Jahrzehntelang erfüllte Jugoslawien die Funktion eines Arbeitskräftereservoirs mit kontrollierter Migrations- und Auswanderungspolitik in die industriellen Metropolen Europas. Seine Sonderrolle in der Konkurrenz des Kalten Kriegs ermöglichte den Export der Ware Arbeitskraft. Die gut ausgebildeten JugoslawInnen waren hochwillkommen; 1973 betrug ihre Zahl allein in der BRD 535.000, Mitte der 70er Jahre arbeiteten 55 % aller jugoslawischen Facharbeiter im Ausland und hielten »damit die Wirtschaft anderer Länder in Gang«.1
Das jugoslawische Regime versprach sich 1968 von dem Anwerbeabkommen mit der BRD ähnliche Vorteile wie auch die Türkei: Export der mobilsten und damit konfliktträchtigsten Arbeiterschichten, Lohntransferleistungen der im Ausland lebenden ArbeiterInnen, Rückkehr industriell geschulter und disziplinierter Arbeitskräfte. Und wenn sich auch die Hoffnungen, daß die Geldtransferleistungen der Arbeitsmigrantlnnen der jugoslawischen Wirtschaft einen Investitions- und gar Modernisierungsschub bescheren würden, genausowenig einlösten wie in allen anderen Exportländern für Arbeitskraft, so war die Arbeitsemigration doch ein wichtiger stabilisierender Faktor. Das Regime und die Armee garantierten einen reibungslosen Ablauf einer Rotationsmigration und der Lohntransfer war ein wichtiger Faktor für das Überleben der administrativen und militärischen Organe. Daß diese das jugoslawische Arbeitskraftpotential den westlichen Zentren als fungible Reservearmee des Arbeitsmarkts zur Verfügung stellten, beruhte, ähnlich wie in der Türkei, auf der Spekulation, daß die Migranten als »ökonomisch erneuerte Arbeiter« ein Hebel für die Modernisierung der eigenen Industrie sein könnten.2 In der Tat funktionierte das System der Rotationsmigration mit den jugoslawischen ArbeiterInnen besser als mit den anderen Nationalitäten. Die meisten von ihnen richteten sich auf eine kurze Migrationsphase ein, nur eine Minderheit holte die Familie nach (34 % gegenüber 70% der Griechen, 48% der Spanier, 38% der Türken), eine sehr hohe Zahl von Jugoslawlnnen ließ sich in Wohnheime oder Wohnlager für Migrantlnnen einquartieren.
Die »Energiekrise« von 1973 und das Auslaufen der Anwerbeverträge führten zu einem Auslaufen der Rotationsmigration. Binnen zwei Jahren sank die Zahl der jugoslawischen ArbeiterInnen um 100.000 auf 436.000, sie blieben aber nach den Migrantlnnen aus der Türkei die zweitstärkste Gruppe, die sich durch den Nachzug der Familien stabilisierte. Zwar verließen zwischen 1975 und 1980348.900 jugoslawische Migrantlnnen die BRD und bis 1986 nochmals 208.100, jedoch wurden in den gleichen Zeiträumen 248.000 bzw. 137.600 Einwanderlnnen gezählt, so daß der Wanderungsverlust bis 1987 auf 180.000 Menschen begrenzt blieb. 1987 lebten bei einer Wohnbevölkerung von knapp 600.000 jugoslawischen Frauen, Männern und Kindern mehr als 400.000 länger als 10 Jahre und mehr als 50.000 länger als 20 Jahre in der BRD. Mit den ersten Anzeichen der Umbruchskrise, mit der jugoslawischen Krise und den Kämpfen der Jahre 1987/88 sank die Rückkehrbereitschaft der jugoslawischen Migrantlnnen, und in den folgenden Jahren begannen die mit dem Umbruch in Ost-und Südosteuropa einsetzenden Flüchtlingsbewegungen, die staatlichen Regulationsmechanismen auszuhebeln. Aus Jugoslawien wurden erstmals ganze Familienverbände in die Emigration getrieben. Sie emigrierten in die Staaten, die bereits eine große jugoslawische »Kolonie« aufwiesen: neben der BRD waren dies Österreich (115.000 Jugoslawlnnen in 1987), die Schweiz (88.000 in 1987) und Schweden (38.000 in 1988). Zugleich verlor Jugoslawien mit dem Zusammenbruch der Ordnung des Kalten Kriegs seine herausgehobene Stellung in Südosteuropa; die Regionalisierung des Balkans in Kleinstaaten an der Peripherie des europäischen Wirtschaftsraums entsprach einer Neuordnung der Arbeitsmärkte im Interesse des europäischen Zentrums.
