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Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 6

Die Ethnisierung des Sozialen

Die Transformation der jugoslawischen Gesellschaft im Medium des Krieges

Teil V - Krieg als Transformationsmechanismus


Verlag der Buchläden Schwarze Risse - Rote Strasse
Berlin Göttingen 1993
Kontakt zur Redaktion: Buchladen Schwarze Risse,
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Jugoslawien im Kontext des ost- und südosteuropäischen Umbruchs
Bemerkungen zur Kampfgeschichte der moralischen Ökonomie
Zur Kampfsituation 1987
Nationalismus und Ethnisierung
Krieg als Transformationsmechanismus
Die EG-Migrationspolitik und die Flüchtlinge aus Südosteuropa
Zur Rolle des Imperialismus in der jugoslawischen Krisen- und Kriegsdynamik
Anhang

Krieg als Transformationsmedium

Die Umbrüche in Ost- und Südosteuropa laufen gewaltförmiger ab als es der Begriff der »friedlichen Revolution« suggeriert. Unter der medialen Oberfläche »ziviler« Massenproteste, legaler Abwahlen und erzwungener Abdankung oder Absetzung von Regimen erweisen sich die Umbrüche real als latente und offene Formen des sozialen Krieges, die sich in sozial- ,finanz- und wirtschaftstechnischen Instrumentarien der Transformationsregime gegen soziale Ansprüche und Erwartungen artikulieren, wie wir es am Beispiel der ehemaligen Sowjetunion aufgezeigt haben (s. Materialien Nr.4). Daß die Transformation aber im strategisch wichtigen Balkanraum die Form eines langanhaltenden offenen Kriegs annimmt, ist eine andere Variante des sozialen Kriegs gegen den osteuropäischen Sozialprozess im Laboratorium des südosteuropäischen Krisenszenarios. Es ist u.a. den spezifischen Eigenheiten des sozialen Antagonismus in Jugoslawien (s. Kap.4) geschuldet, daß in der jugoslawischen Region die Zertrümmerung sozialer Beziehungen und noch rudimentär vorhandener subsistenzwirtschaftlicher Alltagsverhältnisse die »Ethnisierung des Sozialen« als Sozialtechnik in brutalster Form ihre Anwendung fand - initiiert und durchgesetzt im Medium des Kriegs.
Am Beispiel Zentralamerikas haben wir herausgearbeitet, wie in der neuen Doktrin des »low-intensity-warfare« der Krieg gegen die Bevölkerung strategisch als eine verwertbare Zwischenlösung eingesetzt werden kann, solange »der Zustand des Fehlens eines neuen Modells der Kapitalakkumulation anhält (...) - Krieg als augenblicklich rentabelste Form der sozialen Kontrolle über die Region«, der die Ansprüche der Bevölkerung niedrig hält (vgl. Materialien 1 S.22-26). In der Phase des Umbruchs des sozialistischen Akkumulationsregimes hingegen hat der entfesselte Krieg weitaus mehr als soziale Kontrolle zu gewährleisten - er wird zum Motor der Zerstörung und Transformation sozialer Geflechte, der Deindustrialisierung und der Vernichtung »sozialer Überschüsse« bzw. deren Vertreibung und Internierung, und er wird produktiv in dem Sinne, daß er über ethnische Differenzierung und nationale Homogenisierung eine neue Zwangsvergesellschaftung (Kriegswirtschaft, zentralisierte Regulation etc.) gegen die Wucht der sozialen Antagonismen durchsetzt und die Anpassungsleistungen an die Weltmarktrationalität gewaltsam vergesellschaftet - das scheinbar irrationale Chaos des Bürgerkriegs erzeugt flexible ethnisierte Ordnungen in der Zwangsvergesellschaftung des Kriegs. Dabei setzt die globale Ordnung nur den Rahmen, in dem die Subjekte durch ihre autonome Eigenbewegung die »Ordnung« den Umständen entsprechend selbst neu definieren.
Die radikale Absenkung der gesellschaftlichen Reprokuktionskosten ist nicht eine unabänderliche Begleiterscheinung des Krieges, sondern Kriegsziel selbst (vgl. Res Strehle, Dossier Ökonomie des Krieges, im Anhang). Von daher ist der jugoslawische Bürgerkrieg ganz eindeutig ein Krieg gegen die jugoslawischen Frauen (Zersetzung ihrer Reproduktionsmacht). Die gesellschaftlichen Investitionen in die Vernutzung und Ausbeutung der jugoslawischen Frauen, mit denen das jugoslawische Regime die produktive Rationalisierung als ganze zu forcieren hoffte, hatten sich offensichtlich nicht rentiert und werden jetzt im patriarchalen Angriff auf die jugoslawischen Frauen zurückgenommen und von nackter Gewalt gegen sie abgelöst. (Es ist zu vermuten, daß die Frauen die soziale Systematik ihrer Ausbeutung unterlaufen hatten.) Das scheint der funktionale Kern des im Krieg entfesselten Machismo, der systematischen Massenvergewaltigungen und der durchgehenden Repatriarchalisierung des gesellschaftlichen Kommandos zu sein.
