Im März 1987 fragt die »Zeit«:
»Revolution - nur in welche Richtung?« Damit bringt sie ihre
Wahrnehmung über die zugespitzte soziale Konfrontation in Jugoslawien
zu jenem Zeitpunkt auf den Punkt. In der Unterzeile heißt es etwas
bescheidener: »Lohnstopp und Preiserhöhungen treiben die Arbeiter
zu verbitterten Protesten. »Tatsächlich war damals das soziale
Thema vorrangig und nicht das nationale1.
Wenn es so war, schließt die zentrale Frage für das gesamte
Geschehen in Jugoslawien an: Wie konnte es geschehen, daß die soziale
Radikalisierung der Jahre 1982 bis 1987 von 1988 an in eine nationale
überführt worden ist? Wie konnte das Ordnungsmodell des
Völkischen (des religiösen, kulturellen und sprachlichen) so
mächtig werden, daß es den sozial solidarischen Kampf der
Menschen zu Fall brachte? Oder: Wie haben sich die Herrschenden des
Völkischen (Ethnischen) bedient, um den Aufeinanderprall von
ökonomischen Interessen und existenziellen Lebensbedingungen zu
regulieren? Von welchen Voraussetzungen hängt es ab, welche
Kampfperspektive sich durchsetzt? Müssen wir davon ausgehen, daß
die Schwäche der sozialrevolutionären Intelligenz in Jugoslawien
und in Europa diesen Vernichtungskrieg erst ermöglicht hat?
Hätte eine sozialrevolutionär wirksame Kraft, Perspektive,
Bewegung den Geschichtsverlauf ändern können?
1987 war das Jahr, in dem sich die Unmöglichkeit herausstellte, den
dortigen Sozialismus ohne Gewalt gegen die Bevölkerung zu deregulieren.
Allerdings wurde im Mai 1987 noch der Einsatz der Bundesarmee gegen die
sozialen Bewegungen diskutiert, ab Dezember wurden mit der
Machtübernahme von Milosevic die Weichen anders gestellt - auf Krieg
zwischen den Teilrepubliken. Vermutlich ist der Machtwechsel schon damals
mit der Übernahme der deutsch-kroatisch-slowenischen
Aufteilungsperspektive durch eine Fraktion der serbischen Parteiführung
verbunden, die den sozialen Krieg in den nationalen überleiten sollte.
Daß der Unregierbarkeit mit einem neuen Ordnungsmodell begegnet werden
sollte, ist offensichtlich. Indikator der historischen Zäsur ist das
Steckenbleiben der IWF-Auflagen und Pläne im offenen Klassenkampf.
Im Frühjahr 87 kommt es in ganz Jugoslawien zu hunderten von Streiks
mit dem Schwerpunkt in Kroatien (NZZ 19.3.87). Die Streikwelle war
Höhepunkt einer jahrelangen Radikalisierung und in diesem Moment
Antwort auf einen Parlamentsbeschluß, die Löhne auf dem Stand des
vierten Quartals von 1986 einzufrieren. Gleichzeitig waren die Preise
für Fleisch, Zucker und andere Grundnahrungsmittel erheblich
erhöht worden. Die Inflationsrate von über 100 Prozent im Jahr
1986 sollte eingedämmt werden, die Lohnerhöhungen unmittelbar an
Produktivitätssteigerungen gebunden und unrentable Betriebe stillgelegt
werden. Das hätte Massenentlassungen bedeutet, um die betrieblichen
Kosten zu senken, das Lohnniveau weiter zu senken, die Arbeitsnormen zu
erhöhen und die sozialen Leistungen einzuschränken. Ziel war es,
einen neuen privaten Sektor aufzubauen, der von einem Armutsreservoir
billigster Arbeitskräfte umgeben sein würde. Ab Mitte des Jahres
sollten Verlustbetriebe konsequent geschlossen werden (FR 8.4.87). Im Juli
heißt es, daß ab September 7000 Betriebe geschlossen werden
sollten, weil diese in den ersten drei Monaten 2,5 Milliarden Mark Verluste
gemacht hätten. Diese Betriebsschließungen würden dann die
Entlassung von 1,6 Millionen Menschen bedeuten (FR, 13.7.87, Spiegel,
27.7.93). Also die offene Kriegserklärung an die Bevölkerung
über alles bisherige hinaus. War hier nicht schon klar, daß der
Antagonismus von ökonomischen Herrschaftszielen und existenziellen
Interessen der Massen in eine gewalttätig blutige Entscheidungsschlacht
münden konnte? Die »große Angst« war jedenfalls schon
damals in den Gesprächen mit JugoslawInnen spürbar.
»Die soziale Abstammung der Streikenden ändert sich zusehends.
Auf den Plan treten jetzt immer öfter Bau-, Metall- und
BergbauarbeiterInnen, die in großen Industriebetrieben
beschäftigt sind. Ihre Streiks dauern nicht nur länger, sondern
sie verbreiten auch eine klassenkämpferische Atmosphäre. Dazu
kommt, daß von 6 Millionen ArbeiterInnen in Jugoslawien täglich
über 700.000 unentschuldigt nicht zur Arbeit erscheinen. Das sind mehr
als 10 Prozent. Weitere 400,000 verbringen täglich mit Sitzungen
außerhalb des Hauses oder der Produktionsstätte ihren
Arbeitstag« (Stuttgarter Zeitung, 23.5.87).
Als Ergebnis der Streikwelle im März muß das Parlament die
Beschlüsse wieder revidieren. Der Lohnstop wird wieder aufgehoben bzw.
nach Branchen differenziert, die Preiserhöhungen müssen wieder
zurückgenommen werden. In der internationalen Presse werden die
Zugeständnisse als Teil einer Unregierbarkeit gehandelt (FAZ, SZ
23.3.87; NZZ 26.3.87).
In dieser Situation wird der Einsatz von Militär gegen die
verschiedenen Bewegungen diskutiert. Die Konfrontation wird in den
offiziellen Verlautbarungen als eine zwischen Regime und Staatsfeinden der
verschiedensten Couleur begriffen, gegen die eine Militärdiktatur
helfen könne. Aber der Einsatz der Bundesarmee als Ordnungsmacht
scheint, obwohl überall sonst im Westen wie im Osten üblich, nicht
der gangbare Weg zu sein. Der Spiegel offenbart die andere Option,
wohlgemerkt im März 1987: »Wäre es nicht vernünftiger,
Jugoslawien in eine Konföderation, in einen Staatenbund,
umzuwandeln?« Mikulic, jugoslawischer Ministerpräsident:
»Nein, das glaube ich nicht. Ich bin dafür, daß man gegen
die partiellen egoistischen Interessen kämpft. Aber so, wie wir
gemeinsam in die mißliche Lage gekommen sind, müssen wir auch
gemeinsam nach einem Ausweg suchen« (Der Spiegel, Nr. 13, 23. 3.87,
S.149).
Die Schwäche des Zentralismus und der Bundesarmee gegenüber den
sozialen Kämpfen in den Republiken hat jedenfalls nichts mit
Zimperlichkeit und Humanität zu tun, sondern mit der dezentralen
Struktur der Streiks und dem Gefälle der regionalen ökonomischen
Machtstrukturen, die keine übergreifend-gemeinsame
Sanierungsperspektive besaßen. Ein zentralistischer
Militäreinsatz hätte die wilden Kämpfe und Streiks erst recht
vorangebracht und vereinheitlicht.
Das typische an den von Jahr zu Jahr eskalierenden Streik- und
Protestbewegungen besteht darin, daß es keine formale Organisation
oder Struktur gibt, die diese organisiert. Es sind bis jetzt samt und
sonders wilde Streiks, und sie sind lokal und regional begrenzt. Es gibt
keine landesweite »Solidarnosz« (1980), die eine Koordination
und politische Lenkung ausübt.
Sowohl Arbeiterselbstverwaltung als auch Gewerkschaften sind an sich
dafür zuständig, die Arbeiterforderungen im institutionellen
Verfahren zu klären und zu erfüllen und mit den
Managementanforderungen in Einklang zu bringen. Streiks sind nicht
vorgesehen, da die Arbeiterselbstverwaltung sie offiziell
überflüssig macht. Die Streiks finden oft unter anderem Namen
statt, indem sie als Diskussionsveranstaltungen oder Betriebsversammlungen
zur Klärung von Problemen ablaufen. Andere Formen sind von Militanz
geprägt, es werden spontane Märsche vor die örtliche
Parteiverwaltung organisiert, es kommt zur Erstürmung von
Verwaltungsbüros, Streikbrecher und Geheimpolizisten werden
verprügelt. Über allen Ereignissen liegt eine strenge
Nachrichtensperre bzw. Zensur. So wissen wir bisher nur
Fragmentarisches.