Die Unterbringung der Kriegsflüchtlinge bei FreundInnen, Bekannten und Verwandten und ihre schnelle Integration auf dem Arbeitsmarkt der BRD - sicher größtenteils zu untertariflichen Bedingungen, aber auch in Österreich und der Schweiz zeugt von intakten sozialen Strukturen in den jugoslawischen »Kolonien«. Waren sie in den 70er und 80er Jahren Anlaufpunkt einer informellen Rotationsmigration, so oblag ihnen nun die Hauptlast für das Überleben der Kriegsflüchtlinge, vor allem aus Kroatien und Bosnien, und sie dienten als - Auffangbecken einer unkontrollierten Einwanderung. Die Form der Unterbringung entlastete die staatlichen Sozialfonds und dem Arbeitsmarkt wurden auf billigste Weise gelernte und ungelernte Arbeitskräfte zugeführt. Auch die physischen und psychischen Schäden der Kriegsflüchtlinge werden größtenteils in den Communities aufgefangen. Sicherlich wird es für die meisten Flüchtlinge keine Rückkehr mehr geben; wie sich das auf die sozialen Netze der Communities auswirken wird, ist noch offen. Jedenfalls müssen sich durch die Einquartierungen ganze Straßenzüge und Stadtteile in den Großstädten der BRD, vor allem in den südlichen Bundesstaaten, neu zusammengesetzt haben; nach staatlichen Schätzungen sind in der BRD 65 000 Flüchtlinge nicht registriert und ihr Verbleib ist offen (FR 21.8.92).
Die unkontrollierte Migration an Ende des Kalten Krieges und die Neuordnung des Großraums
Bald nach dem Zusammenbruch der bolschewistischen Regimes sollte sich zeigen, daß das Aufbrechen des Eisernen Vorhangs zu einer Welle von Migrationen führte, welche die Sozialpolitik in den europäischen Zentren vor zunehmende Schwierigkeiten stellte und die Großraumkonzepte der europäischen Gemeinschaft über den Haufen warf. Die deutschen Botschaftsflüchtlinge und Aussiedler waren noch willkommen, die überfüllten Flüchtlingsschiffe von Bari erschienen wie ein Menetekel, aber noch abwendbar durch den »beherzten« Zugriff der italienischen Polizei - die Migration der Roma und Sinti und dann die jugoslawischen Kriegsflüchtlinge aber führten zu einer rassistischen Neuordnung der Migrationspolitik im europäischen Großraum, die heute noch nicht abgeschlossen ist.
Es ist offenkundig und wir haben es unter dem Stichwort von der »Ethnisierung des Sozialen« dargelegt, daß unter den Ursachen der Migration die Bevölkerungspolitik eine entscheidende Rolle spielt. Die Vertreibungs- oder »Säuberungs«politik gegenüber nationalen Minderheiten stellt einen Angriff dar auf undurchdringliche subsistenzielle Strukturen und eine nicht verwertbare Gesellschaftlichkeit. Hinter der »Serbisierung«, der »Bulgarisierung« oder der rumänischen »agroindustriellen Systematisierung« stehen gleichsinnige bevölkerungspolitische Umsiedlungs- und Rationalisierungsprogramme, die zum Teil schon in der Zeit der bolschewistischen Regimes angegangen worden sind. Nach dem Umbruch ist das nationalistische Gewandt dieses Angriffs krasser, der Rassismus offener und die physische Vertreibung überhaupt erst möglich geworden.