Der formale Ablauf des jugoslawischen Krieges kann kurz zusammengetragen werden (vgl. ami 5/93, S.40, auf gegenüberliegender Seite), allerdings ohne großen Erkenntnisgewinn. Auffällig ist die sukzessive Verlagerung der Kriegsregionen vom Norden in den Süden. Mit jedem z.T. in UN-Peacecorps abgesicherten Waffenstillstand wandern die freigesetzten Kriegsmittel und -banden weiter, um neue Gebiete mit kriegerischer Zerstörung zu überziehen - ein feingesteuerter Dominoeffekt. Dabei nimmt der Krieg an Intensität und Brutlität zu, je mehr er sich mit gesellschaftlich verankerten Strukturen wie in Bosnien-Herzegowina konfrontiert, die sich nicht ohne großen Widerstand aufbrechen und ethnisch neuordnen lassen.
Die Akteure des Kriegs sind fast ausschließlich Männer, die kämpfenden Verbände sind extrem unübersichtlich: sie reichen von der ehemals viertgrößten Armee Europas, der jugoslawischen Volksarmee JNA, Territorialarmeen, wildwüchsigen Nationalgarden über parteigebundene Milizen und Freischärler in z.T. historischer Kostümierung und unter Beteiligung von Söldnern bis hin zu diversen Banden und Wochenendmilizen.
Spätestens mit der Unabhängigkeit Sloweniens hat die jugoslawische Volksarmee JNA ihre Hauptfunktion, die einer Klammer der jugoslawischen Republiken, eingebüßt - sie wird zerlegt. Schon in den 80er Jahren, mit dem Ende der Kalten-Kriegs-Subventionen aus dem Osten und dem Westen, war ihr Etat beträchtlich gekürzt worden, aber erst der Krieg machte die JNA zur serbisch-montenegrinischen Rumpfarmee, und die abgespaltenen Einheiten ethnisierten und verselbständigten sich. Dezentral organisiert, war bereits seit 1968 die territoriale Verteidigung - bis hin zur Dezentralisierung der Befehlsgebung (vgl. G. Wagenlehner, Landesverteidigung. in: K.-D. Grothusen, Jugoslawien. - Göttingen 1975, S.193 ff) - eine nationalistische Aufladung v.a. der Offizierscorps erfolgte schon in der Vorkriegszeit. In Serbien findet parallel zur Schrumpfung der JNA ein Ausbau der Polizei zu einer paramilitärischen Truppe statt, deren Größe und Etat den der JNA übersteigt (vgl.TAZ vom 17.8.93, im Anhang dokumentiert).
Gänzlich unübersichtlich ist die Anzahl der Milizen. In Bosnien z.B. formieren sie sich als »Revolutionäre Ustascha Front«, »Kroatische Kreuzritter«, »Revolutionäre Kroatische Bruderschaft«, als »Tschetniks«, »Serbische Tiger«, »Antigermanische Allianz«, »Vaterlandsarmeen« oder als »Bosnisch-muslimanische Widerstandsbewegung«, »Muslimanische Bruderschaft« und »Grüne Barette«. Und bewaffnete Banden reisen nach verschiedenen Berichten an den Wochenenden nach Bosnien, um am Morden, Plündern und Vergewaltigen teilzuhaben. So bizarr sich die Namen ausnehmen - die Banden sind doch keine jugoslawische Besonderheit, sondern ein neues transnationales Phänomen, wie J.F. Bayart es an Beispielen aus Afrika verdeutlicht (s. Anhang).
Die Diversität der Verbände spiegelt auch die Ebene der Kriegsführung wider. Mindestens vier Formen von Kriegsführung können unterschieden werden, die sich hier miteinander verbinden: die fordistische Kriegsführung, der Partisanenkrieg, der War-Lord-Krieg und der low-intensity-warfare. Die Verknüpfung dieser vier Formen des Kriegs, die von Region zu Region mal die eine Form, mal zwei oder drei Formen miteinander vermischt und sich bis zum Vernichtungskrieg verdichtet, hat eine völlig neue Kriegsführung hervorgebracht.
Zum einen gibt es den klassischen Krieg um Eroberung und Kontrolle von Territorien und Status (Unabhängigkeit/Republikzugehörigkeit), am offensichtlichsten in der Annexion von Teilen Kroatiens durch die JNA und in der Besetzung weiter Teile Bosniens durch kroatische und serbische Verbände. In der zermürbenden Belagerung bzw. Zerstörung von Städten ((Vukovar, Mostar, Sarajevo...) werden urbane Strukturen angegriffen, in denen die Produktion ethnischer Zwangsidentitäten auf erhebliche Widerstände stößt - eine Auseinandersetzung, in der womöglich der in der immer noch stark agrarisch geprägten jugoslawischen Gesellschaft virulente Gegensatz Stadt-Land neu reaktiviert wird.
Seinen offenkundigsten Ausdruck findet der Krieg als Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung in den als »ethnischen Säuberungen« bezeichneten Massenvertreibungen, Zwangsumsiedlungen, Internierungen und Pogromen. Zwangsmobilisierung und radikale Entwurzelung sind das Programm, und Massenvergewaltigungen in speziellen Lagern gehören zum System dieses Kriegs.
