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Räumung | »Ich bin nicht stumm geblieben« |
Die Geschichte wird zurückgedreht. Im Distrikt Angel Albino Corzo nehmen im Frühjahr 1995 die Familien Schimpf-Hudler, von Knoop und Orantes die Plantagen wieder in Besitz. In der gesamten Frailesca tauchen die Schwadrone der Finqueros auf, um die als Mitglieder oder SympathisantInnen der UCPFV verdächtigten Familien einzuschüchtern. Dies geschieht nicht geheim, sondern in aller Öffentlichkeit. Insbesondere die BewohnerInnen Nueva Palestinas geraten in eine Situation, die dem Leben unter einer Besatzungsmacht gleicht. Mehrmals täglich patrouillieren Jeeps mit getönten Scheiben und ohne Kennzeichen durch das Dorf. Keine Menschenseele läßt sich dann außerhalb der Häuser blicken. Auf den Ladeflächen der Geländewagen sind vermummte und mit Maschinenpistolen bewaffnete Söldner postiert.
Am 17. Mai 1995 erläßt der Richter Alejandro Cardenas López in der Landeshauptstadt Tuxtla Haftbefehl gegen 170 vermeintliche Mitglieder der UCPFV. Die Anklage, Strafsache Nr. 207/95, lautet auf »bewaffneten Raubüberfall«. Bemerkenswert ist, daß nicht Marianne Schimpf und Laurenz Hudler als Kläger auftreten. Der zehnjährige Lawrence Maximilian Hudler Schimpf und der ebenfalls noch minderjährige Alejandro German Wisotzki Schimpf, die Söhne der Liquidambar-Erbinnen Marianne und Margarita, werden als vom »bewaffneten Raubüberfall« Betroffene genannt. Allerdings vertritt sie in dieser Angelegenheit der Verwalter der Finca, Gerardo Saenger.
Während die BewohnerInnen Nueva Palestinas unter der Knute der allgegenwärtigen Militärpräsenz stehen, bereiten die Besitzer von Liquidambar die Wiederaufnahme der Kaffeeproduktion unter ihrer Regie vor. Für die im Spätherbst einsetzende Ernte werden Arbeitskräfte von weit her auf die Finca gebracht. Sie kommen zumeist aus Guatemala. Die Kontraktierung von WanderarbeiterInnen aus den Ländern Zentralamerikas hat Tradition. Schon seit Jahrzehnten machen sich die Plantagenbesitzer die verzweifelte Lage jener Menschen zunutze, die oftmals illegal die mexikanische Südgrenze überschritten, um dem Terror der Militärregimes und der hoffnungslosen ökonomischen Situation in Guatemala und El Salvador zu entfliehen. Ob ihres illegalen Status gelten sie als besonders gehorsam.
Die neuen TagelöhnerInnen werden auf Liquidambar jedoch nicht nur zu Feldarbeiten herangezogen. Laurenz Schimpf-Hudler ist vorsichtig geworden. Er weiß, daß die Repression den Haß der BewohnerInnen von Nueva Palestina auf ihn nicht gerade gemindert hat. Auf gar keinen Fall will er den Weg zur Finca in Zukunft auf der holprigen Schotterpiste zurücklegen. Diese führt nämlich unweigerlich durch Nueva Palestina hindurch. Nahe des Herrenhauses läßt er sich einen Hügel planieren und eine Landebahn anlegen. Laurenz Hudler ist Pilot und Mitglied des in Tuxtla ansässigen Fliegervereins Busqueda y Salvamento de Aeronaves Civiles. Über ein Sportflugzeug verfügt er schon seit Jahren.
Die Villistas versuchen, nach der Räumung mit Protestkundgebungen auf ihre dramatische Situation aufmerksam zu machen. Zwei Protestmärsche der UCPFV im Sommer 1995 nach Tuxtla enden im Kugelhagel der Polizei. Wieder werden Menschen aus Nueva Palestina verhaftet, wieder fließt Blut. Zurück bleibt die Trauer um den durch einen Kopfschuß ermordeten 53-jährigen Campesino Rafael Culebra Alevardo. Als kleine Hoffnung auf Veränderung erscheinen die im Herbst stattfindenden Kommunalwahlen. 1994 haben 900 PRI-Mitglieder in Jaltenango der Staatspartei den Rücken gekehrt und sind der oppositionellen PRD beigetreten. So verlor die PRI einen nicht unerheblichen Teil ihrer Basis im Distrikt. Die in der UCPFV organisierten Menschen hoffen, daß die PRD neue Machtverhältnisse im Distrikt erkämpfen kann. Doch auch diese Hoffnung wird zerstört.
