was haben wir erreicht mit all dem was wir gemacht haben - In der Nacht vor dem gemeinsamen Prozess antwortet ihm sein Freund und Mitgefangener: ich glaube es ist unwichtig dass alles vorbei ist ich glaube wichtig ist nur dass wir gemacht haben was wir gemacht haben und dass wir es für richtig halten es gemacht zu haben das ist das einzig Wichtige glaube ich -
Nanni Balestrini
Die Unsichtbaren
Roman
Assoziation A, 2001
228 Seiten; ca. öS 250.-
Sicher auch im Infoladen X im EKH erhältlich.
--> Hintergrund: >>Autonomia
aus TATblatt Nr. +175 vom 12. Oktober 2001
>>TATblatt-Inhaltsverzeichnis |
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