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Systematische Massenvergewaltigungen
Einiges ist mittlerweile bekannt geworden über die systematischen, massenhaften Vergewaltigungen von Frauen im ehemaligen Jugoslawien. Wenn auch in den hiesigen Medien von interessierter Seite fast ausschließlich über den von serbischen Männern begangenen Krieg gegen die Frauen berichtet wird (die anti-serbische Front reicht von FAZ-Reißmüller über CDU bis zur GfbV, die pro-interventionistischen Stimmen finden sich quer durch die Parteienlandschaft, auch BRD-Frauen-Gruppen sind kriegsparteiisch im nationalen deutschen Konsens gegen Serbien ...), belegen doch zahlreiche Interviews und Berichte von betroffenen Frauen aller Nationalitäten Ex-Jugoslawiens, daß von allen Kriegsparteien die Waffe Vergewaltigung als unmittelbarster und brutalster Akt gegen Frauen vom Beginn des Krieges an eingesetzt wurde.
Innerhalb des gesamten Lager- und Internierungssystems (vermutlich mehr als 120 Lager) gibt es mindestens 20 spezielle Vergewaltigungslager, in die Frauen und junge Mädchen aller Nationalitäten zwangsverschleppt, ausgeplündert, systematisch vergewaltigt, geschwängert und oft auch getötet werden. Ort und Funktion sind weitgehend bekannt, auch UN-Menschenrechtsbeobachtern, die jedoch vorgaben, nichts zur Befreiung der internierten Frauen unternehmen zu können, weil es nicht genug Länder gäbe, die diese aufnehmen würden.
»Die Vergewaltigungen gehören zur Kriegsstrategie, sie sind eine intelligente Waffe, für die man kein Benzin und keine Munition braucht«, sagt Asija Armanda von der Zagreber Frauengruppe »Kareta«. »Die Geschichten über die Vergewaltigungen verbreiten sich, und die Menschen fliehen, und eine vergewaltigte Frau kehrt nie an den Ort ihrer Vergewaltigung zurück.« Dies ist ganz im Sinne der Kriegsstrategen, die »ethnisch reine« Gebiete schaffen wollen.
Der Einsatz von Massenvergewaltigungen für eine Politik der »ethnischen Säuberungen« wird mit Sicherheit am radikalsten und brutalsten im serbisch besetzten Teil Bosnien-Hercegowinas umgesetzt, sowohl in den von serbischen Verbänden eingerichteten Vergewaltigungslagern, aber auch durch Gruppenvergewaltigungen in den Dörfern vor den Augen von Nacharn und Familienangehörigen. Akteure sind Soldaten und Freischärler, Lagerwächter und Söldner, aber auch Nachbarn und ehemalige Freunde. Vergewaltigung wird durch Nichtbestrafung legitimiert und befördert, geschieht zum Teil auf Befehl von oben, und einige verdienen sogar daran. Im Juni '92 erzählte ein Soldat der »Green Berets« (eine der paramilitärischen muslimischen Einheiten im Krieg in Bosnien) im Fersehen: Für jeden Bus, den er gefüllt mit Frauen zu den Soldaten brächte, erhalte er umgerechnet 200 DM. Könne er ihn nicht mit genug serbischen Frauen auffüllen, so genügten auch muslimische und kroatische Frauen. Wichtig sei nur, daß es Frauen sind, daß der Bus voll wäre und er 200 DM erhalte. Dieselbe Summe, erhielt nach einer anderen Zeugenaussage ein Soldat anderer Couleur von seiner Gang dafür, daß er die Kellnerinnen einer Bar dazu brachte, sie nackt zu bedienen. Die Frauen konnten nirgendwohin fliehen, das Maschinengewehr lag auf dem Tisch. Ob die Frauen ehemalige Schulfreundinnen waren oder nicht, jedes Anzeichen von Widerstand wurde mit Anspucken bestraft. Neben dem Aspekt des Terrors und der Vernichtung von Frauen kommt den Vergewaltigungslagern auch eine direkte bevölkerungspolitische Bedeutung zu: zum einen werden die Frauen systematisch geschwängert und erst zu einem Zeitpunkt freigelassen, zu dem eine Abtreibung nicht mehr möglich ist, zum anderen sind es zumeist Mädchen und junge Frauen, die in ihnen festgehalten werden. »Es ist der reproduktivste Teil der (...) Bevölkerung. Sogar wenn sie dort lebend herauskommen, Sie glauben ja wohl nicht, daß sie je normale sexuelle Beziehungen und Kinder haben werden«, sagt eine Zagreber Feministin.
Selbstverständlich wurde und wird in allen Kriegen (und nicht nur dort) vergewaltigt. In Phasen politischen Zerfalls und zunehmender Militarisierung von Gesellschaften sowie generell bei Auflösung traditionell patriarchaler Männerrollen nimmt offene Gewalt gegen Frauen zu, auch außerhalb des unmittelbaren Kriegsgeschehens.
