Die Umbrüche in Ost- und Südosteuropa laufen
gewaltförmiger ab als es der Begriff der »friedlichen
Revolution« suggeriert. Unter der medialen Oberfläche
»ziviler« Massenproteste, legaler Abwahlen und erzwungener
Abdankung oder Absetzung von Regimen erweisen sich die Umbrüche real
als latente und offene Formen des sozialen Krieges, die sich in sozial-
,finanz- und wirtschaftstechnischen Instrumentarien der
Transformationsregime gegen soziale Ansprüche und Erwartungen
artikulieren, wie wir es am Beispiel der ehemaligen Sowjetunion aufgezeigt
haben (s. Materialien Nr.4). Daß die Transformation aber im
strategisch wichtigen Balkanraum die Form eines langanhaltenden offenen
Kriegs annimmt, ist eine andere Variante des sozialen Kriegs gegen den
osteuropäischen Sozialprozess im Laboratorium des
südosteuropäischen Krisenszenarios. Es ist u.a. den spezifischen
Eigenheiten des sozialen Antagonismus in Jugoslawien (s. Kap.4) geschuldet,
daß in der jugoslawischen Region die Zertrümmerung sozialer
Beziehungen und noch rudimentär vorhandener subsistenzwirtschaftlicher
Alltagsverhältnisse die »Ethnisierung des Sozialen« als
Sozialtechnik in brutalster Form ihre Anwendung fand - initiiert und
durchgesetzt im Medium des Kriegs.
Am Beispiel Zentralamerikas haben wir herausgearbeitet, wie in der neuen
Doktrin des »low-intensity-warfare« der Krieg gegen die
Bevölkerung strategisch als eine verwertbare Zwischenlösung
eingesetzt werden kann, solange »der Zustand des Fehlens eines neuen
Modells der Kapitalakkumulation anhält (...) - Krieg als augenblicklich
rentabelste Form der sozialen Kontrolle über die Region«, der die
Ansprüche der Bevölkerung niedrig hält (vgl. Materialien 1
S.22-26). In der Phase des Umbruchs des sozialistischen Akkumulationsregimes
hingegen hat der entfesselte Krieg weitaus mehr als soziale Kontrolle zu
gewährleisten - er wird zum Motor der Zerstörung und
Transformation sozialer Geflechte, der Deindustrialisierung und der
Vernichtung »sozialer Überschüsse« bzw. deren
Vertreibung und Internierung, und er wird produktiv in dem Sinne, daß
er über ethnische Differenzierung und nationale Homogenisierung eine
neue Zwangsvergesellschaftung (Kriegswirtschaft, zentralisierte Regulation
etc.) gegen die Wucht der sozialen Antagonismen durchsetzt und die
Anpassungsleistungen an die Weltmarktrationalität gewaltsam
vergesellschaftet - das scheinbar irrationale Chaos des Bürgerkriegs
erzeugt flexible ethnisierte Ordnungen in der Zwangsvergesellschaftung des
Kriegs. Dabei setzt die globale Ordnung nur den Rahmen, in dem die Subjekte
durch ihre autonome Eigenbewegung die »Ordnung« den
Umständen entsprechend selbst neu definieren.
Die radikale Absenkung der gesellschaftlichen Reprokuktionskosten ist
nicht eine unabänderliche Begleiterscheinung des Krieges, sondern
Kriegsziel selbst (vgl. Res Strehle, Dossier Ökonomie des Krieges, im
Anhang). Von daher ist der jugoslawische Bürgerkrieg ganz eindeutig ein
Krieg gegen die jugoslawischen Frauen (Zersetzung ihrer Reproduktionsmacht).
Die gesellschaftlichen Investitionen in die Vernutzung und Ausbeutung der
jugoslawischen Frauen, mit denen das jugoslawische Regime die produktive
Rationalisierung als ganze zu forcieren hoffte, hatten sich offensichtlich
nicht rentiert und werden jetzt im patriarchalen Angriff auf die
jugoslawischen Frauen zurückgenommen und von nackter Gewalt gegen sie
abgelöst. (Es ist zu vermuten, daß die Frauen die soziale
Systematik ihrer Ausbeutung unterlaufen hatten.) Das scheint der funktionale
Kern des im Krieg entfesselten Machismo, der systematischen
Massenvergewaltigungen und der durchgehenden Repatriarchalisierung des
gesellschaftlichen Kommandos zu sein.
Der formale Ablauf des jugoslawischen Krieges kann kurz zusammengetragen
werden (vgl. ami 5/93, S.40, auf gegenüberliegender Seite), allerdings
ohne großen Erkenntnisgewinn. Auffällig ist die sukzessive
Verlagerung der Kriegsregionen vom Norden in den Süden. Mit jedem z.T.
in UN-Peacecorps abgesicherten Waffenstillstand wandern die freigesetzten
Kriegsmittel und -banden weiter, um neue Gebiete mit kriegerischer
Zerstörung zu überziehen - ein feingesteuerter Dominoeffekt. Dabei
nimmt der Krieg an Intensität und Brutlität zu, je mehr er sich
mit gesellschaftlich verankerten Strukturen wie in Bosnien-Herzegowina
konfrontiert, die sich nicht ohne großen Widerstand aufbrechen und
ethnisch neuordnen lassen.