Um die Bewegung in den Griff zu bekommen, wird zum ersten Mal darüber
geredet, daß Streiks legal stattfinden dürfen sollen (FR 8.4.87).
Die ArbeiterInnen fordern ständig, die »wirkliche«
Arbeiterselbstverwaltung, d.h. das Bedürfnis nach (wirklichem)
Kommunismus ist überall vorhanden und wächst in den
Kämpfen.
Im Herbst 1987 gründen die ArbeiterInnen in der bosnischen Stadt
Zenica eine alternative Gewerkschaft und Keimzelle einer neuen KP als
Antwort auf angekündigte Massenentlassungen im Zusammenhang mit dem
Agrokomerzskandal (zu diesem Skandal siehe weiter unten).
April/Mai 1987 kommt es zum ersten Mal in der jugoslawischen Geschichte zu
einem gewerkschaftlich organisierten Streik von 1.200 ArbeiterInnen in einem
Fleischwarenkombinat in Zagreb/in Sljeme (unterschiedliche Angaben in der FR
vom 14.5.87 und in der Stuttgarter Zeitung vom 23.5.87). An jedem Monatsende
streiken die ArbeiterInnen erneut, weil sie mit den Löhnen unzufrieden
sind, da überall Lohnkürzungen stattfinden. Das gesamte Feld wird
völlig unübersichtlich. Ohnehin gibt es nicht nur Unterschiede von
Region zu Region, sondern auch von Betrieb zu Betrieb in derselben Region,
da im Rahmen der Selbstverwaltung jeweils betriebsinterne Abmachungen
über die Höhe der Lohnauszahlung getroffen werden können.
Während dies bisher als Spaltungsmechanismus funktionierte, verwandelt
sich dieser Zustand nunmehr in einen offenen Machtkampf zwischen Klasse und
Bürokratie, in der vor Ort alles in Bewegung ist und keine
institutionelle Festlegung mehr greift, sondern das Reproduktionsniveau
zunehmend im offenen Kampfgeschehen »geregelt« wird. Statt
institutioneller Delegation und komplizierte Vermittlungsmechanismen wird
die kämpferische Subjektivität der Menschen selbst zur
unmittelbaren Entscheidungsgröße. Ganz offen geben die
staatlichen Instanzen zu, daß bestimmte Schritte politisch nicht
durchsetzbar sind. Alles ist blockiert.
Das Jahr 1987 endet mit der Entmachtung des vermittelnden Flügels
innerhalb der serbischen KP und mit der Machtübernahme von Milosevic,
der ab 1988 den Nationalismus zur Durchführung der Konterrevolution
benutzt. Der Weg in den Krieg ist damit vorgezeichnet, weil ein friedliches
Teilungsarrangement zwischen den Republiken keine soziale Neuordnung und
keine Zerstörung der Klasse und ihrer Kämpfe gebracht hätte.
Die regionalen Eliten wären nun erst recht die Gegner im Klassenkampf
geworden und hätten ihre Grenzträgerfunktion ausgespielt. Nur im
Krieg gegen die Bevölkerung konnte der Sozialismus abgeschafft und die
Deregulierung durchgesetzt werden. Bevor Thesen über den Nationalismus
von unten aufgestellt werden, müßten zunächst die nationalen
Spaltungen in den sozialen Kämpfen der Jahre bis 1987 untersucht
werden. Darüber wissen wir nichts, äußer einigen dünnen
Hinweisen, u.a. über nationalistische Fußballrandale Mitte der
Achtziger. Die Entlassungen in den Teilrepubliken werden nationalistisch so
gelenkt worden sein, daß MigrationsarbeiterInnen aus den anderen
Teilrepubliken nach Hause geschickt wurden. Wildcat schreibt über den
großen Streik der Bergarbeiter in Labin/Istrien im April 87:
»Die Bergwerke in Labin hatten in Jugoslawien eine starke symbolische
Bedeutung. 1921 gehörten die Labiner Bergarbeiter zu den Avantgarden
des damaligen Kampfzyklus. Nach dem 2.Weltkrieg wurde das Bergwerk mit
pompöser Geste den Arbeitern `überreicht'; ein Mosaik in der
Ortsmitte trägt die Aufschrift: `Das Bergwerk gehört uns'.
Der Streik 1987 dauerte für die dortigen Verhältnisse völlig
unüblich 33 Tage. Auch die Ziele des Streiks gingen über das
bislang übliche raus: Neben einer hundertprozentigen Lohnerhöhung,
was aber angesichts der hohen Inflationsrate in den 80er Jahren nichts
besonders Spektakuläres war, forderten sie die Ablösung von Teilen
des Managements und der Betriebsgewerkschaftsführung. Die streikenden
Bergarbeiter waren hauptsächlich Bosnier. Die bosnischen Arbeiter
machten üblicherweise die miesen Jobs und waren außerdem von den
traditionellen Verhandlungsmechanismen teilweise ausgeschlossen: zum einen
weil sie aus einer anderen Republik kamen, zum anderen, weil die
Arbeiterselbstverwaltung insgesamt eine Domäne der höher
qualifizierten ArbeiterInnen war. Die bosnischen Bergarbeiter forderten von
der Republikgewerkschaft - also vom kroatischen Staat - Kredite für den
Wohnungsbau zuhause in Bosnien. Außerdem verlangten sie die Bezahlung
der Streiktage, was bis dahin in Jugoslawien nicht üblich war - und
auch nicht so nötig, wenn die Streiks nur zwei Stunden oder einen Tag
dauerten. Eines der beiden Bergwerke wurde Anfang 1988 dichtgemacht, um das
Unruhepotential, d.h. die Bosnier rauszukriegen.«
(Wildcat Nr.61, April/Mai 1993, S.5/6)
Leider gibt es keine exemplarischen Berichte über den Ablauf der
Kämpfe im einzelnen, hier klafft noch eine riesige
Informationslücke. Über eine ganze Reihe von Punkten würden
wir gern mehr wissen, uns fehlen aber die Informationen dazu:
- über den konkreten Verlauf von Selbstorganisation und die
angewandten Kampfformen; im weiteren über die Verweigerung der Arbeit,
die sog. Arbeitsmoral und Arbeitsdisziplin, die den Unternehmen soviel zu
schaffen machte; damit im Zusammenhang die Land-Stadt-Dimension, der
Zusammenhang mit dem Landbesitz und der Großfamilie (50 Prozent der
Arbeiterfamilien haben Landbesitz!)
- über den Verlust der Kontrolle durch die Arbeiterselbstverwaltung
einerseits und die Zugeständnisse an den Druck von unten
andererseits;
- über die Herkunft und Zusammensetzung der ArbeiterInnen (in den
Kämpfen) einerseits und die nationalistisch/rassistische Dimension der
örtlichen Sozialpolitik oder Beschäftigungspolitik
andererseits;
- über die Beteiligung von Frauen, deren Kampfinhalte und
Kampfformen.
Das soziale Gefälle und die Logik der Teilung
In einem Artikel von Jens Reuter, einem Hauptexperten der
Südosteuropaforschung, wird die soziale Durchschnittslage im Jahre 1987
so dargestellt: »...können vier von insgesamt 6,7 Millionen
Haushalten ihre Lebenshaltungskosten nicht mehr aus regulären
Einkünften decken. Sie müssen auf Schwarzarbeit,
Überweisungen aus dem Ausland oder andere Quellen
zurückgreifen.
Nebenerwerbslandwirtschaft oder zumindest verwandtschaftliche Beziehungen
zum Dorf sind nicht selten die einzige Möglichkeit, sich über
Wasser zu halten. 95 Prozent der Jugoslawen gaben bei der Umfrage an, sie
könnten von den regulären Einkünften nicht normal leben und
50 Prozent erklärten, ihr Lebensstanddard sei unter das Existenzminimum
gefallen«. Dies sind Durchschnittswerte für ganz Jugoslawien.