Die Politik der »Bulgarisierung« gegenüber den 1,5 Million Menschen der türkischen Minderheit in Bulgarien liegt auf der gleichen Linie. Auch hier war die Akkumulationsfeindlichkeit der Dorfstrukturen der Hintergrund, daß noch vor dem Umbruch 300.000 bulgarische TürkInnen zur Ausreise in die Türkei gezwungen wurden. Jahrzehntelang war die türkische Minderheit zuvor einem Assimilationszwang ausgesetzt gewesen, der seit 1950 - damals flüchteten bereits eine Viertel Million Menschen - mit der ständigen Bedrohung durch Zwangskollektivierung gekoppelt gewesen war. Der Modernisierungsdruck, der stets von offen rassistischer Gewalt begleitet wurde, eskalierte im Mai 1989 zu massiven Auseinandersetzungen, bei denen mindestens 100 Menschen getötet wurden und die in eine Vertreibung der Türklnnen einmündeten. Damit begann ein Neuordnungsprozeß, welcher der bulgarischen Mehrheit Zwangsarbeit in der Landwirtschaft eintrug, weil zehntausende von Arbeitsplätzen frei geworden waren. Nach dem Sturz des Regimes im Herbst 1989 wurde die Bulgarisierungspolitik kurzzeitig ausgesetzt (man fürchtete die türkische Ökonomie des Partisanenwiderstands, die sich schon an den Nazis erprobt hatte: »Sonst haben wir hier eine Situation wie im Kosovo«) und dann in altem Stil wiederaufgenommen. Trotzdem kehrten viele der Vertriebenen aus der Türkei zurück, weil sie anders als in den Subsistenzstrukturen ihrer Heimatorte dort ihre Existenz nicht sichern konnten. Andererseits führte der Umbruchprozeß in Bulgarien dazu, daß bis zum Herbst 1990 150.000 junge, gut ausgebildete Arbeitskräfte das Land in Richtung Westeuropa verließen.3
Neben den Rassismus der sozialen Rationalisierung tritt auf dem Balkan die Verarmung und Entgarantierung der Bevölkerungen nach dem Sturz der sozialistischen Regimes hinzu. Dies betrifft die Albanerlnnen, von denen seit dem Umbruch 350.000 ihr Land in Richtung Italien und Griechenland verlassen haben, die in Griechenland den illegalen Arbeitsmarkt in der Landwirtschaft speisen und dort andauernden polizeilichen Zugriffen ausgesetzt sind. Beide Faktoren, der Rassismus und die Verarmung, potenzieren sich bei den Roma und Sinti, vor allem in Rumänien, aber auch in den anderen Balkanstaaten und der ehemaligen Tschechoslowakei.
In Rumänien leben zwischen 2 und 3,5 Million Roma (die offizielle Statistik spricht von 410.000), die bis 1856 von den rumänischen Großgrundbesitzern als Sklaven gehalten und gehandelt wurden, die während der Zeit des faschistischen Antonescu-Regimes Mordprogrammen ausgesetzt waren und die im Sozialismus als »asoziale« Randgruppe definiert und behandelt wurden. Durch die Industrialisierung der 60er Jahre wurden sie aus ihren traditionellen handwerklichen Berufen gedrängt, durch die »agroindustrielle Systematisierung« wurden ihre Lebenszusammenhänge weiter zerstört. Nach dem Sturz Ceausescus wurden sie aus dem sich verengenden Arbeitsmarkt weiter verdrängt und fanden allenfalls Zugang zu Arbeitsplätzen mit extrem geringem sozialen Status und entsprechend geringem Lohnniveau. Gleichzeitig ruft die faschistische »Vatra Romaneasca«, die sich der stillschweigenden Unterstützung der neuen Machthaber in Bukarest sicher weiß, wieder zum »blutigen Kampf geg'en die Zigeuner« auf; eine Reihe von Pogromen sind in der westlichen Presse erwähnt worden Natürlich gerieten auch die auf 800.000 geschätzten Roma in allen Teilstaaten des ehemaligen Jugoslawien zwischen die Fronten der sozialen Bereinigungen.
In der BRD wurden die Sinti und Roma noch vor dem Krieg zum ersten Angriffspunkt der neuen Flüchtlingspolitik. Der Hamburger Senat berechnete, daß er durch Vertreibung von 1.000 Roma Sozialkosten in Höhe von 65 Millionen DM sparen könnte. Der Kampf um das Bleiberecht der Roma verdichtete sich seit 1990 in Nordrhein-Westfalen, als zunächst 1.400 Roma in ein Romaghetto bei Skopje umgesiedelt werden sollten. Die Landesregierung hatte mit der Regierung von Mazedonien ein entsprechendes Abkommen, Aufnahme gegen Kopfgeld, abgeschlossen. Es gelang den Roma, der geplanten Deportation letztlich aller 5.000 in NRW lebenden staatenlosen Roma einen hinhaltenden Widerstand entgegenzusetzen; in Anbetracht des Kriegs wurde die Duldung ihres Aufenthalts mehrfach verlängert. Was die Deportierten im ehemaligen Jugoslawien erwartet hätte, wird aus dem Bericht eines 20jährigen Mannes deutlich, der nach Kroatien abgeschoben worden war: »Verhaftung gleich nach der Landung in Zagreb, Handschellen für alle 7 Leute einschließlich seiner l7jährigen Schwester und der l3jährigen Tochter einer anderen Romafamihe, Tritte, Spucken, von Schlägen begleitete Verhöre, Zwangsrasur, endlose Beschimpfüngen, kein Essen, nur Wasser. Am vierten Tag gelang dem jungen Mann die Flucht. Von ständigen gewaittätigen Schikanen gegenüber moslemischen Roma in Mazedonien berichtet ein betroffenes Ehepaar, und immer wieder die Klagen über Vergewaltigungen« (FR 2.1.91).