Die Akteure des Kriegs sind fast ausschließlich Männer, die
kämpfenden Verbände sind extrem unübersichtlich: sie reichen
von der ehemals viertgrößten Armee Europas, der jugoslawischen
Volksarmee JNA, Territorialarmeen, wildwüchsigen Nationalgarden
über parteigebundene Milizen und Freischärler in z.T. historischer
Kostümierung und unter Beteiligung von Söldnern bis hin zu
diversen Banden und Wochenendmilizen.
Spätestens mit der Unabhängigkeit Sloweniens hat die
jugoslawische Volksarmee JNA ihre Hauptfunktion, die einer Klammer der
jugoslawischen Republiken, eingebüßt - sie wird zerlegt. Schon in
den 80er Jahren, mit dem Ende der Kalten-Kriegs-Subventionen aus dem Osten
und dem Westen, war ihr Etat beträchtlich gekürzt worden, aber
erst der Krieg machte die JNA zur serbisch-montenegrinischen Rumpfarmee, und
die abgespaltenen Einheiten ethnisierten und verselbständigten sich.
Dezentral organisiert, war bereits seit 1968 die territoriale Verteidigung -
bis hin zur Dezentralisierung der Befehlsgebung (vgl. G. Wagenlehner,
Landesverteidigung. in: K.-D. Grothusen, Jugoslawien. - Göttingen 1975,
S.193 ff) - eine nationalistische Aufladung v.a. der Offizierscorps erfolgte
schon in der Vorkriegszeit. In Serbien findet parallel zur Schrumpfung der
JNA ein Ausbau der Polizei zu einer paramilitärischen Truppe statt,
deren Größe und Etat den der JNA übersteigt (vgl.TAZ vom
17.8.93, im Anhang dokumentiert).
Gänzlich unübersichtlich ist die Anzahl der Milizen. In
Bosnien z.B. formieren sie sich als »Revolutionäre Ustascha
Front«, »Kroatische Kreuzritter«,
»Revolutionäre Kroatische Bruderschaft«, als
»Tschetniks«, »Serbische Tiger«,
»Antigermanische Allianz«, »Vaterlandsarmeen« oder
als »Bosnisch-muslimanische Widerstandsbewegung«,
»Muslimanische Bruderschaft« und »Grüne
Barette«. Und bewaffnete Banden reisen nach verschiedenen Berichten an
den Wochenenden nach Bosnien, um am Morden, Plündern und Vergewaltigen
teilzuhaben. So bizarr sich die Namen ausnehmen - die Banden sind doch keine
jugoslawische Besonderheit, sondern ein neues transnationales Phänomen,
wie J.F. Bayart es an Beispielen aus Afrika verdeutlicht (s. Anhang).
Die Diversität der Verbände spiegelt auch die Ebene der
Kriegsführung wider. Mindestens vier Formen von Kriegsführung
können unterschieden werden, die sich hier miteinander verbinden: die
fordistische Kriegsführung, der Partisanenkrieg, der War-Lord-Krieg und
der low-intensity-warfare. Die Verknüpfung dieser vier Formen des
Kriegs, die von Region zu Region mal die eine Form, mal zwei oder drei
Formen miteinander vermischt und sich bis zum Vernichtungskrieg verdichtet,
hat eine völlig neue Kriegsführung hervorgebracht.
Zum einen gibt es den klassischen Krieg um Eroberung und Kontrolle von
Territorien und Status (Unabhängigkeit/Republikzugehörigkeit), am
offensichtlichsten in der Annexion von Teilen Kroatiens durch die JNA und in
der Besetzung weiter Teile Bosniens durch kroatische und serbische
Verbände. In der zermürbenden Belagerung bzw. Zerstörung von
Städten ((Vukovar, Mostar, Sarajevo...) werden urbane Strukturen
angegriffen, in denen die Produktion ethnischer Zwangsidentitäten auf
erhebliche Widerstände stößt - eine Auseinandersetzung, in
der womöglich der in der immer noch stark agrarisch geprägten
jugoslawischen Gesellschaft virulente Gegensatz Stadt-Land neu reaktiviert
wird.
Seinen offenkundigsten Ausdruck findet der Krieg als Vernichtungskrieg
gegen die Zivilbevölkerung in den als »ethnischen
Säuberungen« bezeichneten Massenvertreibungen,
Zwangsumsiedlungen, Internierungen und Pogromen. Zwangsmobilisierung und
radikale Entwurzelung sind das Programm, und Massenvergewaltigungen in
speziellen Lagern gehören zum System dieses Kriegs.