»Die Zahl der Vergewaltigungen an allen Fronten in Bosnien und Kroatien ist gewaltig, aber auch die in allen Städten der zurückkehrenden Krieger in Ex-Jugoslawien. Die `Notrufe für Frauen und Kinder' in Zagreb und Belgrad stellten fest, daß die Zahl der registrierten Vergewaltigungsfälle seit Kriegsbeginn um 100% gestiegen ist. Und in 100% mehr Fällen als zuvor wurden Todesdrohungen ausgestoßen, trugen die Täter Waffen. Die Täter sind meistens Kriegsveteranen, Nachbarn, die mit ihrer Kalaschnikov griffbereit zu Bett gehen. Sobald sich die ewigen Soldaten nicht mehr unter Feinden befinden, machen sie ihre eigene Frau zum Objekt von Vergewaltigung und Verstümmelung. Und dies unabhängig von der Nationalität der Frau, ihres Alters oder des Grades ihrer Begierde.« (L. Mladgenovic, Belgrad in: Schehezerade Nr.4)
Als »Nach-dem-Fernseh-Syndrom« bezeichnen Belgrader Notruf-Frauen Berichte von Frauen, sie würden oft unmittelbar nach der Hauptnachrichtensendung von ihren Ehemännern überfallen. Ähnliche Phänomene wurden von Feministinnen zum Beispiel während des Golfkrieges in Israel, Irak und Kanada (!) beschrieben.
Systematische Vergewaltigungen sind der offensivste und brutalste Ausdruck des patriarchalen Kommandos über Frauen.
Aber sie sind zugleich eine Botschaft von Mann zu Mann. Nicht zufällig war der Beginn der gewaltsamen Auseinandersetzung in Kroatien '91 und im Kosovo begleitet von Fernsehberichten über Vergewaltigungen. Die Vergewaltigung von Frauen wurde propagandistisch gleichgesetzt mit der Vergewaltigung einer Nation, und damit wurde ganz wesentlich das nationalistische Klima aufgeheizt.
Selbst viele ehemals feministische Frauengruppen Ex-Jugoslawiens saßen dieser nationalistischen Propaganda auf.

----------------KASTEN ENDE -------------------------------------
Kennzeichnend für diesen Krieg ist der direkte Krieg gegen die (vor allem weibliche) Zivilbevölkerung. Die Produktion von Chaos, Terror gegen Zivilbevölkerung und allgemeiner Unsicherheit und Unübersichtlichkeit greift tief: der Krieg erzielt seine »zerstörerischste Wirkung darin, die regionalen und lokalen Traditionen zu unterbinden« (Drago Roksandic in: Aufrisse 3/1992 S.9). Es ist ein Krieg nach innen, der seine Destruktion bis in die Subjekte hinein treibt - eine Voraussetzung für neue Zwangsvergesellschaftung.

Krieg und Medien
Ohne die Medien wäre dieser Krieg kaum vorstellbar. Nicht erst seit dem Umsturz in Rumänien und dem Golfkrieg wissen wir, wie effektiv mediale Inszenierungen reales Geschehen vorbereiten, überlagern und legitimieren können - bis hin zur medialen Produktion von »Realitäten«. In Jugoslawien haben das Fernsehen, aber auch Radio und die Zeitungen dem Krieg zunächst den Boden bereitet und dann an vorderster Front zu seiner Brutalisierung beigetragen.
Seit 1991 existierte das JRT (Jugoslawisches Radio und Fernsehen) faktisch nicht mehr. Die schon vorher relativ autonomen Fernsehanstalten der Republiken hatten sich vollständig voneinander abgekoppelt und - mit Ausnahme Bosniens - alle Austauschsendungen eingestellt. Damit war die Voraussetzung für eine nationalistische Aufladung geschaffen, die nun gezielt angegangen wurde: Kritische JournalistInnen wurden entlassen, in Zwangsurlaub geschickt oder in schwarzen Listen als »Verräter« und »Antipatrioten« geführt, und die Informationspolitik wurde faktisch unter Kriegsrecht gestellt. Damit wurden die Medien generell zu »Kriegshetzern« (wie Le Monde eine informative Artikelserie vom 22.7.-24.7.93 treffend überschreibt; vgl. auch den Artikel »Medien im Krieg - Krieg in den Medien » von Vesna Kesic, in: Krieg in Europa, hg. v. Johann Gaisbacher u.a.- Graz 1992). Die Medien wurden so zu einer aktiv strukturierenden Determinante des ganzen Kriegsprozesses: Homogene Volksgruppen wurden sprachlich konstituiert - »die Serben«, »die Kroaten«, »die Bosnier«, und wenn es die Kriegsgegner waren, unter Manipulation des historischen Gedächtnisses kollektiv als »Tschetniks«, »Ustaschas« oder »von Sadam Hussein bewaffnete Fundamentalisten und Mudjahedin« bezeichnet, die schon immer auf »Genozid« aus waren (vgl. Interview im Anhang). Wie in aller Kriegspropaganda ging die Dämonisierung des Gegners einher mit einer kriegerischen Mythologie, in der der Feind »feige«, »schmutzig« und »drogenabhängig« war, während »unsere Soldaten« das Land mit »außergewöhnlichem Mut« »verteidigen«.