Um die Migration der Roma zu charakterisieren, reicht es aber nicht, auf die Fluchtgründe zu verweisen. So zwingend diese auch sein mögen - stets enthält die Migration auch Momente der Aspiration und den Anspruch auf Zugang zum Reichtum der Metropolen. Gerade die Sinti und Roma sind es, die diesen Anspruch verkörpern, im Festhalten an ihrer Identität, die sich der industriellen Verwertung entgegenstellt - eine »Überschußbevölkerung« par excellence, welche durch ihre Migration die rassistische Differenzierung im europäischen Großraum konterkariert. Ihre Migration, die Fremdheit ihres Lebensanspruchs außerhalb der industriellen Verwertung und die verbreiteten rassistischen Stereotypen, die sich gegen sie richten, erinnern an die ostjüdische Migration in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende, die damals den Antisemitismus hervorrief und mit Auschwitz endete. Sich auf diese Menschen und ihre Migration zu beziehen, bedeutet nicht, nur auf die Fluchtgründe zu verweisen, sondern offensiv zu werden für die Beteiligung aller Migrantlnnen am gesellschaftlichen Reichtum der Metropolen.
Die Politik gegen die Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien
Glacis oder Peripherie, assoziiertes Vorfeld oder zurückgeworfener Lieferant für Billigarbeit? - unter dieser Fragestellung lassen sich auch die Gemetzel im ehemaligen Jugoslawien interpretieren. Von vornherein stand fest, daß das Land als Ganzes nicht integrierbar sein würde, und wohl deshalb preschte die EG unter deutscher Führung vor mit der frühestmöglichen Anerkennung der Teilstaaten. Für Slowenien mit seiner ausgebildeten Infrastruktur war die Sache klar, auch Kroatien mit seinen erholsamen Küsten sollte zum europäischen Glacis gehören, anders als Serbien, Bosnien, Mazedonien oder Albanien, und die erste Probe, welche die assoziationsfahigen Teilstaaten zu bestehen hatten, bestand in der Blockierung der Flüchtlingsströme aus dem südlichen Kriegs- und Krisenchaos. In der Tat erwuchsen aus dem Laboratorium des Kriegs Modelle einer zukünftigen Flüchtlingspolitik: einerseits, in der BRD, das Modell einer sozialkostenfreien Immigration, weil ein großer Teil der Flüchtigen bei Verwandten unterkam und von diesen versorgt wurde, und am anderen Pol die Errichtung territorialer Konzentrationslager in den UN-»Schutzzonen«.
Es entspricht der Natur der Sache, daß ein gravierendes Flüchtlingsproblem aus den assoziationsfähigen Teilstaaten selbst nicht entstand. Slowenien hatte nie ein eigenes Flüchtlingsproblem. Aus Kroatien wurden nach dem Juli 1991 zwar 700.000 Flüchtlinge und Displaced Persons gemeldet, aber die Probleme blieben überschaubar. Von diesen gingen 141.000 nach Serbien, 95.000 nach Bosnien, 45.000 nach Ungarn (aus der Vojvodina vertriebene Ungarlnnen), 20-30.000 nach Slowenien, 15.000 nach Österreich, 5.000 in die BRD, gut 2.000 in die Tschechoslowakei und 1.500 nach Italien, so daß in Kroatien selbst 300.000 Displaced Persons verblieben, die sich in den Hotels an der Küste bequem unterbringen ließen; Engpässe entstanden lediglich in Zagreb mit 100.000 Displaced Persons, aber auch hier entspannte sich die Situation nach dem Waffenstillstand im Januar 92. Viele Flüchtlinge kehrten dann nach Kroatien zurück, andere waren inzwischen in den Communities der BRD, Österreichs und der Schweiz untergekommen, wie oben beschrieben.