Schärfer wird das Bild, wenn wir die enormen Unterschiede zwischen den
Regionen mit einbeziehen.
Schon 1980 wurde die Reichtums- bzw. Armutskluft in der Wertschöpfung
in folgenden Kennziffern festgehalten:
Reproduktionsfähigkeit je Einwohner:
SFJR (Gesamt Jugoslaw.) 100
Bosnien und Herzegowina 66,5
Montenegro 76,1
Kroatien 130,2
Mazedonien 64,5
Slowenien 222,5
Serbien o.P. 86,9
Kosovo 13,8
Vojvodina 116,2
(Quelle: NIN, 23. 11. 1980, zitiert in: Jens Reuter, Die Albaner in
Jugoslawien, München 1982, S.60)
Deutlich ist ablesbar, daß in Nordjugoslawien der relative Reichtum
sitzt, während in Kosovo trikonentale Zustände herrschen. Reuter
schreibt, daß 1980, also vor den massiven Entlassungswellen, von 1,5
Millionen Einwohnern in Kosovo nur ganze 170.000 in einem
Arbeitsverhältnis standen.
Anzahl der Beschäftigten je 1000 Einwohner 1979
Slowenien 427
Kroatien 298
Serbien 257
Bosnien und Herzegowina 191
Montenegro 205
Kosovo 107
(Quelle: Reuter, Albaner, S.61)
Wie hielten sich die Leute im Süden am Leben? Neben einer
innerjugoslawischen Abwanderung (albanische Konditoren im Norden, vielleicht
Straßenkehrer und Putzfrauen in Belgrad) ernähren sie sich zum
einen und zum wesentlichen Teil noch in der Subsistenzlandwirtschaft.
Daneben gibt es Bergwerke (Zink, Blei), die zwar ökonomisch wichtig
sind, aber kapitalintensiv und nur einem kleinen Teil der Bevölkerung
im Süden ein Auskommen bieten. Wichtiger sind die zahlreichen
Dörfer mit kleinbäuerlicher Landwirtschaft, die noch nach dem
Prinzip der Selbstversorgung funktionieren und nur zum geringeren Teil den
Markt beliefern. Eine Durchkapitalisierung zum Lohnarbeitsverhältnis,
eine Verstaatlichung der Landwirtschaft, hat in weiten Teilen nicht
stattgefunden. Die Subsistenzlandwirtschaft ist vielfach
Rückzugsmöglichkeit, sei es gegenüber der Lohnarbeit
generell, sei es als Ressource zur Selbstversorgung in Zeiten von Not,
Arbeitslosigkeit usw. Angewiesensein auf
»Nebenerwerbslandwirtschaft« wurde dieser Sachverhalt im Zitat
oben genannt. Anders als in der ehemaligen Sowjetunion, wo die Subsistenz
auf den staatlichen Kolchosen und Sowchosen weiterlebte, ist der Boden in
Jugoslawien privat, weil sich die Bauern gegen eine Verstaatlichung nach
ihrer Teilnahme am Befreiungskrieg erfolgreich gewehrt hatten; d.h. sie
waren stark genug, sich gegen ein stalinistisches Konzept durchzusetzen, das
zunächst vorgesehen war. »82 Prozent des Bodens werden immer noch
privat bewirtschaftet. Jugoslawien hat die niedrigste Wachstumsrate der
Agrarproduktion in der Welt (...) am Umfang des privaten Landbesitzes hat
sich seit 1953 nichts geändert. Als Höchstgrenze für den
privaten Besitz gilt immer noch 10 Hektar. Nach Meinung von Drbic (..) habe
die Obergrenze von 10 Hektar früher einen Sinn gehabt als eine Familie
auf einer solchen Bodenfläche ausreichend Arbeit finden konnte. Heute
aber sei dieses Maß angesichts der Technisierung der Landwirtschaft
nicht mehr tragbar (...)«.
Die Bemessung der erlaubten Landgröße war Ergebnis der sozialen
Revolution im zweiten Weltkrieg. Pachtverhältnisse und mit ihr die
Schuldknechtschaft der Bauern waren revolutionär beseitigt worden.
Keine Verstaatlichung, sondern freie Kleinbauern, die auch nicht
akkumulieren und zu Kapitalisten werden sollten. Das ist also bis heute so
geblieben, aber wie die Experten feststellen, sind die Flächen heute
zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Die meisten BäuerInnen, die
in die Städte abwanderten, um dort zu arbeiten, haben ihr Land
behalten, so daß vor dem Krieg 50% der Bevölkerung Landeigentum
hatten, obwohl nur noch 20% dort lebten.
Die Dörfer und die Landverteilungsproblematik stellten immer einen
wichtigen Punkt in der politschen Debatte und in der Sichtweise der
jugoslawischen Unterklassen dar. Beispielhaft kann das am Landkauf der
Albaner im Kosovo belegt werden. Im Zuge der Abwanderung der SerbInnen aus
sozialen Gründen wurde dies später dem Überhandnehmen
albanischer Landkäufe zugeschrieben und als ethnischer Streit in der
Presse angeheizt.
Der Krieg ist auch ein Mittel, die soziale Struktur auf dem Lande - und
natürlich nicht nur dort - neu zu ordnen. So oder so mußte es zu
einer kapitalistischen Bodenreform kommen, die als friedliche politsch nicht
durchsetzbar war. Einmal, weil die Flächen ohnehin zu klein geworden
waren, um auf dem Markt mit den Produkten genug Bares für eine
»Technisierung« größeren Stils zu erwirtschaften.
Aber mehr noch als »soziale Säuberung«: Es ging darum, die
traditionale Stellung der Großfamilien, die Strukturen von Subsistenz
auf dem Dorf und in den Kleinstädten wegzusäubern. Es geht darum,
diejenigen Strukturen zu zerstören, in denen Widerstandswerte sich
erhalten hatten, die auf traditionellen Gepflogenheiten beruhten. Diese
waren in Bosnien und insgesamt im Süden stärker ausgeprägt
als im Norden.
Die Rückzugsmöglichkeit in die Selbstversorgung steht der
Verwertung der Bevölkerung entgegen, weil es mit Boden im Hintergrund
Existenzmöglichkeiten für die zahlreichen Familienangehörigen
gibt, die gegen Vertreibungsdruck und entfremdete Arbeit Widerstand
ermöglichen. Bevölkerungsökonomisch also
Überbevölkerung, die »über« ist, weil sie
gesellschaftlich nichts oder nicht viel einbringt, womöglich sogar mehr
kostet als hereinkommt.
»Zwar nehmen es auch die Serben nach guter balkanischer Art mit den
Anordnungen der Behörden nicht allzu genau, bei den Albanern ist aber
das Mißtrauen gegenüber der Obrigkeit und die Mißachtung
ihrer Gesetze noch ausgeprägter. Im Laufe ihrer Geschichte waren sie ja
auch nur in kurzen Phasen mit einer staatlichen Autorität konfrontiert,
die sie als `ihre' ansehen konnten. Die Obrigkeit repräsentierte fast
immer den Okkupator, den Machthaber, dem die Bevölkerung ausgeliefert
war. Insofern haben sich die Albaner angewöhnt, soweit wie möglich
ohne Gesetze auszukommen - gleichzeitig aber die Konfrontation mit dem
Gesetzgeber zu vermeiden.
So fahren viele Autofahrer im Kosovo ohne Führerschein, viele Leute
zahlen keine Mieten und keine Steuern. Zwar verhalten sich auch viele
serbische Bürger nicht wesentlich anders«.
Über die innere und äußere Migration war ein
undurchdringliches Netz von Reproduktion entstanden, das sowohl im Sinne der
Verwertung auffangfähig war und niedrige Löhne zuließ,
andererseits aber zunehmend militante Sozialbewegungen fundierte.
Letztlich sind die Subsistenz und die »vormodernen«
Verhaltensweisen Kostenfaktoren und reichen als Produktivitäts- und
Modernisierungsschranke in alle anderen gesellschaftlichen Bereiche hinein -
besonders in das der Arbeiterselbstverwaltung und die sozialistische
Bürokratie vor Ort. Die umverteilten Gelder aus den Entwicklungsfonds,
die aus den Überschüssen des Nordens und aus westlichen Krediten
gespeist wurden, wurden unprofitabel verwendet. Diese Blockierung gegen den
Profit war dabei, sich antagonistisch zuzuspitzen.
