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»Ich bin nicht stumm geblieben«

Julieta Flores Castillo lebt mit ihrem Mann, den Kindern und Eltern in Nueva Palestina. Wie alle anderen im Dorf arbeitet die Familie auf dem Ackerland des Ejidos. Julieta Flores Castillo ist Anfang zwanzig, doch wirkt sie älter. Folter und Haft in verschiedenen Gefängnissen haben deutliche Spuren hinterlassen:

»Am 15. Dezember 1995 um zwei Uhr nachmittags besetzten wir die Landstraße an der Brücke im Dorf. Es waren alles Bauern aus der Gegend, die sich an der Blockade beteiligten. Alles verlief friedlich. Aber am nächsten Tag, dem 16. Dezember, um sechs Uhr morgens kamen dann die Seguridad Pública und die Policía Judicial.

Um 6.30 Uhr begannen sie, Tränengasgranaten abzufeuern. Die Polizei nahm jetzt Leute fest, auch mich. Außerdem meinen Vater Enrique Flores, den Compañero Alberto aus Piedra Blanca und noch sieben weitere. Später wurden noch Reyes Penagos Martínez und andere Compañeros festgenommen. Sie brachten uns in das Quartier des Militärs nach Jaltenango. In der Kaserne haben sie uns vier, meinen Vater, mich, Reyes Penagos und Adalberto in einem Zimmer eingeschlossen. Mich haben sie nicht geschlagen, aber die anderen wurden verprügelt. Um 16Uhr transportierten sie uns dann alle zusammen von Jaltenango nach Tuxtla, wo wir etwa um 21 Uhr ankamen.

Um 1.30 Uhr in der Nacht begannen sie, uns einen nach dem anderen zu verhören. Zuerst haben sie meinen Vater aus dem Zimmer geholt. Er heißt Enrique Flores González und ist 65 Jahre alt. Anschließend haben sie mich herausgeholt. Sie haben angefangen, auf mich einzuschlagen. Sie haben mir blaue Flecken an den Armen, an den Beinen und auf dem Rücken geschlagen. Sie haben mir Elektroden angelegt und gefragt: ''Wer ist es, der hier die Leute organisiert? Sind sie von der EZLN? Wieviele sind es? Woher kommen die Waffen?''. Ich habe ihnen gesagt, daß ich von nichts weiß und daß sie mich besser töten sollten und aufhören sollten mich zu schlagen. Dann sagten die Judiciales: ''Du weißt es. Du bist die Anführerin, die hier alle Leute aufwiegelt.'' Ich antwor-tete: ''Das stimmt nicht.'' Es waren fünf Judiciales um mich herum und sie riefen: ''Doch, Du bist die Anführerin.'' Aber ich sagte ihnen nichts. Dann verbanden sie mir die Augen und ich sah nichts mehr. Sie legten zwei Elektroden an meinen Brüsten an. Zwischen meinen Beinen haben sie mich mit den Elektroschocks auch verbrannt. Dann sagte der Kommandant zu den Judiciales, daß sie mich jetzt in Ruhe lassen sollten, weil sie sonst Probleme bekommen könnten. Er hatte Angst, aber die anderen Judiciales hatten keine Angst. Sie wollten unbedingt etwas aus mir herauspressen. Aber ich weiß von nichts.

Dann habe ich angefangen zu weinen. Die Judiciales schrien mich an: ''Wenn Du jetzt nicht reden willst, fährst Du zur Hölle!'' Ich antwortete: ''Dann bringt mich um. Ich weiß von nichts.'' Sie fragten mich auch nach der Entführung von Dr. Rito Solis. Davon weiß ich aber auch nichts. Die UCPFV wird beschuldigt, ihn entführt zu haben. Aber es stimmt nicht, was sie sagen. Sie fragten mich, wo der Leichnam von Rito Solis sei. Aber ich antwortete ihnen immer wieder, daß ich von nichts weiß. Jetzt schrien sie auf mich ein: ''Du Hurentochter weißt es. Du sagt uns jetzt, wo der Leichnam von Rito Solis ist.'' Ich weinte nur noch. Sie schlugen mich überall, bis der Kommandant sagte, daß sie mich jetzt in Ruhe lassen sollten.