Und es entspricht der Natur der Sache, daß es erst die zweite Flüchtlingswelle war, die aus dem nicht integrationsfahigen Bosnien-Herzegowina, die sich zu einem schier unlösbaren Problem entwickelte und die sich mit mehr als 3 Mio. Flüchtlingen schließlich zur ersten Massenvertreibung in Europa nach dem zweiten Weltkrieg ausweitete. Diese zweite Welle begann im April 92; es kamen nicht mehr Landsleute nach Kroatien und Slowenien, sondern als kulturell »minderwertig« deklarierte Bosnier, die im Gegensatz zu den kroatischen Displaced Persons auch nicht mehr in Hotels, sondern in Zeltlagern, Schulen und Turnhallen untergebracht wurden (zunächst in 20 Lagern für je 5.000 Personen, mehr als die Hälfte von ihnen Kinder). In Kroatien schienen im Sommer die Aufnahmekapazitäten mit 600.000 Flüchtlingen, unter ihnen noch 250.000 kroatische Displaced Persons, real erschöpft; Slowenien dagegen bemühte sich, die Flüchtlinge außer Landes zu halten: schon im April, bereits bei 25.000 Flüchtlingen, wurden erschöpfte Aufnahmekapazitäten gemeldet; einen Monat später hatte sich die Zahl verdoppelt und Bosnier ohne Arbeitserlaubnis wurden an der Grenze abgewiesen. Eine zunehmend große Zahl von Flüchtlingen zog es deshalb vor, illegal nach Kroatien und Slowenien einzureisen und auf eine Chance zu hoffen, irgendwie weiter in den Westen zu gelangen.
Nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge erreichte die Grenzen der europäischen Kernländer. Am Salzburger Hauptbahnhof und am Grenzübergang Walserberg wurden sie abgewiesen; wochenlang warteten sie vor dem deutschen Generalkonsulat auf ein Visum. Denn anders als bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens hatte die BRD bei der Anerkennung Bosnien-Herzegowinas die Visumpflicht beibehalten. Aus Kroatien und Slowenien waren zwischenzeitlich 100.000 ImmigrantInnen in die BRD gelangt und bei Angehörigen untergekommen; den Gastfamilien wurde meist ein dürftiges Verpflegungsgeld zugewiesen. Unter österreichischem Druck entschloß sich die BRD im Mai zu einer leichten Kurskorrektur: Bosnierlnnen durften nun, sofern krank oder verwundet, bevorzugt einreisen, ansonsten nur dann, wenn die Aufenthaltskosten durch Verwandte, Bekannte oder Wohlfahrtsverbände gesichert waren; Österreich führte ähnliche bürokratische Schikanen ein.4 Während Italien den Notstand ausrief, als 1320 erschöpfte Bosnier die Grenze erreicht hatten und Flüchtlingsschiffe militärisch aufbrachte und ,zurückschickte, wurde Ungarn zu einem der Hauptaufnahmeländer (60.000 Flüchtlinge, zumeist privat untergebracht).
Parallel zu den Konferenzen nahmen die Fluchtbewegungen zunehmend dramatische Ausmaße an. Ende Juli wurde die Zahl auf 2,5 Million geschätzt, 10.000 Flüchtlinge wurden täglich registriert, die Illegalen nicht gerechnet. In den Medien wurde von dem Eisenbahnzug mit 5000 Flüchtlingen berichtet, der an der kroatisch-slowenischen Grenze aufgehalten wurde, weil Slowenien die Weiterfahrt verbot, solange kein Aufnahmeland benannt werden konnte. Die Menschen drohten vor laufenden Kameras zu verdursten, und in diesem und einem weiteren Fall nahm die BRD sie auf. Aber hinter diesen Medienereignissen verbarg sich, zum Winter hin zunehmend, eine unglaubliche Not. Im Dezember 92 fristeten in Kroatien 1,2 Millionen Flüchtlinge ihr Dasein. Allein in der Region um Split, dem Auffangzentrum an der bosnischen Grenze, konzentrierten sich 60.000 registrierte Flüchtlinge und eine gleichhohe Zahl Illegaler; der Mangel an Unterbringungs- und Heizmöglichkeiten, Mangel an Decken und Kleidung sowie die Unterversorgung bei der Ernährung führten zu dramatischen Notsituationen (FR 24.10. und 30.10.92).