---------------- KASTEN ANFANG -----------------------------------
Systematische Massenvergewaltigungen
Einiges ist mittlerweile bekannt geworden über die systematischen,
massenhaften Vergewaltigungen von Frauen im ehemaligen Jugoslawien. Wenn
auch in den hiesigen Medien von interessierter Seite fast
ausschließlich über den von serbischen Männern begangenen
Krieg gegen die Frauen berichtet wird (die anti-serbische Front reicht von
FAZ-Reißmüller über CDU bis zur GfbV, die
pro-interventionistischen Stimmen finden sich quer durch die
Parteienlandschaft, auch BRD-Frauen-Gruppen sind kriegsparteiisch im
nationalen deutschen Konsens gegen Serbien ...), belegen doch zahlreiche
Interviews und Berichte von betroffenen Frauen aller Nationalitäten
Ex-Jugoslawiens, daß von allen Kriegsparteien die Waffe Vergewaltigung
als unmittelbarster und brutalster Akt gegen Frauen vom Beginn des Krieges
an eingesetzt wurde.
Innerhalb des gesamten Lager- und Internierungssystems (vermutlich mehr
als 120 Lager) gibt es mindestens 20 spezielle Vergewaltigungslager, in die
Frauen und junge Mädchen aller Nationalitäten zwangsverschleppt,
ausgeplündert, systematisch vergewaltigt, geschwängert und oft
auch getötet werden. Ort und Funktion sind weitgehend bekannt, auch
UN-Menschenrechtsbeobachtern, die jedoch vorgaben, nichts zur Befreiung der
internierten Frauen unternehmen zu können, weil es nicht genug
Länder gäbe, die diese aufnehmen würden.
»Die Vergewaltigungen gehören zur Kriegsstrategie, sie sind
eine intelligente Waffe, für die man kein Benzin und keine Munition
braucht«, sagt Asija Armanda von der Zagreber Frauengruppe
»Kareta«. »Die Geschichten über die Vergewaltigungen
verbreiten sich, und die Menschen fliehen, und eine vergewaltigte Frau kehrt
nie an den Ort ihrer Vergewaltigung zurück.« Dies ist ganz im
Sinne der Kriegsstrategen, die »ethnisch reine« Gebiete schaffen
wollen.
Der Einsatz von Massenvergewaltigungen für eine Politik der
»ethnischen Säuberungen« wird mit Sicherheit am radikalsten
und brutalsten im serbisch besetzten Teil Bosnien-Hercegowinas umgesetzt,
sowohl in den von serbischen Verbänden eingerichteten
Vergewaltigungslagern, aber auch durch Gruppenvergewaltigungen in den
Dörfern vor den Augen von Nacharn und Familienangehörigen. Akteure
sind Soldaten und Freischärler, Lagerwächter und Söldner,
aber auch Nachbarn und ehemalige Freunde. Vergewaltigung wird durch
Nichtbestrafung legitimiert und befördert, geschieht zum Teil auf
Befehl von oben, und einige verdienen sogar daran. Im Juni '92 erzählte
ein Soldat der »Green Berets« (eine der paramilitärischen
muslimischen Einheiten im Krieg in Bosnien) im Fersehen: Für jeden Bus,
den er gefüllt mit Frauen zu den Soldaten brächte, erhalte er
umgerechnet 200 DM. Könne er ihn nicht mit genug serbischen Frauen
auffüllen, so genügten auch muslimische und kroatische Frauen.
Wichtig sei nur, daß es Frauen sind, daß der Bus voll wäre
und er 200 DM erhalte. Dieselbe Summe, erhielt nach einer anderen
Zeugenaussage ein Soldat anderer Couleur von seiner Gang dafür,
daß er die Kellnerinnen einer Bar dazu brachte, sie nackt zu bedienen.
Die Frauen konnten nirgendwohin fliehen, das Maschinengewehr lag auf dem
Tisch. Ob die Frauen ehemalige Schulfreundinnen waren oder nicht, jedes
Anzeichen von Widerstand wurde mit Anspucken bestraft. Neben dem Aspekt des
Terrors und der Vernichtung von Frauen kommt den Vergewaltigungslagern auch
eine direkte bevölkerungspolitische Bedeutung zu: zum einen werden die
Frauen systematisch geschwängert und erst zu einem Zeitpunkt
freigelassen, zu dem eine Abtreibung nicht mehr möglich ist, zum
anderen sind es zumeist Mädchen und junge Frauen, die in ihnen
festgehalten werden. »Es ist der reproduktivste Teil der (...)
Bevölkerung. Sogar wenn sie dort lebend herauskommen, Sie glauben ja
wohl nicht, daß sie je normale sexuelle Beziehungen und Kinder haben
werden«, sagt eine Zagreber Feministin.
Selbstverständlich wurde und wird in allen Kriegen (und nicht nur
dort) vergewaltigt. In Phasen politischen Zerfalls und zunehmender
Militarisierung von Gesellschaften sowie generell bei Auflösung
traditionell patriarchaler Männerrollen nimmt offene Gewalt gegen
Frauen zu, auch außerhalb des unmittelbaren Kriegsgeschehens.