Der wirkungsvolle Mechanismus der alltäglichen Kriegspropaganda, dem sich kaum jemand zu entziehen vermag, kann als Konstitution einer national definierten Opfergemeinschaft beschrieben werden: Die Kriegshandlungen zielen auf die eigene Person als Angehörige einer immer schon unterdrückten Ethnie, die nun Opfer eines Komplotts wird. Der Bildschirm bombardiert die Menschen mit grausamen Bildern von historischen wie aktuellen Massakern, deren alleinige Opfer die Ethnie sei; zum Teil sind es sogar die gleichen Bilder, die je nach Republik ethnisch umdefiniert werden. Diese mediale Inszenierung von Massakern kennt weder Täter in den eigenen Reihen, noch Opfer auf Seiten des Gegners; Vertreibungen ethnischer Minderheiten aus der »eigenen« Republik scheint es nicht zu geben - oder sie werden als allein durch gegnerische Propaganda ausgelöste Flucht gedeutet.
Die so erzeugte kollektive Opfermentalität nimmt Formen einer massenhaften »`patriotischen' Hysterie« an (Le Monde v.23.7.93), die die Kriegsmaschinerie mit immer neuem Treibstoff versorgt.
Diese grobe Phänomenologie des Kriegs in Ex-Jugoslawien verweist schon auf die ihm eigene Logik, die Ökonomie des Kriegs.
Der kriegerische Angriff auf die Zivilbevölkerung senkt drastisch deren soziale Ansprüche und somit die gesellschaftlichen Reproduktionskosten insgesamt. Am Durchschnittslohn ist dieser Zusammenhang noch direkt greifbar: vor dem Krieg lag er bei ca. 1.000 DM, heute bei 50 DM. Das gewaltsame Herabdrücken der Gesamtkosten der gesellschaftlichen Reproduktion ist nicht quantifizierbar (auch wenn es als Gewinn einer Differentialrente in die gesamtgesellschaftliche Profitrate eingeht) - das ungezählte Leiden unzähliger Frauen ist ihr Gradmesser.
---------------KASTEN ANFANG---------------------------

Frauen in Ex-Jugoslawien
Um zu verstehen, welche gesellschaftlichen Machtpositionen von Frauen im ehemaligen Jugoslawien im und durch den Krieg angegriffen werden, ist ein kurzer Rückblick auf die Situation von
Frauen in der »Vorkriegszeit« notwendig.
Sie hatten enorme gesellschaftliche Macht. Im industrialisierten Norden, in dem nahezu die Hälfte der berufstätigen Bevölkerung Frauen waren (Slowenien 46%), entwickelten sie Selbstbewußtsein und gesellschaftliche Stärke als »moderne« Arbeiterinnen. Nicht zufällig hatte sich hier Anfang der 80er Jahre eine autonome Frauenbewegung entwickelt.Schon seit 1974 gab es das Recht auf Abtreibung ohne Indikation (gesamtjugoslawisch war das Verhältnis Geburt:Abtreibung 1:1, das südliche Kosovo hatte allerdings die höchste Geburtenrate Europas). Sie hatten ein Anrecht auf bezahlten Mutterschaftsurlaub (in Slowenien 12 Monate, in Mazedonien 7 Monate), auf Bildung (Frauenanalphabetismus in Slowenien 0,9%, im Kosowo 23%). Vergewaltigung in der Ehe war seit Mitte der 70er Jahre in Slowenien strafbar, und schon seit den 60er Jahren konnten hier Frauen ihren Namen nach der Eheschließung frei wählen, auch ohne den Namen des Mannes anzuhängen. Formalrechtlich gab es die volle Gleichstellung der nichtehelichen Gemeinschaft und der nichtehelichen Kinder.
Im agrarischen Südosten war die agrarische Großfamilie die vorherrschende gesellschaftliche Produktionsform, da eine Kollektivierung der Landwirtschaft nach '45 gescheitert war (vgl. Kapitel 2). Durch Landflucht und den Zwang vieler Männer zur Arbeitsmigration (nach Nordeuropa oder innerhalb Jugoslawiens) blieben seit Mitte der 60er Jahre v.a. Frauen, Kinder und Alte als Trägerinnen der Landwirtschaft, der Familien- und Sozialstruktur zurück (Feminisierung der Dörfer). Die Männer kamen für ein oder zwei Monate im Jahr, zum Urlaub oder um bei der Ernte zu helfen. Ansonsten waren die Frauen die alleinigen Trägerinnen der auf Subsistenz ausgerichteten, kaum für den Markt produzierenden Landwirtschaft. Es existierte quasi eine vom Markt gänzlich abgekoppelte Frauenökonomie. Nur durch direkte Gewalt im Krieg gegen die Frauen, durch Terror und Vertreibung, Zerstörung des gesamten sozialen Gefüges kann diese dominante Position der Frauen gebrochen und so die Voraussetzung geschaffen werden, die bisherige »unproduktive« Landwirtschaft durch rationellere Strukturen (Agrokonzerne, Großflächenbewirtschaftung, cash-crops etc.) zu ersetzen.