Es gehört zum Refugee-Business, daß die Not sichtbar wird und erhalten bleibt, weil sonst die Zahlungsmoral der Geberländer nachläßt. Kroatien war an einer Verzögerung des Baus von winterfesten Lagern interessiert, nicht nur wegen eventueller Zinsgewinne aus den Hilfsleistungen, sondern auch, um den Migrationsdruck aufrechtzuerhalten, welcher der Garant zukünftiger
Zahlungen sein würde. Zugleich entwickelte sich in Kroatien ein zunehmender, gegen die bosnischen Flüchtlinge gerichteter Rassismus. »Die Flüchtlinge sind eine genau so große Gefahr wie die Serben«, sagte ein kroatischer Staatsangestellter der FR (12.10.92), weil »die zusätzliche Destabilisierung seines fast zu einem Drittel besetzten Landes durch die ökonomischen, politischen und psychologischen Probleme mit den zu großen Teilen sehr fremdartigen Bosniern, die schon unter frühren Verhältnissen nicht sehr angesehen waren« und die als »nicht integrationsfahig« bezeichnet wurden, den Staat belasten könnten. Eine Arbeitserlaubnis erhielten die Bosnierlnnen ohnehin nicht. Es entsprach also der Ökonomie des Flüchtlingswesens, stets nur Teillösungen anzubieten, und so rotierten seit dem Herbst 1992 eine halbe Million Menschen im Grenzgebiet zu Kroatien auf der Suche nach Nahrungsmitteln und Unterkünften zwischen den Kriegsparteien und Ortschaften, waren ständigem Beschuß ausgesetzt und zur Mobilität gezwungen. Ihre Zahl blieb über den Winter konstant; die Stelle derer, die Kroatien aufnahm, nahmen andere ein.
Die »Schutzzonen«
Je länger sich der Krieg in Bosnien hinzieht, desto besser ist es es den kroatischen und serbischen Milizen möglich, die ethnischen Säuberungen auf einem niedrigen Eskalationsniveau fortzuführen. Denn es geht ja nicht nur darum, die Geländegewinne militärisch zu sichern, sondern auch darum, diese Gebiete bevölkerungspolitisch zu restrukturieren. Das bedeutete im ersten Schritt, die moslemische Minderheit zu vertreiben und in Bewegung zu halten - dazu dienten Terror und Beschießungen der Flüchtlingstrecks. Serbische wie kroatische Milizen blockierten wiederholt die Verteilung von Hilfsgütern für rund 700.000 Menschen in Mittelbosnien; zugleich wurden von den serbischen Milizen im Tal der Drina »humanitäre Korridore« geschaffen, um den Flüchtlingen den Weg in die moslemischen Enklaven offenzuhalten (FR 30.1. und 4.2.93). Also Konzentration der Flüchtlinge in den Enklaven, dann Belagerung, Aushungerung, Einnahme der Enklave und weitere Vertreibung...
Es entsprach schließlich der Realität, nämlich der Konzentration der moslemischen Bevölkerung in wenigen Enklaven, daß Frankreich den Gedanken ethnischer Großghettos wieder ins »Spiel« brachte, von denen allerdings niemand wußte, wie sie versorgt und verteidigt werden könnten. Der UN-Sicherheitsrat erklärte im Mai 1993 sechs Städte zu »Save Havens«, ohne daß die UN-Truppen je versuchten, die angegriffenen Städte tatsächlich zu verteidigen. Anfang Juni 1993 wurden dann, und hier setzte sich die französiche Initiative gegen die Einwände von Izetbegovic und der US-Regierung durch, acht bosnische Städte, unter ihnen die kurz vor dem Fall stehende Enklave Gorazde, formell zu UN-Schutzzonen erklärt und gleichzeitig wurde beschlossen, diese mit bis zu 10.000 neuen Blauhelmen zu sichern (es handelt sich um die Städte Bilhac, Gorazde, Maglaj, Mostar, Sarajewo, Srbrenica, Tuzla und Zepa).