»Die Zahl der Vergewaltigungen an allen Fronten in Bosnien und
Kroatien ist gewaltig, aber auch die in allen Städten der
zurückkehrenden Krieger in Ex-Jugoslawien. Die `Notrufe für Frauen
und Kinder' in Zagreb und Belgrad stellten fest, daß die Zahl der
registrierten Vergewaltigungsfälle seit Kriegsbeginn um 100% gestiegen
ist. Und in 100% mehr Fällen als zuvor wurden Todesdrohungen
ausgestoßen, trugen die Täter Waffen. Die Täter sind
meistens Kriegsveteranen, Nachbarn, die mit ihrer Kalaschnikov griffbereit
zu Bett gehen. Sobald sich die ewigen Soldaten nicht mehr unter Feinden
befinden, machen sie ihre eigene Frau zum Objekt von Vergewaltigung und
Verstümmelung. Und dies unabhängig von der Nationalität der
Frau, ihres Alters oder des Grades ihrer Begierde.« (L. Mladgenovic,
Belgrad in: Schehezerade Nr.4)
Als »Nach-dem-Fernseh-Syndrom« bezeichnen Belgrader
Notruf-Frauen Berichte von Frauen, sie würden oft unmittelbar nach der
Hauptnachrichtensendung von ihren Ehemännern überfallen.
Ähnliche Phänomene wurden von Feministinnen zum Beispiel
während des Golfkrieges in Israel, Irak und Kanada (!)
beschrieben.
Systematische Vergewaltigungen sind der offensivste und brutalste
Ausdruck des patriarchalen Kommandos über Frauen.
Aber sie sind zugleich eine Botschaft von Mann zu Mann. Nicht
zufällig war der Beginn der gewaltsamen Auseinandersetzung in Kroatien
'91 und im Kosovo begleitet von Fernsehberichten über Vergewaltigungen.
Die Vergewaltigung von Frauen wurde propagandistisch gleichgesetzt mit der
Vergewaltigung einer Nation, und damit wurde ganz wesentlich das
nationalistische Klima aufgeheizt.
Selbst viele ehemals feministische Frauengruppen Ex-Jugoslawiens
saßen dieser nationalistischen Propaganda auf.
----------------KASTEN ENDE -------------------------------------
Kennzeichnend für diesen Krieg ist der direkte Krieg gegen die (vor
allem weibliche) Zivilbevölkerung. Die Produktion von Chaos, Terror
gegen Zivilbevölkerung und allgemeiner Unsicherheit und
Unübersichtlichkeit greift tief: der Krieg erzielt seine
»zerstörerischste Wirkung darin, die regionalen und lokalen
Traditionen zu unterbinden« (Drago Roksandic in: Aufrisse 3/1992 S.9).
Es ist ein Krieg nach innen, der seine Destruktion bis in die Subjekte
hinein treibt - eine Voraussetzung für neue
Zwangsvergesellschaftung.
Krieg und Medien
Ohne die Medien wäre dieser Krieg kaum vorstellbar. Nicht erst seit
dem Umsturz in Rumänien und dem Golfkrieg wissen wir, wie effektiv
mediale Inszenierungen reales Geschehen vorbereiten, überlagern und
legitimieren können - bis hin zur medialen Produktion von
»Realitäten«. In Jugoslawien haben das Fernsehen, aber auch
Radio und die Zeitungen dem Krieg zunächst den Boden bereitet und dann
an vorderster Front zu seiner Brutalisierung beigetragen.
Seit 1991 existierte das JRT (Jugoslawisches Radio und Fernsehen)
faktisch nicht mehr. Die schon vorher relativ autonomen Fernsehanstalten der
Republiken hatten sich vollständig voneinander abgekoppelt und - mit
Ausnahme Bosniens - alle Austauschsendungen eingestellt. Damit war die
Voraussetzung für eine nationalistische Aufladung geschaffen, die nun
gezielt angegangen wurde: Kritische JournalistInnen wurden entlassen, in
Zwangsurlaub geschickt oder in schwarzen Listen als
»Verräter« und »Antipatrioten« geführt,
und die Informationspolitik wurde faktisch unter Kriegsrecht gestellt. Damit
wurden die Medien generell zu »Kriegshetzern« (wie Le Monde eine
informative Artikelserie vom 22.7.-24.7.93 treffend überschreibt; vgl.
auch den Artikel »Medien im Krieg - Krieg in den Medien » von
Vesna Kesic, in: Krieg in Europa, hg. v. Johann Gaisbacher u.a.- Graz 1992).
Die Medien wurden so zu einer aktiv strukturierenden Determinante des ganzen
Kriegsprozesses: Homogene Volksgruppen wurden sprachlich konstituiert -
»die Serben«, »die Kroaten«, »die
Bosnier«, und wenn es die Kriegsgegner waren, unter Manipulation des
historischen Gedächtnisses kollektiv als »Tschetniks«,
»Ustaschas« oder »von Sadam Hussein bewaffnete
Fundamentalisten und Mudjahedin« bezeichnet, die schon immer auf
»Genozid« aus waren (vgl. Interview im Anhang). Wie in aller
Kriegspropaganda ging die Dämonisierung des Gegners einher mit einer
kriegerischen Mythologie, in der der Feind »feige«,
»schmutzig« und »drogenabhängig« war,
während »unsere Soldaten« das Land mit
»außergewöhnlichem Mut«
»verteidigen«.