Auch im industrialisierten Norden kam der von Frauen getragenen Subsistenzlandwirtschaft seit der Krise der 80er Jahre eine zunehmende gesellschaftliche Bedeutung zu. Oftmals konnte allein sie die Ernährung der durch Entlassungen und Inflation prekär gewordenen Familie noch gewährleisten. Zudem war gerade die Möglichkeit des Rückzugs auf die Subsistenz eine Basis der Widerständigkeit der IndustriearbeiterInnen gewesen.
Im und durch den Krieg werden Frauen in eine extrem mobile und instabile soziale Situation gezwungen. Sie verschwinden quasi allerorten aus dem öffentlichen Leben. Sowohl politisch (ihr Anteil in den Parlamenten ist von 11% auf 3% gesunken), als auch im Alltag. »Es ist für mich schwierig, in Zagreb abends auszugehen«, schreibt eine kroatische Pazifistin ihrer Belgrader Freundin, »diese allumfassende Männerwelt; du kannst es in der Luft riechen, dieses Bruderschaftsgefühl, dieser Heroismus. Nicht nur Uniformen, auch der Geist riecht nach Militär.«
Auf ideologischer Ebene sollen Frauen vom Quasi-Subjekt der Arbeiterklasse (Arbeiterfrauen) sozusagen zum »Naturferment« der Reproduktion des Lebens der Nation werden.So gibt es öffentliche Aufrufe (auch von Frauengruppen) zum Gebärzwang (»für jeden gefallenen Soldaten hundert Söhne gebären«). Frauen gelten als die »Mütter der Nation«, auch die verschiedenen zu Kriegsbeginn entstandenen Mütterbewegungen ließen sich nationalistisch aufladen und forderten die Herausgabe »ihrer Söhne«, die nicht für »die Serben« oder »die Kroaten« fallen sollten, sondern ihre Familien verteidigen.
Die Selbstethnisierung reicht bis weit in die jugoslawische Frauenbewegung hinein. Eine Zagreber Feministin sagt: »Früher habe ich mich als Jugoslawin gesehen, aber seit Kroatien angegriffen wurde, fühle ich mich als Kroatin.« Frauengruppen spalten sich auf in »Pazifistinnen« und »Patriotinnen«, eine Zusammenarbeit ist nach eigenen Angaben kaum noch möglich. Dies alles vor dem Hintergrund, daß die Anfang der 80er Jahre entstandene Frauenbewegung eine relative Stärke erreicht hatte und z.B. noch 1991 in Slowenien und 1992 in Kroatien die Installierung eines neuen reaktionären Familiengesetzes verhindern konnte.
Jetzt sind Frauen politisch weitgehend paralysiert, mit der Organisation des Überlebens beschäftigt und konfrontiert mit einer extrem reaktionären Neudefinition ihrer gesellschaftlichen Stellung.

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Je nach Region stellt sich der gewaltsame Enteignungsprozess unterschiedlich dar: in den Vertreibungen, v.a. in ländlichen Regionen, als Zerstörung der Subsistenzgrundlagen, in nicht vom offenen Krieg betroffenen Gegenden als Lohnsenkung, Wegnahme sozialer Leistungen und Wertraub durch kriegsbedingte Inflation - eine rasante Bevölkerungsrationalisierung, wie sie in Form von aufoktroyierten IWF-Auflagen nicht durchsetzbar war.
Zur Ökonomie des Kriegs gehört aber auch die andere Seite der Medaille: die Teilhabe am Krieg erst schafft den (fast ausschließlich männlichen) Soldaten und Milizionären Zugang zu Ressourcen und sichert so ihr Überleben: sei es als regulären Sold - war doch die JNA schon vor dem Krieg eine der größten Einkommens-Geber - sei es als Kriegsbeute - Plünderungen gehören zum integralen Bestandteil der Kriegshandlungen, und so erklärt es sich auch, daß der prozentuale Anteil jugendlicher Arbeitsloser an den Milizen sehr hoch ist. Städtische Wochenendmilizen lockt die Aussicht auf Beute - Plünderungen und Vergewaltigungen gehen dabei meist miteinander her. Erst die Teilnahme am Krieg eröffnet die Möglichkeit, an Macht und Politik zu partizipieren, und sie bietet Aussicht auf wirtschaftlichen Gewinn.