Der Vorschlag zur Einrichtung territorialer Ghettos mag zu einem Zeitpunkt, an dem die Milizen ihre Angriffe auf Mostar, Sarajewo und Gorazde intensivieren, realistische humanitäre Aspekte haben, aber eben nur dann, wenn man geneigt ist, seine Vorgeschichte zu ignorieren. Es geht uns natürlich nicht darum, alternativ eine militärische Intervention zu propagieren, wie sie in den USA über längere Zeit favorisiert wurde und wie sie als Laboratorium einer neuen Weltinnenpolitik derzeit in Somalia exerziert wird. Aber in Somalia geht es um Öl, in Bosnien um eine bevölkerungspolitische Neuordnung. Es ist hier nur festzuhalten, daß eine großzügige Flüchtlingspolitik dem millionenfachen Elend in Bosnien besser gerecht geworden wäre als zehntausend Blauhelme. Die EG hat, im Gegensatz zu den USA, den Krieg durch frühzeitige Anerkennung der Teilstaaten eskaliert, sie ließ das Flüchtlingsproblem in Bosnien eskalieren, indem sie die Migration blockierte, und sie war es, die schließlich die »Schutzzonen« im UN-Sicherheitsrat durchsetzte. Denn die EG hat, anders als die USA, an der bevölkerungspolitischen Neuordnung an ihrer Peripherie durchaus Interesse, wenn sie nur nicht mit allzu medienwirksamer Grausamkeit abläuft.
Die territorialen Ghettos erfüllen aktuell die Funktion eines Containments gegen die Opfer der bevölkerungspolitischen Rationalisierung, und sie folgen einem Modell, das den europäischen Zentren seit der Kurdenschutzzone im Irak zur Eindämmung der Süd-Nord-Migration zunehmend attraktiv erscheint. Eine Expertise des Bundesinnenministeriums sprach schon vor zwei Jahren von »verfolgungssicheren Zonen«, die in den Heimatländern zu errichten seien und von denen auf nicht politisch Verfolgte ein Abschreckungseffekt ausgehen müßte (Die Welt, 4.7.91). Aber derartige Ghettos können auch Instrumente einer Produktivierung der aus den subsistenziellen Dorfstrukturen vertriebenen Bevölkerung sein; ein historisches Beispiel sind die PalästinenserInnen, die im arabischen Raum eine beispiellose Produktivität entfalteten, nachdem sie ihre Subsistenzbasen verloren hatten; ein weiteres Beispiel sind die chinesischen Flüchtlingsarbeiterlnnen: Hong Kong ist in der Tat ein erfolgreich industrialisiertes Flüchtlingslager, und es ist nicht undenkbar, daß eine ähnliche Entwicklung auch in Sarajewo stattfinden könnte.
Wenn wieder Bilder von den Massakrierten und von der Grausamkeit des Kriegs über die Bildschirme flimmern, staut sich eine Verzweiflung und Wut an, die uns ZuschauerInnen in einem kurzschlüssigen Reflex nach einer höheren Gewalt Ausschau halten läßt, die dem Gemetzel ein Ende bereiten könnte - sei es ein General Morillon, seien es gar die Bomber der NATO. Es ist nicht einfach, sich von diesem Reflex freizumachen, der in den Medien geschürt wird und der den Großmachtinteressen des neuen Deutschland entgegenkommt. Es ist aber nicht an uns, Partei zu ergreifen an einer der Kriegsfronten und sich an der Ethnisierung des Sozialen zu beteiligen. Der Krieg ist eine Rationalisierungsoffensive gegen die Bevölkerung, aber die sozialen Fronten in ihm sind unübersichtlich und gehen nicht in den ethnischen Fronten auf. Die Frauen und Kinder auf der Flucht und die Männer, die sich durch Flucht und Desertation der Beteiligung an der Gewaltmaschine entziehen, sind die Kriegspartei, auf deren Seite wir uns sehen. Im Kampf um offene Grenzen und gegen die Internierung der Flüchtlinge in Lagern liegt ein Terrain, das mit dem ehemaligen Jugoslawien sehr viel zu tun hat.
1 R.C.Rist: Die ungewisse Zukunft der Gastarbeiter, Stuttgart 1980, 5.17 und 24
2 vgl. F.Heckmann, Die Bundesrepublik: Ein Einwanderungsland?, Stuttgart 1981, S.245
3 vgl. FR 8.3.90, 30.10.90 und TAZ 20.6.89,7.77.89
4 Der Spiegel 22/1992; im Übrigen vgl. vor allem die Kapitel Slowenien und Kroatien im Welfflüchtlingsbericht, Edition Parabolis 1992