Der wirkungsvolle Mechanismus der alltäglichen Kriegspropaganda,
dem sich kaum jemand zu entziehen vermag, kann als Konstitution einer
national definierten Opfergemeinschaft beschrieben werden: Die
Kriegshandlungen zielen auf die eigene Person als Angehörige einer
immer schon unterdrückten Ethnie, die nun Opfer eines Komplotts wird.
Der Bildschirm bombardiert die Menschen mit grausamen Bildern von
historischen wie aktuellen Massakern, deren alleinige Opfer die Ethnie sei;
zum Teil sind es sogar die gleichen Bilder, die je nach Republik ethnisch
umdefiniert werden. Diese mediale Inszenierung von Massakern kennt weder
Täter in den eigenen Reihen, noch Opfer auf Seiten des Gegners;
Vertreibungen ethnischer Minderheiten aus der »eigenen« Republik
scheint es nicht zu geben - oder sie werden als allein durch gegnerische
Propaganda ausgelöste Flucht gedeutet.
Die so erzeugte kollektive Opfermentalität nimmt Formen einer
massenhaften »`patriotischen' Hysterie« an (Le Monde v.23.7.93),
die die Kriegsmaschinerie mit immer neuem Treibstoff versorgt.
Diese grobe Phänomenologie des Kriegs in Ex-Jugoslawien verweist
schon auf die ihm eigene Logik, die Ökonomie des Kriegs.
Der kriegerische Angriff auf die Zivilbevölkerung senkt drastisch
deren soziale Ansprüche und somit die gesellschaftlichen
Reproduktionskosten insgesamt. Am Durchschnittslohn ist dieser Zusammenhang
noch direkt greifbar: vor dem Krieg lag er bei ca. 1.000 DM, heute bei 50
DM. Das gewaltsame Herabdrücken der Gesamtkosten der gesellschaftlichen
Reproduktion ist nicht quantifizierbar (auch wenn es als Gewinn einer
Differentialrente in die gesamtgesellschaftliche Profitrate eingeht) - das
ungezählte Leiden unzähliger Frauen ist ihr Gradmesser.
Um zu verstehen, welche gesellschaftlichen Machtpositionen von Frauen im
ehemaligen Jugoslawien im und durch den Krieg angegriffen werden, ist ein
kurzer Rückblick auf die Situation von
Frauen in der »Vorkriegszeit« notwendig.
Sie hatten enorme gesellschaftliche Macht. Im industrialisierten Norden,
in dem nahezu die Hälfte der berufstätigen Bevölkerung Frauen
waren (Slowenien 46%), entwickelten sie Selbstbewußtsein und
gesellschaftliche Stärke als »moderne« Arbeiterinnen. Nicht
zufällig hatte sich hier Anfang der 80er Jahre eine autonome
Frauenbewegung entwickelt.Schon seit 1974 gab es das Recht auf Abtreibung
ohne Indikation (gesamtjugoslawisch war das Verhältnis
Geburt:Abtreibung 1:1, das südliche Kosovo hatte allerdings die
höchste Geburtenrate Europas). Sie hatten ein Anrecht auf bezahlten
Mutterschaftsurlaub (in Slowenien 12 Monate, in Mazedonien 7 Monate), auf
Bildung (Frauenanalphabetismus in Slowenien 0,9%, im Kosowo 23%).
Vergewaltigung in der Ehe war seit Mitte der 70er Jahre in Slowenien
strafbar, und schon seit den 60er Jahren konnten hier Frauen ihren Namen
nach der Eheschließung frei wählen, auch ohne den Namen des
Mannes anzuhängen. Formalrechtlich gab es die volle Gleichstellung der
nichtehelichen Gemeinschaft und der nichtehelichen Kinder.
Im agrarischen Südosten war die agrarische Großfamilie die
vorherrschende gesellschaftliche Produktionsform, da eine Kollektivierung
der Landwirtschaft nach '45 gescheitert war (vgl. Kapitel 2). Durch
Landflucht und den Zwang vieler Männer zur Arbeitsmigration (nach
Nordeuropa oder innerhalb Jugoslawiens) blieben seit Mitte der 60er Jahre
v.a. Frauen, Kinder und Alte als Trägerinnen der Landwirtschaft, der
Familien- und Sozialstruktur zurück (Feminisierung der Dörfer).
Die Männer kamen für ein oder zwei Monate im Jahr, zum Urlaub oder
um bei der Ernte zu helfen. Ansonsten waren die Frauen die alleinigen
Trägerinnen der auf Subsistenz ausgerichteten, kaum für den Markt
produzierenden Landwirtschaft. Es existierte quasi eine vom Markt
gänzlich abgekoppelte Frauenökonomie. Nur durch direkte Gewalt im
Krieg gegen die Frauen, durch Terror und Vertreibung, Zerstörung des
gesamten sozialen Gefüges kann diese dominante Position der Frauen
gebrochen und so die Voraussetzung geschaffen werden, die bisherige
»unproduktive« Landwirtschaft durch rationellere Strukturen
(Agrokonzerne, Großflächenbewirtschaftung, cash-crops etc.) zu
ersetzen.