»Das System der Selbstverwaltung bewirkt damit neben der Steigerung
des persönlichen Verbrauchs der Bevölkerung außerdem eine
Zunahme des öffentlichen Verbrauchs. In den Gemeinden und Republiken
wurde die Praxis immer durchschlagender, aufgrund unökonomischer
Kriterien der Wirtschaft Mittel zu entziehen und diese für eine
Vielzahl von unkoordnierten Entwicklungsprogrammen zu verwenden«. Bis
zum Krieg hatten die Arbeiterbauern und BauernarbeiterInnen (das
patriarchale Verhältnis wäre noch zu untersuchen), aber auch die
in die Stadt gewanderten, eine starke Stellung, gewachsen aus Kombination
von Traditionalität des Dorfes, Selbstverwaltungssozialismus und
europäischer Migration (und dies wiederum kombiniert mit der
internationalen Stellung Jugoslawiens zwischen den Blöcken, die die
Weltmarktintegration und kapitalistische Kreditierung beförderte).
Genau diese starke Stellung gegen die Verwertung im Lohnverhältnis
wird von den Sozialtechnokraten als Überbevölkerung und als
Entwicklungshemmnis wahrgenommen, theoretisiert und in einem Konzept
ethnisierender Spaltung gewalttätig-völkermörderisch
zerschlagen. Wie auch das Vorgehen der Nazis im zweiten Weltkrieg als
ethnisch (= rassisch) fundierte »Entwicklungspolitik« im Osten
konzipiert war, ist der Krieg Belgrads nicht ein banaler um Territorien,
sondern zielt auf die Zerschlagung von Widerstand und sozialen
Blockierungen. Die Cetniks werden von ausgebildeten Geheimdienst- und im
Partisanenkampf geschulten Offizieren zumindest indirekt gelenkt. Die
Vorgehensweise ist systematisch: eine Gruppe Cetniks kommt in ein Dorf,
erschießt ein paar Leute und sagt dem Rest, sie sollen abhauen. Diese
Methode ist weit billiger als die der SS, die LKW`s, Züge und Lager
eingesetzt hat. Das ist in der Vertreibungs- und
Säuberungsökonomie des serbischen Faschismus nicht mehr
nötig. Das ist grade das moderne an ihr, daß die
Vertreibungsmethode billig und effektiv ist. Eine Eigentumsreform wird sich
anschließen, um aus der nationalen die soziale Neuordnung zu machen.
Die noch in der Subsistenz befindliche Bevölkerung wird
zwangsmobilisiert, entsprechend ihrer Brauchbarkeit selektiert von der
Ghettolagerökonomie bis zur Deportation nach Pakistan.
Diese Art von Vertreibungspolitik ist schon einmal 1937 programmatisch
niedergelegt worden. Vaso Cubrilovic, später Berater des ZK und
Professor in Belgrad, schrieb damals ein Dokument: Die Vertreibung der
Albaner, in dem er ohne Umschweife empfahl: Erregung von Psychose und
Schürung von religiösem Fanatismus, Strafen, Zerstörungen des
Eigentums der Albaner, Brutalität und Pogrome zum Zwecke der
Vertreibung. Und: »Es bleibt noch ein Mittel, das Serbien auf
höchst praktische Weise nach 1878 angewandt hat, wobei es im geheimen
albanische Dörfer und Stadtviertel anzünden ließ.«
Noch 1987 gab es keine offizielle Distanzierung von dieser Schrift.
Spätestens 1986 ist halböffentlich diskutiert worden, wie
gegenüber der Kosovo-Bevölkerung erneut eine planmäßige
»Umsiedlungsaktion« organisiert werden könnte.
Wahrscheinlich sind im Zusammenhang mit der Kosovo-debatte die Blaupausen
für das Vorgehen bei den späteren »ethnischen
Säuberungen« entstanden.
Im Norden ist die Geschichte der Industrialisierung, Verstädterung und
Nationalstaatsentwicklung anders gelaufen. Er war Teil des Habsburgerreiches
und als metropolitane Region mit arbeitsintensiver Industrie als Hauptzweig
ganz anders nach »Europa« eingebunden. Als Zulieferregion
für die deutsche Textilindustrie, als devisenerwirtschaftende
Tourismusregion und als Hauptlieferant für disziplinierte
Migrationsarbeitskräfte waren Kroatien und Slowenien schon lange mit
dem deutschen Kapital innig verbunden. Mercedes und Opel lassen hier
produzieren und haben einige Werke aufgekauft oder als Joint-Venture
eingebunden (das VW-Werk in Sarjewo ist sang- und klanglos geschlossen
worden). Die Tourismuseinnahmen betrugen 1980 eine Mrd. US-$, der Transfer
der Einkommen der MigrationsarbeiterInnen 1977 2,1 Mrd. US-$.
Dementsprechend dürfte es hier, ähnlich wie in Norditalien und
seinem Gefälle nach Süden, eine typische
MassenarbeiterInnen-Kampfsituation gegeben haben, die es zu deregulieren
galt. Schon in der Verfassungsreform von 1974 waren die Rechte der
nördlichen Republiken gestärkt worden, so daß sie ihre
Erfordernisse zur Anpassung an die EG besser erfüllen konnten,
während die zentralen Vermittlungsinstanzen geschwächt wurden.
Aus der grundsätzlichen Problematik eines Nord-Süd-Gefälles
ergab sich ein ständiger Verteilungsstreit zwischen den Republiken. Die
nördlichen Regionen waren unter dem doppelten Druck: Einerseits sollten
sie in den achtziger Jahren weiter Devisen und Kredite für
Entwicklungsprojekte oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Süden
abliefern, die sich zunehmend als Finanzierung einer »unproduktiven
Überbevölkerung« darstellten. Andererseits standen sie unter
dem Druck, die Stärke ihrer eigenen hochgarantierten
ArbeiterInnenklasse arbeitspolitisch zu deregulieren, die gesamte
Arbeitsorganisation zu effektivieren. Das Selbstverwaltungsmodell wird von
den westlichen Beratern und der jugoslawischen Elite als wesentliche
Blockierung einer ökonomischen Gesundung, als Ursache einer niedrigen
und ständig absinkenden Arbeitsproduktivität betrachtet (Berichte
aus dem Inneren der Fabriken usw. fehlen völlig). Die Umstrukturierung
von Arbeits- und Arbeitsmarktpolitik stellte sich aber rechtlich noch
komplizierter als in der SU dar, da nicht der Staat der Eigentümer ist
und Eigentumsrechte »vermarkten« kann, sondern die ArbeiterInnen
selbst das gesellschaftliches Eigentum hatten.
Die Logik der Aufteilung folgt somit streng den üblichen
Verwertungskriterien. Das nationalistische daran ist die jeweilige Benutzung
der kulturellen/institutionellen Rahmenbedingungen, in denen sich der
Antagonismus abspielt. Die Abtrennung der besonderen sozialen Blockierungen
des Südens ist das Konzept des Nordens und auch der BRD gewesen -
belegbar seit 1987 (Spiegel, März 87).
Blockierung des jugoslawischen ökonomischen Systems und das
nationalistische »Umdrehen« der Kämpfe
Das sogenannte »Umdrehen« der Kämpfe und sozialen
Ansprüche hat mehrere Aspekte. Einer davon ist, wie sich die nationalen
Eliten zu den sozialen Kämpfen verhalten haben. Dabei stellt sich
heraus, daß die Kämpfe mittels inflationärer
Geldschöpfung teilweise befriedet und damit gleichzeitig
nationalistisch »perspektiviert« werden konnten. Es geht um die
unabhängige »graue« Geldschöpfung in den Republiken,
die den Mischpunkt zwischen Ökonomie, Aufruhr und sozialistischer
Staatsstruktur in den Republiken ausmachte.
In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur über Jugoslawien wurden
in den 80er Jahren die niedrige Arbeitsproduktivität und die
ständig steigenden Inflationsraten als Kernursachen der jugoslawischen
Krise analysiert2.