Am 17. September 1995, fast genau ein Jahr nach der Ermordung seines Vorgängers Roberto Hernández Paniagua, wird der PRD-Bürgermeisterkandidat Antelmo Roblero Roblero in Jaltenango erschossen. Nun überschlagen sich die Ereignisse. Nur wenige Stunden später wird der PRI-Kandidat José Rito Solis entführt, wahrscheinlich von Anhängern der PRD. Dr. Rito Solis, ein langjähriger Freund der Schimpf-Hudlers, wird von der Basis der PRD direkt für den Mord an Antelmo Roblero Roblero verantwortlich gemacht. Am 18. September wird der PRI-Politiker Ausel Sánchez Pérez erschossen. Dieser hatte gegenüber einer Zeugin seine Beteiligung an der Ermordung Roblero Robleros gestanden und Laurenz Hudler und Folke von Knoop als Mittäter genannt. Die Welle der Gewalt, die den Distrikt erfaßt hat, fordert Opfer nach Opfer. Am 19. September wird der PRD-Aktivist Higinio Sánchez erschossen. Die Vorfälle radikaliseren und polarisieren die Stimmung im Distrikt weiter. Fieberhaft machen sich Polizeikräfte daran, der Beteiligten an der Ermordung von Ausel Sánchez Pérez und der Entführung von José Rito Solis, der beiden PRI-Führer, habhaft zu werden. Laufend werden BewohnerInnen der Gegend festgenommen und zu Verhören nach Tuxtla gebracht. Dergleichen Engagement wird bei der Suche nach den Mördern der PRD-Politiker Antelmo Roblero Roblero und Roberto Hernández Paniagua sowie der anderen durch die Guardias oder die Polizei Erschossenen nicht an den Tag gelegt.
Zu Gesprächen zwischen Regierungsvertretern und der UCPFV über ihre Landforderungen und die Freilassung wegen der Finca-Besetzung einsitzender Campesinos kommt es nicht. Delegationen der UCPFV werden von den Regierungsbeamten immer wieder brüskiert und zurückgewiesen. Aus diesem Grund blockieren am 15. Dezember etwa 150 Villistas bei Nueva Palestina die nach Jaltenango führende Straße. Dabei stoppen sie ein Fahrzeug des Agrarministeriums und setzen die fünf Insassen, ein Familienmitglied der Besitzer von Montegrande und vier Beamte, fest. Das Ziel der UCPFV, damit Verhandlungen mit der Regierung zu erwirken, wird jedoch nicht erreicht. Im Gegenteil. Im Morgengrauen des 16. Dezember schießen Polizisten von Hubschraubern aus mit Tränengasgranaten auf die Villistas. 200 Polizisten, ausgerüstet mit Schlagstöcken, Schußwaffen und kugelsicheren Westen, lösen die Straßenblockade auf und nehmen neun Personen fest. Nur zwei Stunden später wird Nueva Palestina von Polizei- und Armeekommandos besetzt. Die Uniformierten stürmen in die Häuser und durchsuchen sie. Sie stehlen Wertgegenstände und nehmen weitere acht Personen fest.
Am 17. Dezember machen sich Familienangehörige der Festgenommenen auf den Weg nach Tuxtla Gutiérrez, um sich nach dem Schicksal ihrer Verwandten zu erkundigen. Voller Befürchtungen steigen sie in den Bus in die Hauptstadt des Bundesstaates, denn sie wissen, was politischen Gefangenen in Chiapas droht. Auf der Polizeiwache wird ihnen zunächst jede Antwort verweigert, später jedoch erklärt, daß vier Gefangene schon ins Landesgefängnis Cerro Hueco verbracht worden sind. Die restlichen Personen, darunter Reyes Penagos Martínez und Julieta Flores Castillo, würden sich noch in der Wache aufhalten. Die von der Gruppe vorgetragene Bitte, sich von der körperlichen Unversehrtheit ihrer Verwandten überzeugen zu dürfen, wird abgelehnt. Stattdessem teilen die Beamten laut einer am 22. Dezember von Gregoria Penagos Roblero gegenüber der Menschenrechtsorganisation Yax'Kin gemachten eidesstattlichen Erklärung mit, daß sie auf weitere »Anweisungen der Herrin von Liquidambar«, Marianne Schimpf-Hudler, warten. Diese wird später in Begleitung ihres Gatten Laurenz Schimpf-Hudler auf der Polizeiwache gesehen.
Ohne ihr Ziel erreicht zu haben, kehrt die Gruppe der Angehörigen nach Nueva Palestina zurück. Aus Befürchtungen ist mittlerweile quälende Angst und Unsicherheit geworden. Wo sind ihre Angehörigen geblieben? Was geschieht mit ihnen in diesem Augenblick? Und wie lautete die »Anweisung« Marianne Schimpf-Hudlers an die Polizisten? Zwei Tage später gibt eine Radiomeldung bekannt, Reyes Penagos Martínez sei »bei einem Gefecht zwischen der Polizei und Campesino-Gruppen ums Leben gekommen.« Der den Angehörigen übergebene Leichnam Reyes Penagos Martínez' ist übersät mit Folterspuren - verbrannte Haut, Einschüsse, Knochenbrüche. Niemand, der den furchtbar zugerichteten Leichnam gesehen hat, glaubt an die offizielle Version des angeblichen »Feuergefechts«. Alle sind sich sicher: Reyes Penagos Martínez wurde von der Polizei gefoltert und ermordet. Und noch immer sind die anderen verhafteten UCPFV-Mitglieder nicht aufgetaucht. In Nueva Palestina herrscht zum Jahreswechsel 1995/96 Verzweiflung.
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