Auch im industrialisierten Norden kam der von Frauen getragenen
Subsistenzlandwirtschaft seit der Krise der 80er Jahre eine zunehmende
gesellschaftliche Bedeutung zu. Oftmals konnte allein sie die Ernährung
der durch Entlassungen und Inflation prekär gewordenen Familie noch
gewährleisten. Zudem war gerade die Möglichkeit des Rückzugs
auf die Subsistenz eine Basis der Widerständigkeit der
IndustriearbeiterInnen gewesen.
Im und durch den Krieg werden Frauen in eine extrem mobile und instabile
soziale Situation gezwungen. Sie verschwinden quasi allerorten aus dem
öffentlichen Leben. Sowohl politisch (ihr Anteil in den Parlamenten ist
von 11% auf 3% gesunken), als auch im Alltag. »Es ist für mich
schwierig, in Zagreb abends auszugehen«, schreibt eine kroatische
Pazifistin ihrer Belgrader Freundin, »diese allumfassende
Männerwelt; du kannst es in der Luft riechen, dieses
Bruderschaftsgefühl, dieser Heroismus. Nicht nur Uniformen, auch der
Geist riecht nach Militär.«
Auf ideologischer Ebene sollen Frauen vom Quasi-Subjekt der
Arbeiterklasse (Arbeiterfrauen) sozusagen zum »Naturferment« der
Reproduktion des Lebens der Nation werden.So gibt es öffentliche
Aufrufe (auch von Frauengruppen) zum Gebärzwang (»für jeden
gefallenen Soldaten hundert Söhne gebären«). Frauen gelten
als die »Mütter der Nation«, auch die verschiedenen zu
Kriegsbeginn entstandenen Mütterbewegungen ließen sich
nationalistisch aufladen und forderten die Herausgabe »ihrer
Söhne«, die nicht für »die Serben« oder
»die Kroaten« fallen sollten, sondern ihre Familien
verteidigen.
Die Selbstethnisierung reicht bis weit in die jugoslawische
Frauenbewegung hinein. Eine Zagreber Feministin sagt: »Früher
habe ich mich als Jugoslawin gesehen, aber seit Kroatien angegriffen wurde,
fühle ich mich als Kroatin.« Frauengruppen spalten sich auf in
»Pazifistinnen« und »Patriotinnen«, eine
Zusammenarbeit ist nach eigenen Angaben kaum noch möglich. Dies alles
vor dem Hintergrund, daß die Anfang der 80er Jahre entstandene
Frauenbewegung eine relative Stärke erreicht hatte und z.B. noch 1991
in Slowenien und 1992 in Kroatien die Installierung eines neuen
reaktionären Familiengesetzes verhindern konnte.
Jetzt sind Frauen politisch weitgehend paralysiert, mit der Organisation
des Überlebens beschäftigt und konfrontiert mit einer extrem
reaktionären Neudefinition ihrer gesellschaftlichen Stellung.
Je nach Region stellt sich der gewaltsame Enteignungsprozess
unterschiedlich dar: in den Vertreibungen, v.a. in ländlichen Regionen,
als Zerstörung der Subsistenzgrundlagen, in nicht vom offenen Krieg
betroffenen Gegenden als Lohnsenkung, Wegnahme sozialer Leistungen und
Wertraub durch kriegsbedingte Inflation - eine rasante
Bevölkerungsrationalisierung, wie sie in Form von aufoktroyierten
IWF-Auflagen nicht durchsetzbar war.
Zur Ökonomie des Kriegs gehört aber auch die andere Seite der
Medaille: die Teilhabe am Krieg erst schafft den (fast ausschließlich
männlichen) Soldaten und Milizionären Zugang zu Ressourcen und
sichert so ihr Überleben: sei es als regulären Sold - war doch die
JNA schon vor dem Krieg eine der größten Einkommens-Geber - sei
es als Kriegsbeute - Plünderungen gehören zum integralen
Bestandteil der Kriegshandlungen, und so erklärt es sich auch,
daß der prozentuale Anteil jugendlicher Arbeitsloser an den Milizen
sehr hoch ist. Städtische Wochenendmilizen lockt die Aussicht auf Beute
- Plünderungen und Vergewaltigungen gehen dabei meist miteinander her.
Erst die Teilnahme am Krieg eröffnet die Möglichkeit, an Macht und
Politik zu partizipieren, und sie bietet Aussicht auf wirtschaftlichen
Gewinn.
So wird der Krieg zu einem Unternehmen, das sich zunehmend und in
wechselnden Allianzen mafiös organisiert: »Zahlreiche Einheiten
hören inzwischen nur noch auf ihren Kommandanten und akzeptieren keine
Befehle aus Belgrad mehr. So ist denn die Verwirrung groß entlang der
ausgedehnten Fronten zwischen Serbien und Kroatien, und der Krieg, wie er
heute geführt wird, wird zu einem Bandenkrieg. Diese Banden verfolgen
präzise, jedoch ausschließlich regional begrenzte Ziele und
betrachten alle militärischen und politischen Strategien als
Verrat.« (FR 29.8.91)
Profiteure des Kriegs sind andererseits alle, die die Mechanismen der
Spekulation, des »grauen Markts« und des Schwarzmarkts
beherrschen und für sich nutzen. Dieser parallele Markt blüht im
Krieg auf und entwickelt sich zu einem der profitträchtigsten Segmente
der Kriegsökonomie. Einer seiner Kernbereiche ist der Waffenmarkt.