Liliana Djekovic schreibt 1982, daß die Arbeitsproduktivität
dreimal niedriger als in den meisten hoch- oder mittelentwickelten
Ländern sei3. In der Bundesrepublik sei sie um 73%4 höher. An
dieser Situation habe sich trotz der IWF-Auflagen in den 80er Jahren nichts
geändert - im Gegenteil. Die Arbeitsproduktivität sei weiter
gefallen. Vor allem fiel auf, daß die Arbeitslosenzahl nicht so stark
gestiegen sei, wie es bei einer Umwandlung zum Markt und dem üblichen
Modell einer Schocktherapie hätte sein müssen. Obwohl ein hoher
Prozentsatz (um die 15% im Landesdurchschnitt) arbeitslos war, reichte das
für eine Zerstörung der sozialistischen Struktur und Umwandlung
der Wirtschaft nicht aus. »Aus der Tatsache, daß die
Arbeitslosenquote zwischen 1985 und 1988 in Jugoslawien bei wachsender
Bevölkerung sowie stagnierendem Sozialprodukt stabil bleibt, kann auf
ein deutliches Absinken der ohnehin niedrigen Arbeitsproduktivität
geschlossen werden. Die Arbeitsproduktivität fällt in Jugoslawien
seit 1960 permanent ab, bei bis Mitte der Achtziger Jahre steigender
Arbeitslosigkeit«5. Zwar wurde das Lohn- und Lebensniveaus massiv
gesenkt, um die »Strukturanpassung« und eine neues Kommando
über die ArbeiterInnen zu erzwingen, aber das Mittel waren im
wesentlichen steigende Preise für Benzin, Strom und Nahrungsmittel.
Massenentlassungen waren auf Grund des politischen Systems nicht
möglich.
Für die westlichen Gutachter ist die
»Überbeschäftigung« Quelle des Übels: viel zu
viele Leute werden beschäftigt und verursachen Kosten. »Die
Gewohnheit, als Gesellschaft mehr als das realisierte Sozialprodukt zu
verbrauchen und als einzelner mehr, als verdient wurde, auszugeben, war tief
verwurzelt«6.
Der hohe Beschäftigungsgrad trotz Krise ist zwar nur eine unter
verschiedenen Ursachen der mangelnden Produktivität7, ist aber gut
geeignet, um das Verhältnis zwischen Klasse und Apparat zu kennzeichnen
und idealtypisch den Krisenzusammenhang herauszuarbeiten.
Der ökonomische Mechanismus, über den sich trotz des Angriffs des
westlichen Finanzkapitals ein Sinken der Produktivitätskennziffern
ergab, war in Jugoslawien folgender: Ein Betrieb macht Verluste, weswegen
auch immer (von schlechtem Management über nicht weltmarktgerechte
Waren bis zum Widerstand der ArbeiterInnen). Das zieht sich eine Weile hin,
und es werden Versuche gemacht, über Kreditaufnahmen zu modernisieren.
Es gelingt nicht, den Absatz zu steigern oder die Kosten zu senken. Nach
marktwirtschaftlichen Gesetzen müßte der Betrieb Konkurs
anmelden. Stattdessen kann er sich dank der Verbindungen zu Banken und
politischer Verwaltung weiter verschulden. Dies passiert in Jugoslawien
landesweit in tausenden von Betrieben.
Der Druck der ArbeiterInnen, deren Reallohn zwischen 1980 und 1986 um 40 %
(!) zurückgegangen ist (lt. NZZ v. 27.3.86), ist durch die
Arbeiterselbstverwaltung nicht zu kontrollieren, im Gegenteil, diese wird
zum Instrument der Übertragung der Nöte der Klasse auf den
Apparat. Das integrative und gegen die Klassenkämpfe gerichtete
Verhalten der Arbeiterselbstverwaltung bedeutet aber auf der anderen Seite,
daß sie an der Erhaltung der örtlichen Arbeitsplätze usw.
mitarbeitet und alles tut, um den »Standort« zu erhalten.
Über die Arbeiterselbstverwaltung, die sich aus den höheren
Schichten der Klasse und vor allem aus dem Management rekrutiert, wird die
ArbeiterInnenstärke auf den ökonomischen Bereich übertragen,
ohne daß eine Zentralbank dem entgegenwirken kann8.
Die Banken der Republiken sind politisch unabhängig von Belgrad und
schöpfen als Folge der Kreditierung der Betriebe selbst weiter und
schneller Geld und produzieren damit Inflation. Hellsichtig arbeitet Bruno
Schönfelder diesen Sachverhalt in einem Artikel in den Comparative
Economic Studies heraus: »Dem Absinken der Realeinkommen folgte ein
Absinken des privaten Verbrauchs, aber ein längst nicht so dramatisches
(...). Dafür gibt es zwei Hauptgründe. Erstens hörten die
Haushalte auf, einen Teil ihres persönlichen Einkommens als
Sparguthaben bei den jugoslawischen Banken zu deponieren. Nach 1980 sank
deren realer Wert. (...) Zweitens deshalb weil trotz Reallohnsenkung von
über 30 Prozent die Beschäftigung gleichzeitig um 20 Prozent
zunahm. Die Gemeinden mit großer Arbeitslosigkeit übten Druck auf
die Unternehmen aus, zusätzliche Leute einzustellen, auch wenn die
Betriebe bereits überbeschäftigt waren und auch wenn das zur Folge
hatte, daß die Löhne unter die Armutsgrenze fielen.
Schätzungsweise wurden mindestens 1,7 Millionen Beschäftigte von
den insgesamt 7 Millionen Beschäftigten im sozialistischen Sektor nicht
gebraucht und hätten entlassen werden können ohne Senkung der
Produktion«. So analysiert ein westlich-kapitalistischer Ökonom9.
Außerdem: »Nach 1983 bekamen die halblegalen und illegalen
Formen von Bankkrediten an sozialistische Unternehmen eine wachsende
Bedeutung (...). Im eigentlichen Stabilisierungsprogramm war vorgesehen,
daß die Überfluß-Arbeitskraft (surplus labor) eine
Beschäftigung im sich entwickelnden privaten Sektor finden sollte.
Tatsächlich passierte wenig. Die Kommunen hatten es in der Hand,
inwieweit sich das private Gewerbe entwickelte. Leider haben die
örtliche Parteifunktionäre dies meist behindert(...)«10.
Gabriele Herbert weist auf das alte Zadruga-Element hin: »Es gibt eine
Art 'Familienkorruption`, was sich in der Beschäftigungspolitik der
Betriebe äußerst problematisch auswirkt. Betriebe verhalten sich
häufig wie die alten Familienstrukturen - die serbischen
'Zadrugas.«11
In der politisch-rechtlichen Strukturierung des Arbeitsmarktes steckt die
traditionell-vormoderne Familienmacht (im Süden hauptsächlich)
über den Alltag und die moderne Klassenmacht der MassenarbeiterInnen
(im Norden hauptsächlich) gleichermaßen. Der Anspruch der
älteren auf einen festen Arbeitsplatz ist überhaupt diejenige
Legitimationsgrundlage des Systems, die nur um den Preis der völligen
Selbstaufgabe und des damit einhergehenden Kontrollverlustes öffentlich
aufgegeben werden könnte. Genau das verlangt der IWF aber gerade,
nämlich die Selbstabdankung der bürokratischen Klasse, die
öffentliche Verkündung der Abschaffung des Vorrangs des
gesellschaftlichen Eigentums und damit die Aufkündigung des sozialen
Konsenses innerhalb der Gesellschaft. Die Bürokratie sitzt zwischen den
Stühlen. Das Management will natürlich zu neuen »produktiven
Ufern« aufbrechen. Aber wo soll der Anfang gemacht werden? Wo soll der
gräßliche Einschnitt ins politische System beginnen, der eine
soziale Katastrophe riesigen Ausmaßes mit sich bringen würde?
Über die politische Ebene mit Wahlen, über die Ebene der
Betriebsschließungen, über den Bankenzusammenbruch?
Spätestens 1987 wird die Krise in der Weltpresse offen als
Unregierbarkeit verhandelt. Jährlich wächst die Binnenverschuldung
um 2 bis 3 Mrd. Dollar. Nicht zufällig erscheint 1987 in Zagreb und
nicht in Belgrad eine Studie, die die »fundamentalen Defekte im Bank-
und Finanzwesen« beschreibt. Die Neue Zürcher Zeitung bemerkt in
diesem Zusammenhang: »Wie gering die Bereitschaft weiterhin ist, auf
Marktmechanismen zu bauen, zeigt sich bei den Lohnregeln für
Verlustbetriebe: Hier kam es kürzlich zur Anpassung der geltenden
Lohngrenzen nach oben. Ziel ist es, die Abwanderung der qualifiziertesten
Arbeitskräfte zu verhindern.