So wird der Krieg zu einem Unternehmen, das sich zunehmend und in wechselnden Allianzen mafiös organisiert: »Zahlreiche Einheiten hören inzwischen nur noch auf ihren Kommandanten und akzeptieren keine Befehle aus Belgrad mehr. So ist denn die Verwirrung groß entlang der ausgedehnten Fronten zwischen Serbien und Kroatien, und der Krieg, wie er heute geführt wird, wird zu einem Bandenkrieg. Diese Banden verfolgen präzise, jedoch ausschließlich regional begrenzte Ziele und betrachten alle militärischen und politischen Strategien als Verrat.« (FR 29.8.91)
Profiteure des Kriegs sind andererseits alle, die die Mechanismen der Spekulation, des »grauen Markts« und des Schwarzmarkts beherrschen und für sich nutzen. Dieser parallele Markt blüht im Krieg auf und entwickelt sich zu einem der profitträchtigsten Segmente der Kriegsökonomie. Einer seiner Kernbereiche ist der Waffenmarkt. Über den internationalen Waffenmarkt wird Ex-Jugoslawien - trotz aller offiziellen Embargos - kontinuierlich bedient, und die einheimische Rüstungsindustrie, die sich auch vor dem Krieg auf den internationalen Märkten » gut behaupten konnte«, produziert Waffen auf dem neusten technologischen Stand. Die Rüstungsindustrie ist quer zu allen ethnischen Grenzziehungen überregional organisiert: ca. 60% der Rüstungsschmieden liegen auf serbischem, fast 40% (!) auf bosnisch-herzegowinischem Territorium, und die Zulieferindustrie ist über ganz Ex-Jugoslawien - incl. Kroatien und sogar Slowenien - verteilt. Schon heute, während des Kriegs, wird bereits auch - sogar in umkämpften Regionen - für den Export produziert, und für die Nachkriegszeit steht zu erwarten, daß die Rüstungsbetriebe zu den ersten auf Export und damit Devisen ausgerichteten produktiven Kernen der Nachkriegsordnung werden (vgl. Anhang »Woher kommen die Waffen?«).
Kriegsökonomie umfaßt nicht nur das unmittelbare Kriegsgeschehen, also Raub, Plünderungen, Waffenhandel etc. sondern erstreckt sich auf die Gesellschaftsorganisation als Ganze. Insofern transformieren sich bspw. Politik, Kultur, Medien etc., in Agenturen des Kriegs, die die Zwangsvergesellschaftung im Krieg betreiben. Schon in der Auflösung, Zerstörung alter Machtstrukturen formieren sich neue Linien der Ordnung. Dieser gleichzeitige Zerstörungs- und Transformationsprozeß erfaßt die ganze Gesellschaft, und er hat viele Facetten: In der Mutation vom nationalen Kommunismus zu einem kriegskommunistischen Nationalismus besetzen nationalistisch gewendete kommunistische Machteliten weiterhin die Schaltstellen der Macht; in der kriegerischen Desintegration des jugoslawischen Territoriums wird eine neue Zonierung des Raums erzwungen, in der Ökonomie des Kriegs soll der jugoslawische Raum nach produktivitätsorientierten und bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten auf den EG- bzw. Weltmarkt hin neu geordnet und zugerichtet werden (vgl.Kapitel 7). Zivile wie militärische Produktion werden unter Kriegskommando zum Betandteil einer umfassenden Kriegswirtschaft, die nach allen historischen Erfahrungen Motor eines forcierten Modernisierungsschubs (d.h. einer neuen Qualität der Unterwerfung sozialer Prozesse unter die Akkumulationsanforderungen) wird. So erzwingt der Krieg eine gewaltige Gesellschaftsrationalisierung, wird zum brachialen Medium einer Zwangsvergesellschaftung, die nach dem Scheitern früherer Reform- und Neuordnungspläne die Transformation Jugoslawiens in dem Weltmarktdiktat unterworfene Einzelregionen gewaltförmig durchzusetzen versucht.
Dieser kriegsförmige Umbruchsprozeßs dringt in alle Poren der Gesellschaft ein, und er kann Gesellschaftlichkeit nur strukturieren, wenn er in den handelnden Subjekten selbst materielle Anknüpfungspunkte findet. Die Konstitution der Subjekte selbst verändert sich im Krieg und wird durch ihn verändert: die Brutalisierung aller gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse, die Materialisierung struktureller Gewalt in offene prägt die Menschen in ihrem Bild von sich selbst und ihrem Bezug zu anderen bis ins Innerste. Muster der Identitätsbildung und des Alltagsverhaltens werden außer Kraft gesetzt und zerstört, neue Identitäten bilden sich heraus. Hervorstechendstes Merkmal dieses Prozesses ist die extreme Repatriarchalisierung der ganzen Gesellschaft. Die neue Macht der Männer, die sich nicht nur im Waffenbesitz und in Vergewaltigungen, sondern schon im medialen Bild davon und in der Reaktivierung von Männerphantasien (Theweleit) manifestiert, setzt in Verbindung mit der Auflösung traditioneller Familienstrukturen einen Machismo frei, der selbst wieder zu einem Moment sozialer Kontrolle wird. Dem männlichen Machtzuwachs entspricht eine Entmachtung der Frauen auf allen Ebenen: die alltägliche Entwürdigung und Demütigung, die den jugoslawischen Frauen in ihren eigenen Erfahrungen und schon in den Berichten über Massenvergewaltigungen angetan wird, die Beschneidung materieller, sozialer und politischer Rechte und die Reinstallierung eines von Mutterschaft und Sexualobjekt geprägten Frauenbildes destruiert die gesellschaftliche Machtbasis, die Frauen in Jugoslawien sowohl in den durch Migration feminisierten Dörfern wie in den städtischen Lebenswelten zukam. Die extreme physische psychische Verletzung der Frauen schlägt so tiefe Wunden, daß sie kaum artikuliert werden kann; sie mauert die Frauen in ein auch ideologisches Gefängnis der Ohnmacht, Selbstbescheidung und Opferrolle ein, so daß die kriegerische Repatriarchalisierung eine dauerhafte zu werden verspricht, die weit über ein mögliches Ende des Krieges hinausreicht. So konstituieren sich Subjekte im Krieg neu und reproduzieren sich in ihren alltäglichen Beziehungen. Die Neustrukturierung der Geschlechterverhältnisse, also die Unterwerfung, gewaltsame Erniedrigung der Frau ist die Voraussetzung für ihre gesteigerte Ausbeutung und die Bedingung dafür, die gesellschaftlichen Reproduktionskosten auf ein kriegswirtschaftliches Minimum zu beschneiden - gesellschaftliche Verhältnisse, die den Krieg überdauern.