Über den internationalen Waffenmarkt wird Ex-Jugoslawien - trotz aller
offiziellen Embargos - kontinuierlich bedient, und die einheimische
Rüstungsindustrie, die sich auch vor dem Krieg auf den internationalen
Märkten » gut behaupten konnte«, produziert Waffen auf dem
neusten technologischen Stand. Die Rüstungsindustrie ist quer zu allen
ethnischen Grenzziehungen überregional organisiert: ca. 60% der
Rüstungsschmieden liegen auf serbischem, fast 40% (!) auf
bosnisch-herzegowinischem Territorium, und die Zulieferindustrie ist
über ganz Ex-Jugoslawien - incl. Kroatien und sogar Slowenien -
verteilt. Schon heute, während des Kriegs, wird bereits auch - sogar in
umkämpften Regionen - für den Export produziert, und für die
Nachkriegszeit steht zu erwarten, daß die Rüstungsbetriebe zu den
ersten auf Export und damit Devisen ausgerichteten produktiven Kernen der
Nachkriegsordnung werden (vgl. Anhang »Woher kommen die
Waffen?«).
Kriegsökonomie umfaßt nicht nur das unmittelbare
Kriegsgeschehen, also Raub, Plünderungen, Waffenhandel etc. sondern
erstreckt sich auf die Gesellschaftsorganisation als Ganze. Insofern
transformieren sich bspw. Politik, Kultur, Medien etc., in Agenturen des
Kriegs, die die Zwangsvergesellschaftung im Krieg betreiben. Schon in der
Auflösung, Zerstörung alter Machtstrukturen formieren sich neue
Linien der Ordnung. Dieser gleichzeitige Zerstörungs- und
Transformationsprozeß erfaßt die ganze Gesellschaft, und er hat
viele Facetten: In der Mutation vom nationalen Kommunismus zu einem
kriegskommunistischen Nationalismus besetzen nationalistisch gewendete
kommunistische Machteliten weiterhin die Schaltstellen der Macht; in der
kriegerischen Desintegration des jugoslawischen Territoriums wird eine neue
Zonierung des Raums erzwungen, in der Ökonomie des Kriegs soll der
jugoslawische Raum nach produktivitätsorientierten und
bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten auf den EG- bzw. Weltmarkt hin
neu geordnet und zugerichtet werden (vgl.Kapitel 7). Zivile wie
militärische Produktion werden unter Kriegskommando zum Betandteil
einer umfassenden Kriegswirtschaft, die nach allen historischen Erfahrungen
Motor eines forcierten Modernisierungsschubs (d.h. einer neuen Qualität
der Unterwerfung sozialer Prozesse unter die Akkumulationsanforderungen)
wird. So erzwingt der Krieg eine gewaltige Gesellschaftsrationalisierung,
wird zum brachialen Medium einer Zwangsvergesellschaftung, die nach dem
Scheitern früherer Reform- und Neuordnungspläne die Transformation
Jugoslawiens in dem Weltmarktdiktat unterworfene Einzelregionen
gewaltförmig durchzusetzen versucht.
Dieser kriegsförmige Umbruchsprozeßs dringt in alle Poren der
Gesellschaft ein, und er kann Gesellschaftlichkeit nur strukturieren, wenn
er in den handelnden Subjekten selbst materielle Anknüpfungspunkte
findet. Die Konstitution der Subjekte selbst verändert sich im Krieg
und wird durch ihn verändert: die Brutalisierung aller
gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse, die Materialisierung
struktureller Gewalt in offene prägt die Menschen in ihrem Bild von
sich selbst und ihrem Bezug zu anderen bis ins Innerste. Muster der
Identitätsbildung und des Alltagsverhaltens werden außer Kraft
gesetzt und zerstört, neue Identitäten bilden sich heraus.
Hervorstechendstes Merkmal dieses Prozesses ist die extreme
Repatriarchalisierung der ganzen Gesellschaft. Die neue Macht der
Männer, die sich nicht nur im Waffenbesitz und in Vergewaltigungen,
sondern schon im medialen Bild davon und in der Reaktivierung von
Männerphantasien (Theweleit) manifestiert, setzt in Verbindung mit der
Auflösung traditioneller Familienstrukturen einen Machismo frei, der
selbst wieder zu einem Moment sozialer Kontrolle wird. Dem männlichen
Machtzuwachs entspricht eine Entmachtung der Frauen auf allen Ebenen: die
alltägliche Entwürdigung und Demütigung, die den
jugoslawischen Frauen in ihren eigenen Erfahrungen und schon in den
Berichten über Massenvergewaltigungen angetan wird, die Beschneidung
materieller, sozialer und politischer Rechte und die Reinstallierung eines
von Mutterschaft und Sexualobjekt geprägten Frauenbildes destruiert die
gesellschaftliche Machtbasis, die Frauen in Jugoslawien sowohl in den durch
Migration feminisierten Dörfern wie in den städtischen
Lebenswelten zukam. Die extreme physische psychische Verletzung der Frauen
schlägt so tiefe Wunden, daß sie kaum artikuliert werden kann;
sie mauert die Frauen in ein auch ideologisches Gefängnis der Ohnmacht,
Selbstbescheidung und Opferrolle ein, so daß die kriegerische
Repatriarchalisierung eine dauerhafte zu werden verspricht, die weit
über ein mögliches Ende des Krieges hinausreicht. So konstituieren
sich Subjekte im Krieg neu und reproduzieren sich in ihren alltäglichen
Beziehungen. Die Neustrukturierung der Geschlechterverhältnisse, also
die Unterwerfung, gewaltsame Erniedrigung der Frau ist die Voraussetzung
für ihre gesteigerte Ausbeutung und die Bedingung dafür, die
gesellschaftlichen Reproduktionskosten auf ein kriegswirtschaftliches
Minimum zu beschneiden - gesellschaftliche Verhältnisse, die den Krieg
überdauern.