Sie liefen den Verlustbetrieben in letzter Zeit verstärkt davon;
dadurch habe sich die Lage dieser Unternehmen 'noch weiter' verschlechtert,
heißt es. Von mehr Markt ist im Arbeitsrecht jedenfalls nichts zu
spüren.«12 In einem Verlustbetrieb die Löhne zu
erhöhen, statt zu senken, geht ja nun wirklich nicht. International
wird dies als Begleitumstand der Arbeiterselbstverwaltung gesehen. Indem sie
Ökonomie und Politik verklammert, bewirkt sie eine unmittelbare
Übersetzung des Sozialen in die Krise der Finanzen. Das Regelwerk der
Vermittlung, die Verhandlungswirtschaft mit weitreichenden dezentralen
Befugnissen, ist als Folge weiterer Modernisierungsschritte völlig
undurchsichtig geworden. Eine Menge neuer Vorschriften soll die
Profitkriterien stärken und dennoch den offenen Bruch vermeiden.
Aber bis 1987 sind die Banken in der Lage, ihre Bilanzen so zu gestalten,
daß der Verlust nicht als Riesencrash und totaler Zusammenbruch des
gesamten staatlichen Bankwesens zu Tage tritt. Über die staatlichen
Banken wird unbeschränkt Geld künstlich geschaffen. Die Geldmenge
wird nach Maßgabe des politischen Kräfteverhältnisses mit
der kämpfenden Klasse schrankenlos ausgeweitet, daß jedem
Kapitalisten die Haare zu Berge stehen.
In den Banken akkumulierte sich das Krisenkapital, d.h. den ausgegebenen
Krediten steht kein realer Gegenwert gegenüber, die Bilanzwerte sind
fiktiv. Äußeres Merkmal der Entwicklung ist, daß die
Inflation schneller als die Zinsen steigen, ein negativer Realzins bestand.
Vom IWF her bestand die zentrale Forderung, einen positiven Realzins
herzustellen, was bedeutet hätte, den Diskontsatz beispielsweise im
Herbst 1987 auf 130% zu heben (in der BRD liegt er immer unter 10%). Statt
der Banken und damit des politischen Regimes sollten also die Betriebe
pleitemachen, indem sie die Zinsen nicht hätten bezahlen
können.
Exemplarisch für einen durchgezogenen Crash ist der Fall des
Agrokommerzskandals in Bosnien im Jahre 1987. Die Agrokommerz war ein
landesweit renommierter Agrokonzern und gleichzeitiges Entwicklungsprojekt
in Bosnien-Herzegowina. An ihm wurde bilderbuchmäßig der
Zusammenbruch von Bank, regionaler Parteispitze und zig Betrieben
vorexerziert. Der Skandal bestand äußerlich darin, daß das
Unternehmen 8.500 Wechsel in Höhe von über einer Milliarde Dollar
nicht bezahlen konnte, diese also ungedeckt waren. Die Schulden waren
gemacht worden, um Löhne von 13.500 ArbeiterInnen bezahlen zu
können. Insgesamt waren 63 verschiedene Banken verwickelt. Die
Forderung des Unternehmens an die Teilrepublik zur Umschuldung der
kurzfristigen Kredite in langfristige konnte diese nicht erfüllen, so
daß die Belgrader und Zagreber Banken und die Bundesregierung
hätten einspringen müssen. Die waren nicht bereit zu einer
Umschuldung. In der Folge wurden der Generaldirektor und weitere 100 Leute
verhaftet, der Präsident der Nationalbank der Teilrepublik wurde
entlassen, der Vertreter Bosniens im Präsidium des Bundes, der
eigentlich im nächsten Jahr Präsident geworden wäre,
mußte zurücktreten. Der ganze Konzern sollte in Konkurs gehen.13
In diesem Zusammenhang kommt die FR zu einem Ergebnis, das den
übergreifenden finanzoperationellen Kern des Skandals wie der Krise im
allgemeinen freilegt: »...entwickelten sich die Banken an der
Nationalbank vorbei zu Emissionsquellen zusätzlichen Kreditgeldes.
Hierin liegt nach Meinung von Fachleuten eine der Ursachen, daß der
inzwischen über die 100-Prozentmarke gestiegenen Inflation nicht
beizukommen ist.
Die Idee, sich mit billigem Inflationsgeld oder -krediten zu sanieren, lag
auch den faulen Wechselmanipulationen von `Agrokommerz' zugrunde. Fikret
Abdic (Generaldirektor) glaubte offenbar, über seine politischen
Beziehungen die betroffenen Banken dazu bringen zu können, die
ungedeckten Wechselschulden in mittelfristige Kredite umwandeln zu
können. Diese wären dann nach Jahren mit billigem
inflationsentwertetem Geld zurückgezahlt worden (...). Serbische Banken
sollen angeblich bosnische Wechsel nicht mehr annehmen. In Sarajewo wehrt
man sich aber vehement, daß zwischen 'Agrokommerz' und der
Teilrepublik ein Gleichheitszeichen gesetzt wird.« Im
innerjugoslawischen Machtkampf bedeutete der Agrokommerzskandal die
lancierte Ausschaltung eines konkurrierenden Machtzentrums - nicht
zufällig desjenigen von Bosnien, derjenigen Teilrepublik, die als
mulitethnisches »Jugoslawien im Kleinen« auf jeden Fall dem
gegenrevolutionären Projekt der Nationalisierung der sozialen
Konfliktualität am entschiedensten widersprochen hätte und hat.
Strategisch war der Plan der Aufteilung des Gesamtstaates schon in den
Köpfen der Politiker im Norden vorhanden und das bedeutete auch, den
bosnischen Teilstaat perspektivisch zwischen einem vergrößerten
Serbien und einem vergrößerten Kroatien aufzuteilen. Deswegen
durfte hier einmal ein Staatsbankrott auf Teilrepubliksebene durchgezogen
werden.
Die ArbeiterInnen reagieren auf den Crash, indem sie eine neue KP und eine
alternative Gewerkschaft in Zenica gründen und die soziale Absicherung
der von Entlassung bedrohten ArbeiterInnen verlangen.14
Ein bißchen vergleichbar ist die Geschichte mit dem Bankenkrach in
Deutschland von 1931, als statt eines totalen Bankenzusammen-bruchs eine
Großbank als Bauernopfer Konkurs machen mußte.15 Während in
Bosnien ein exemplarischer Crash durchgezogen wurde, war es aber in den
anderen Republiken im Prinzip nicht anders mit der Geldschöpfung.
Überall prallten die Sanierungsvorhaben aus Belgrad in Form von
Preiserhöhungen und Privatisierungsvorschriften auf eine dezentrale
Teilökonomie, die die soziale Disziplinierung über den
Finanzsektor konterkarierte und praktisch von innen her alle
schocktherapeutischen Maßnahmen unterlief. Der Kampf von unten,
hunderte von Streiks wurden in die Absicherung der lokalen Eliten
umgeleitet, statt diese wegzufegen.
Der Nationalismus ist konsequenter Ausdruck davon, weil er das
Zwangsgefäß von Klasse und regionaler Bürokratie auf den
Punkt bringt. Er hat seine materielle Basis in der
Beschäftigungspolitik, sei sie noch so morsch und korrupt, und ist die
klassenübergreifende Projektion der Wirtschaftskrise nach außen -
auf die Belgrader Zentralregierung und den politischen Verteilungskampf
zwischen den Republiken. »Wir sitzen in einem Boot« wäre
kein hohler Spruch, sondern eine Realitätsbeschreibung der
ökonomischen Mechanismen vor Ort. Das Streben nach Unabhängigkeit
der Republiken ist die Verlängerung und nachträgliche
Legalisierung des Finanzverhaltens der regionalen Eliten gewesen. Bei einer
zentralen Revision der Verhältnisse hätten die regionalen Eliten
sowohl in der Logik kapitalistischer Rationalität als auch aus der
Sicht von unten als Wirtschaftskriminelle (wie im Falle Agrokommerz real
passiert) dagestanden. Das zu vermeiden hieß, die nationale
Gemeinschaft als Opfergemeinschaft zusammenzuschmieden und das Bündnis
mit dem reaktionären Uralt-Nationalismus einzugehen.