Aber nicht nur in der Neuverteilung der Geschlechterrollen schafft der Krieg neue Muster der Selbstdefinition: Identitätsbildung nach ethnischer Zuschreibung, Zugehörigkeit zu städtischer oder agrarischer Lebenswelt, das Kriterium militärisch oder zivil internalisieren tendenziell die Ordnungslinien, nach denen die jugoslawische Gesellschaft aufgesplittet und zur Steigerung gesamtgesellschaftlicher Produktivität neu zusammengesetzt werden soll.
Es gibt keine Erhebung gegen den Vernichtungskrieg - mit wenigen Ausnahmen zu Beginn der Kriegshandlungen, als eine breite Antikriegsbewegung existierte. Noch 1992 kamen 150.000 TeilnehmerInnen zu einem Rockkonzert in Belgrad, das unter dem Motto stand: »Wir sehen, wer lügt, plündert, schlägt und mordet, wer die unbewaffneten Zivilisten in die Schutzunterkünfte treibt, die bewaffneten Männer an die Front zwingt und die Eingeschüchterten zu Flüchtlingen werden läßt« (ZEIT v.19.6.92). Inzwischen aber sind Gegenbewegungen nur schwer auszumachen, und sie können unter Kriegs- und Ausnahmerecht sich kaum entfalten. Im unmittelbaren Kriegsgeschehen selbst (Kampfhandlungen, Front, Kaserne etc.) scheint es keine Chancen für Bewegungen zu geben, die sich diesem entgegenstellen könnten, allein das Sich-Entziehen, die Flucht, der Kriegs-Absentismus kann der Logik des Kriegs zumindest teilweise entgegenarbeiten. Die Desertion hat zu Beginn des Kriegs gewaltige Dimensionen angenommen, ermöglicht wurde sie z.T. durch von Frauen geknüpfte Netze des Unterschlupfs und der Versorgung. »Über 50% der serbischen Reservisten mißachteten im Oktober (1991) die Einberufungsbefehle. In der Hauptstadt Belgrad entzogen sich sogar 85% der Volksarmee. Auch in Kroatien erschien angeblich nur die Hälfte der Einberufenen in der neugegründeten Nationalgarde. Viele serbische Deserteure fliehen über die Grenzen, darunter ein hoher Anteil junger Albaner. Die albanische und ungarische Minderheit gelten bei der serbischen Führung als besonders unzuverlässig, ihre Angehörigen werden überdurchschnittlich häufig mit Stellungsbefehlen bedacht« (...). (ami 2/92) Bis zum Februar 92 sind 60.000 serbische Wehrpflichtige ins Ausland geflüchtet (TAZ vom 28.1.92), ca 150.000 Personen flohen bis Mitte 92 vor drohender Rekrutierung ins Ausland (ZEIT 19.6.92). Die Informationen über Desertionen werden bei Intensivierung und Dauerhaftigkeit des Kriegs spärlicher, und es steht zu befürchten, daß die Gewöhnung an den Krieg und seine Perpetuierung die Möglichkeiten der Desertion zunehmend minimiert; sie wird zum Teil der Fluchtbewegung, über die im Kapitel 6 berichtet wird.
Ob sich nicht doch »unterirdisch« Formen sozialer Renitenz entwickeln, die der Kriegsökonomie entgegenarbeiten, vermögen wir nicht zu sagen. Offene Formen des Protestes jedenfalls werden entweder schnell militärisch niedergeschlagen oder, wie ein Teil der Anti-Kriegs-Frauenproteste, nach und nach nationalistisch aufgeladen und damit zu einem friedlichen Arm einer Kriegspartei. Und wo ganze Städte und Regionen sich den Kriegsimperativen nicht unterwerfen, wie z.B. in Sarajewo, werden sie mit einer Strategie des Beschusses und Aushungerns selbst zu einem Mittelpunkt der Kriegshandlungen. Wo der Krieg die ganze Gesellschaft mit seiner brutalen Logik überzieht, scheint kaum ein anderer Weg als die Flucht offen zu bleiben.

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