Aber nicht nur in der Neuverteilung der Geschlechterrollen schafft der
Krieg neue Muster der Selbstdefinition: Identitätsbildung nach
ethnischer Zuschreibung, Zugehörigkeit zu städtischer oder
agrarischer Lebenswelt, das Kriterium militärisch oder zivil
internalisieren tendenziell die Ordnungslinien, nach denen die jugoslawische
Gesellschaft aufgesplittet und zur Steigerung gesamtgesellschaftlicher
Produktivität neu zusammengesetzt werden soll.
Es gibt keine Erhebung gegen den Vernichtungskrieg - mit wenigen
Ausnahmen zu Beginn der Kriegshandlungen, als eine breite Antikriegsbewegung
existierte. Noch 1992 kamen 150.000 TeilnehmerInnen zu einem Rockkonzert in
Belgrad, das unter dem Motto stand: »Wir sehen, wer lügt,
plündert, schlägt und mordet, wer die unbewaffneten Zivilisten in
die Schutzunterkünfte treibt, die bewaffneten Männer an die Front
zwingt und die Eingeschüchterten zu Flüchtlingen werden
läßt« (ZEIT v.19.6.92). Inzwischen aber sind
Gegenbewegungen nur schwer auszumachen, und sie können unter Kriegs-
und Ausnahmerecht sich kaum entfalten. Im unmittelbaren Kriegsgeschehen
selbst (Kampfhandlungen, Front, Kaserne etc.) scheint es keine Chancen
für Bewegungen zu geben, die sich diesem entgegenstellen könnten,
allein das Sich-Entziehen, die Flucht, der Kriegs-Absentismus kann der Logik
des Kriegs zumindest teilweise entgegenarbeiten. Die Desertion hat zu Beginn
des Kriegs gewaltige Dimensionen angenommen, ermöglicht wurde sie z.T.
durch von Frauen geknüpfte Netze des Unterschlupfs und der Versorgung.
»Über 50% der serbischen Reservisten mißachteten im Oktober
(1991) die Einberufungsbefehle. In der Hauptstadt Belgrad entzogen sich
sogar 85% der Volksarmee. Auch in Kroatien erschien angeblich nur die
Hälfte der Einberufenen in der neugegründeten Nationalgarde. Viele
serbische Deserteure fliehen über die Grenzen, darunter ein hoher
Anteil junger Albaner. Die albanische und ungarische Minderheit gelten bei
der serbischen Führung als besonders unzuverlässig, ihre
Angehörigen werden überdurchschnittlich häufig mit
Stellungsbefehlen bedacht« (...). (ami 2/92) Bis zum Februar 92 sind
60.000 serbische Wehrpflichtige ins Ausland geflüchtet (TAZ vom
28.1.92), ca 150.000 Personen flohen bis Mitte 92 vor drohender Rekrutierung
ins Ausland (ZEIT 19.6.92). Die Informationen über Desertionen werden
bei Intensivierung und Dauerhaftigkeit des Kriegs spärlicher, und es
steht zu befürchten, daß die Gewöhnung an den Krieg und
seine Perpetuierung die Möglichkeiten der Desertion zunehmend
minimiert; sie wird zum Teil der Fluchtbewegung, über die im Kapitel 6
berichtet wird.
Ob sich nicht doch »unterirdisch« Formen sozialer Renitenz
entwickeln, die der Kriegsökonomie entgegenarbeiten, vermögen wir
nicht zu sagen. Offene Formen des Protestes jedenfalls werden entweder
schnell militärisch niedergeschlagen oder, wie ein Teil der
Anti-Kriegs-Frauenproteste, nach und nach nationalistisch aufgeladen und
damit zu einem friedlichen Arm einer Kriegspartei. Und wo ganze Städte
und Regionen sich den Kriegsimperativen nicht unterwerfen, wie z.B. in
Sarajewo, werden sie mit einer Strategie des Beschusses und Aushungerns
selbst zu einem Mittelpunkt der Kriegshandlungen. Wo der Krieg die ganze
Gesellschaft mit seiner brutalen Logik überzieht, scheint kaum ein
anderer Weg als die Flucht offen zu bleiben.