Dieses Transformationsproblem ist überall in Europa ähnlich und
selbst in Deutschland an den Problemen der Treuhand deutlich. Wer macht
bankrott, wer kann sich retten? Was sollen die Kriterien für
»marode« und »nicht marode« sein? Geht es
überhaupt darum? Es geht doch um die Disziplinierung der Klasse durch
völlige Neuzusammensetzung.
Der Norden glaubte sich dann gerettet, wenn er die Zahlungsverpflichtungen
in den gesamtjugoslawischen Entwicklungsfond los wäre, also nicht mehr
die Sozialpolitik im Süden mitfinanzieren muß (daher mußte
der Crash von Agrokommerz in Bosnien inszeniert werden). Um das
Abschütteln dieser »Last« der sozialen Sicherheit der
Massen im Süden geht es den beiden nördlichen Republiken, bei
ihrem Abkoppeln vom Süden. Denn dies ist die Logik des Zerfalls. Der
Norden wird sich mit Europas Hilfe »sanieren«, während der
Rest seinem Schicksal der »Unproduktivität«
überantwortet wird und den Bach runtergehen kann.
Die materielle Basis der serbischen Strategie liegt neben dem Abfangen der
sozialrevolutionären Zuspitzung in den materiellen Interessen des
zentralen Staatsapparats in Belgrad, der mehrheitlich von SerbInnen besetzt
ist. Der Erhalt des Gesamtstaats gegen eine Wegrationalisierung und
Schrumpfung ist das materielle Anliegen einer ganzen Schicht.
Eine Reihe anderer »struktureller Fehlentwicklungen« bezieht
sich auf die Art der industriellen Investitionsentscheidungen 16, deren
Hauptstreitpunkt die regionale Verteilungsfrage darstellt. Die
Herrschaftskrise ist 1987 voll entfaltet. Die sozialen Kämpfe erzwingen
ein Hin und Her zwischen immer neuen Lohn- und Preisregularien und
nötigen die regionalen herrschenden Klassen zur Flucht in die weitere
Inflation einerseits und in die nationalistische Kriegspropaganda
andererseits, die ebenfalls eine Flucht aus dem unkontrollierbar gewordenen
sozialen Antagonimus darstellt. Der Nationalismus ist der einzig verbliebene
soziale Kitt zwischen unten und oben in den Teilrepubliken.
Insgesamt scheint es so gewesen zu sein, daß zum einen durch den
Lokalismus und die regionale Begrenztheit, zum anderen wegen des Fehlens
einer sozialrevolutionären Organisation die sozialen Kampfinhalte in
eine nationalistische Polarisierung übersetzt werden konnten.
Geheimpolizei und die vorhandenen Organisationsstrukturen der traditionellen
Organisationen konnten sich auf die Kämpfe setzen, indem sie ihnen eine
Sprache verliehen, die der Gegensätze zwischen den Republiken und des
Gegensatzes zur Zentrale.
Neuzusammensetzung von Subjektivität durch die Sozialtechnik
der Ethnisierung
Von Neuzusammensetzung der Subjektivität der Massen könnte
versuchsweise deshalb gesprochen werden, weil es um die Art der
Zusammensetzung schon vorhandener fundamentaler Bilder und Werte geht. Die
Konstrukteure der Bilder vom »Nationalen« lösen die Bilder
und Kampfwerte aus ihrem Entstehungszusammenhang und betreiben eine
Schablonisierung für den aktuellen Verteilungskampf, der die Fronten
spalterisch bewußt falsch setzt. Die verbrauchten Werte des
Sozialismus und die Selbstentlarvung der Bürokratie durch
offensichtliche Verteilungsungerechtigkeiten und die Repression waren
Voraussetzung. Die Sprache des Sozialismus hatte abgewirtschaftet und, eine
revolutionäre Linke, die mit anderer Sprache und
politisch-ästhetischen Interventionen über die »neuen
sozialen Bewegungen« hinausging, gab es anscheinend nicht.
Im folgenden einige kurze Bemerkungen zur Steuerung der nationalen
Empfindungen. Es sind wirklich nur Randbemerkungen, weil die
Organisationsgeschichte der nationalen Gruppen, die Innenansicht der
jeweilgen Bürokratie in der Republiken, die Untersuchung von typischen
Fernseh- und Pressekampagnen hier nicht geleistet werden kann. Wir wissen,
daß erst der superbrutale TV-Einsatz in Kombination mit gelenkten
Massakern die Voraussetzung geschaffen hat, wesentliche Teile der
Bevölkerung ideologisch zu verhetzen. Die Säuberung der Medien von
kritischen Jounalisten ging parallel zur Entwicklung seit 1987/88.
Durch den übergreifenden imaginären Fluchtpunkt, den sozialen
Flächenbrand und den sozialrevolutionären Krieg der Massen gegen
die Bürokratie abzuwehren, bewegte sich die Taktik der Herrschenden
notwendig in der Fortschreibung und historisch-nationalistischen Aufladung
des sozialen Konsenses aus der Vorkrisenzeit. Obwohl die ursprüngliche
materielle Basis dieses Bündnisses längst entfallen war, also die
Option einer regionalen Entwicklungspolitik mit der harmonisierenden weil
wohlstandsfördenden Einbindung der Klasse im Rahmen der kommunistischen
Staatsidee, eignete sich der vorhandene ökonomisch-institutionelle
Rahmen zur national-faschistischen Wendung. Sein wesentlicher ideologischer
Inhalt bestand darin, sowohl die Ursachenerklärung für soziale
Misere nach außen zu projizieren als auch die Hoffnungsseite der
sozialen Verbesserung in einem sich radikalisierenden regional-rassistischen
(»nationalen«) Klassenbündnis zu verankern (sozusagen die
Fortschreibung der materiellen Basis des ehemaligen Klassenkonsenses auf
einer defensiven Ebene). Materielle Basis für die Massen war - soweit
bisher zu sehen - das sichtbare Bemühen der örtlichen
Bürokratie, die lokalen Arbeitsplätze gegen den
weltkapitalistischen und zentralistischen Krisenangriff zu erhalten.
Die Verarmungsprozesse wurden doppelzüngig der Zentrale und vor allen
den jeweils anderen Republiken samt ihren feindlichen Völkern
angelastet. Aber das war längst nicht ausreichend. Die Steuerung hin
zum Krieg lief praktisch mittels der Hauptmethoden »Lügen und
Leichen«:
- Propaganda und Lügen in den Medien
- reale Massaker und Leichen, die vorgeführt werden können
- kombiniert damit wurden die sozialen Revolten durch nationale Meetings -
die Milosevic-Geheimdienst-Strategie - gegenbesetzt. Der öffentliche
Raum der Aktionen wurde organisatorisch übernommen mittels eines
schlagkräftigen Bündnissses mit den
nationalistisch-bürgerlichen Parteien bis hin zu Faschisten. Die
Patriarchalität dieser Wendung hat historische Vorläufer.
Zwischen allem besteht eine sich selbst verstärkende Wechselwirkung.
Die Muster sind nun auch aus Deutschland hinlänglich als Rassismus der
Dreiergemeinschaft von Staat, Rechtsradikalen und Mob bekannt.
Lügenpropaganda und rechtsradikaler Nationalismus/Rassismus hängen
bekanntermaßen so dicht zusammen, daß die Leichen und eine
Bürgerkriegskonfrontationslinie auch nicht mehr weit sind. Die
kulturellen, religiösen und regionalistischen Momente in der
Reproduktion der Massen sind als historisch wirksame Elemente natürlich
Grundlagen der sozialen Radikalität gewesen. Der Lokalismus und die
Dezentralität war ebenso Voraussetzung der Kämpfe, die sich aber
zunächst gegen die lokale Herrschaftsschicht wandten .Erst die
weitergehende Politisierung konnte den Nationalismus aufpfropfen, weil eine
sozialrevolutionäre Assoziation der Kämpfe organisatorisch nicht
ging. Den Zusammenhang zwischen sozialen und religiös/kulturellen
Elementen in der balkanischen Widerstandstradition wäre aufzuarbeiten,
um deren Verwendung im Kontext der Kämpfe von unten und ihrer
Vereinnahmung von oben genau zu bestimmen. Hier müssen wir davon
ausgehen, daß Teilelemente dieser Kultur in die nationalistische
Propaganda eingegangen und für sie funktionalisiert worden sind.