Später verbanden sie mir wieder die Augen und füllten meine Nase mit rotem Pfeffer. Meinen Kopf tauchten sie in einen Wassertank. Sie drückten meinen Kopf immmer wieder unter Wasser. Dann nahmen sie mir die Augenbinde ab und ich konnte gehen. Beim Hinausgehen riefen sie den nächsten zu sich ins Zimmer. Das war Reyes Penagos Martínez.

Die Folterungen dauerten drei Tage lang. Am Montag morgen holten sie uns dann aus dem Gebäude. In einem grauen Kombi mit Vorhängen an den Fenstern fuhren sie uns an einen verlassenen Ort. Ich weiß nicht, wohin sie uns brachten. Zuerst mußte Reyes Penagos aus dem Auto aussteigen. Etwa zehn Meter vom Auto entfernt, begannen sie ihm Fragen zu stellen. Aber er antwortete ihnen nicht. Sie begannen ihn zu foltern. Sie schlugen ihn mit einem Brett mit Nägeln und einem Stock. Sie spritzten ihm Drogen. Danach fing Reyes Penagos an zu sprechen, aber er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Er war nicht mehr er selbst. Er sprach wie ein Kind. Jetzt sagte er, daß er von der Entführung Rito Solis wüßte. Er beschuldigte sich selbst, ohne wirklich schuldig zu sein. Er sagte es, damit sie aufhörten, ihn zu prügeln, weil es schlimm war, wie sie ihn quälten.

Abbildung 5.1: Friedensgruppen wehren sich gegen Angriffe gewalttätiger Grossgrundbesitzer vor der Diözese in San Cristóbal
Friedensgruppen wehren sich gegen Angriffe gewalttätiger Großgrundbesitzer vor der Diözese in San Cristóbal, 19.35k

Nach Reyes Penagos holten sie meinen Vater aus dem Auto. Mit verbundenen Augen tauchten sie ihn in einem kleinen Tümpel unter. An seinen Haaren hielten sie ihn fest. Das Wasser war grün vor Dreck und wer weiß wie lange das Wasser schon in dem Tümpel stand. Dann wurden mein Vater und ich nach Tuxtla gebracht.

Um 16 Uhr wurde uns von einem Judicial mitgeteilt, daß Reyes Penagos bei einer Auseindersetzung zwischen Bauern und der Polizei gestorben sei. ''Das ist eine Lüge, Ihr habt ihn ermordet!'', erwiderte ich.

Am nächsten Tag sagten sie uns, daß sie uns nun ins Gefängnis von Cerro Hueco bringen würden. Dem Kommandanten sagte ich: ''Ihr habt Reyes Penagos umgebracht, ihr Mörder!''. Etwa um 13.30 Uhr kamen wir im Gefängnis von Cerro Hueco an. Es war jetzt Dienstag. In den Nachrichten wurde berichtet, daß Reyes Penagos in einem Gefecht zwischen Bauern und der Polizei gestorben sei. Aber das ist eine Lüge, sie haben ihn zu Tode gefoltert. Er war unschuldig, aber durch die Prügel hat er sich selbst falsch beschuldigt. Wir sind uns sicher, daß die Judiciales ihn ermordet haben.

Als sie mich am Dienstag freiließen, konnte ich es kaum glauben. Der Procurador de Justicia selbst und fünf Angestellte der Regierung kamen, um mich freizulassen. An der letzten Schranke sagte der Procurador zu mir: ''Gut Julieta, hier hast Du Deinen Freilassungsschein. Du bist absolut frei. Aber ich will, daß Du Dir keine Probleme mehr machst. Ich hoffe, Du kommst nicht mehr nach Cerro Hueco.'' Daraufhin erwiderte ich: ''Ich habe überhaupt kein Problem. Die Regierung sucht die Probleme mit den Bauern. Die Regierung hilft den Reichen und nicht den Bauern. Aber Ihr habt mir Schlechtes beigebracht. Jetzt werde ich mich der Organisation anschließen, um für die Aufklärung des Mordes an Reyes Penagos zu kämpfen.'' Da blieb der Procurador stumm stehen. Er hatte nicht erwartet, daß ich ihm so antworten würde. Draußen vor dem Gefängnis stand eine Gruppe von Compañeros, um mich zu empfangen, und sie begann zu applaudieren, weil ich nicht stumm geblieben bin.«

Julieta hat ihre Geschichte beendet. Ein drückendes Schweigen erfüllt den Raum. Später wird uns erzählt, daß sie während der Folterungen mehrmals vergewaltigt wurde.



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