Im Buch von Ivo Andric »Die Brücke über die Drina«
wird diese komplexe Erfahrung im Alltag verschiedener Kulturen über
mehrere Jahrhunderte hinweg beschrieben und könnte als Geschichtsbuch
die Verhältnisse verlebendigen. Der Roman spielt in der bosnischen
Stadt Wischegrad, die jetzt durch »Säuberung«
»entmischt« werden soll, nachdem es in den vergangenen
Jahrhunderten zwar immer wieder Metzeleien gab, aber die
»Mischung« sich doch erhielt (Bosnien galt als eine verkleinerte
Ausgabe Jugoslawiens).
In der historischen Entscheidungssituation des Jahres 1987
- Aufbrechen des sozialen Antagonismus,
»Entinstitutionalisierung« des Kampfes um die Reproduktion im
Laufe des Jahres
- Staatsbankrott bzw. Leben am Gängelband der internationalen
Banken
- Absicht des sozialen Frontalangriffs mit einer völligen
Dekonstruktion der Beschäftigung
- Verteilungskampf konkurrierender Machtzentren in den regionalen
Teilökonomien wird sichtbar, daß es aus volkswirtschaftlicher
Optik eine »Überbevölkerung« in Südjugoslawien
gibt, mit der irgendwie verfahren werden wird.
Von uns sollte die »Unregierbarkeit« von 1987 als potentiell
revolutionäre Situation interpretiert werden. Um die damaligen
Möglichkeiten einer sozialrevolutionären Kampagne oder
europaweiten Mobilisierung gegen die heraufziehende Katastrophe zu
untersuchen oder über mögliche Ansätze dazu zu berichten,
fehlt das Material. Was hätte eine revolutionäre Gruppierung
damals erörtert, was hätte ein rechtzeitig geknüpftes Netz
mit einer Gegenkonzeption gegen den Teilungsplan, der das »nationale
Selbstbestimmungsrecht« als Counterideologie entziffert hätte,
erreichen können? Die strategische Vorentscheidung der Herrschenden
muß 1987/88 gefallen sein, die Massen der Teilrepubliken
tatsächlich gegeneinander auszuspielen, indem die Option der Aufteilung
Jugoslawiens von den inneren Zirkeln der Macht längst diskutiert wurde
und es nur um das »wie« ging. Sowohl die Integration der Massen
als auch der Machterhalt der regionalen Staatsbürokratie sollte dann
dem Ziel dienen, denjenigen Übergang zum Markt durchzusetzen, der
bereits als Zugeständis an den IWF seit 1982 versprochen, politisch
aber an den verschiedensten Strukturen vom Widerstand bis zum Machterhalt
gescheitert war.
Ein übergreifendes Manifest gegen den heraufziehenden Bürgerkrieg
hätte gerade in Deutschland gegen die beabsichtigte Teilungspolitik
mobilisieren müssen, allerdings nicht mit dem Ziel des Erhalts der
Staatsbürokratie, sondern dem des Schuldenerlasses, um den Bewegungen
objektiven Spielraum zu ermöglichen. Selbstorganisierte Reproduktion
gegen den Weltmarkt hätte diskutiert werden können als Alternative
zum Massenmord.
Sämtliche Debatten um nationale Selbstbestimmung wären auf die
kapitalistische Sanierungsabsicht zu beziehen gewesen, was im Kontext von
Schuldenkrise und des Diskurses über die Einführung von
Marktwirtschaft und einer Finanzreform leicht gewesen wäre.
Die Frage der kulturellen Unterschiede wäre als Zusammenhang von
historischer Aufarbeitung, des sozialen Gefälles und eines akut
notwendigen Antirassismus gegen die Nationalisten zu thematisieren
gewesen.
1 Über die Entwicklung der sozialen Kämpfe in den 80ern gibt es
zwei Veröffentlichungen: Osteuropaarchiv, Jugoslawien.
Klassenkampf-Krise-Krieg, Berlin 1992.(Osteuropaarchiv, c/o Papiertiger,
Berlin, Cuvrystr.25) und Wildcat Nr.61, April/Mai 1993, Arbeiterklasse und
Nationalismus. Im wesentlichen habe ich mich auf Zeitungsausschnitte
gestützt.
2 Vgl. Werner Gumpel (Hg.), Die jugoslawische Wirtschaft. - Gegenwart und
Zukunft. (Südosteuropa-Gesellschaft e. V.) München 1988.
3 Liliana Djekovic, Jugoslawien zwischen EG und RGW. Im Westen
überschuldet - vom Osten zunehmend exportabhängig, in:
Südosteuropa-Mitteilungen, 1982, H.2, S.3
4 In der EX-DDR war die Produktivität ein Drittel bis die Hälfte
niedriger als in der BRD, und damit wurden die Massenentlassungen in den
Großbetrieben begründet.
5 Liliana Djekovic, Der kurze Atem der Selbstverwaltung. Eine
Volkswirtschaft zwischen Dauerkrise und gescheiterten Reformen, in:
Furkes/Schlarp (Hg.), Jugoslawien. Ein Staat zerfällt, Reinbek 1991
S.134 - 164, hier: S.137.
6 Zitiert in: Hansgeorg Conert, Die »sozialistische
Marktwirtschaft« in der Schuldenkrise, in: Elmar Altvater u.a.(Hg.),
Die Armut der Nationen, Berlin 1987, S.182-192, hier: S.185.
7 Das Kriterium der Arbeitsproduktivität bezieht sich direkt auf die
Ausnutzung der Arbeit der Menschen, daneben ist die Produktivität auf
gesellschaftlicher Ebene z.B. durch die Ausgaben für Soziales
eingeschränkt, wenn die Reproduktion der Bevölkerung auf
gesellschaftlicher Ebene in Relation zu anderen Staatsinvestitionen weniger
einbringt. Die internationalen Austauschbeziehungen sind ihrerseits durch
Mechanismen des Werttransfers in die Metropole geprägt, so daß
die gesellschaftliche Rentabilitätsrechnung sich letztlich an einer
internationalen Profitrate orientieren muß. Sie ist das Resultat aus
der Optimierung sozialer Gewalt mittels technologischem Vorsprung,
Eigentumsrecht als Kommando über (Haus-) Arbeit, militärische
Macht und Stand der medialen Manipulationsmöglichkeiten. Über die
Globalisierung der Finanzmärkte und "offene Grenzen" (GATT) erfolgt die
Anpassung relativ direkt, ohne das der Nationalstaat die Möglichkeit
hätte, sich durch eigene Gestaltung von Wechselkursen und nationaler
Geldschöpfung abzupuffern.
8 Gabriele Herbert, Rationalisierung und Arbeitslosigkeit in der
jugoslawischen Selbstverwaltung, Bremen. Dieselbe, »Die
Arbeiterselbstverwaltung ist nicht Ursache der Krise«, in: Catherine
Samary, Krieg in Jugoslawien, isp-Verlag, Köln 1992; Rudi Supek,
Probleme und Erfahrungen der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung, in:
Althammer, Jugoslawien am Ende der Ära Tito, München 1986,
S.159-185.
9 Bruno Schönfelder, Reflections on Inflationary Dynamics in
Yugoslavia, in: Comparative Economic Studies, Vol. XXXII, No.4, Winter 1990,
S.85-105.
10 Schönfelder, a.a.O. S.100f.
11 Gabriele Herbert, in: Die Arbeiterselbstverwaltung a.a.O. S.107
12 NZZ v. 10.12.87
13 Archiv der Gegenwart vom 8. September 1987 (S.31402), FR v. 10.9.93.
Süddt. Ztg. v. 24.9.87
14 FR v. 27.11.87
15 Vgl. Karl Heinz Roth, Einleitung des Bearbeiters, in:
O.M.G.U.S.(Militärregierung der Vereinigten Staaten für
Deutschland) Ermittlungen gegen die Dresdner Bank, 1946, Nördlingen
1946, den Abschnitt über die Bankenkrise 1931, S. XI -XXXI. Damals
stand genauso der Staatsbankrott an. Die Nazis schoben den Staatsbankrott
über künstliche Finanzierung bis zum Weltkrieg auf, um dann durch
äußeren Raub und neue Ordnung die kapitalistische Rekonstruktion
herbeizuführen.