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Kulturoffensive an der Heimatfront

Im Herbst '93 beklagte Iris Radisch in der Zeit, daß nur wenige namhafte Schriftsteller, Theaterleute und Künstler »sich selber ein Bild von dieser Stadt gemacht und über sie geschrieben haben«. Susan Sontag machte die »Shopping-Ära« dafür verantwortlich, daß nicht mehr Intellektuelle nach Sarajevo pilgerten. Auch wenn der Aufruf Sontags und Goytisolos nicht den gewünschten Erfolg hatte, so blieb er doch an der kulturellen Heimatfront nicht ungehört. »Welt-Moral« lautete der bezeichnende Titel einer Ausstellung, die 1994 in Basel gezeigt wurde und deutlich machte, daß die Künstler wieder Betroffenheit und Weltschmerz auf die Tagesordnung gesetzt haben, wie z.B. Jenny Holzer, deren mit Blut bedrucktes Insert im Magazin der Süddeutschen Zeitung als Exponat zu bewundern war. Jenny Holzer hatte sich von Berichten über die Massenvergewaltigungen an muslimischen Frauen inspirieren lassen: »Da, wo Frauen sterben, bin ich hellwach« stand auf der Titelseite des Magazins. Hellwach wurden daraufhin vor allem Holzers Kollegen, denn ihr Happening auf Hochglanzpapier hatte für viel Furore gesorgt.

Vielleicht weil die ständige Rede vom »Völkermord an den Bosniern« irgendwann einmal jedem verdächtig vorkommen muß, weil beim zehnten oder elften Mal niemand mehr so recht daran glauben mag, verlegten sich die Kulturschaffenden auf eine andere und, wie sie dachten weit, schlimmere Art von »Völkermord«, den Völkermord an der »jahrhundertealten Kultur des bosnischen Volkes«. Das war die Quintessenz dessen, was das Starensemble in Sarajevo schon seit längerem predigte. Dieser Gedanke wurde in einem »Offenen Brief zur Gründung einer Bosnischen Bibliothek« historisch zurückverfolgt: »In diesem Jahrhundert hat Europa schon einmal die massenhafte und folgenschwere Vernichtung seiner Kultur erlebt ... In Europa wird heute wiederum eine einzigartige Kulturlandschaft vernichtet.« Dieser »geistige Kahlschlag« müsse »verhindert«, »den Vertriebenen« dürfe nicht »die unmittelbare Verbindung zu ihren Kulturen und dadurch zu ihrer Erinnerung und Identität gekappt werden«.

Aus Sorge um die Vernichtung der »einzigartigen Kulturlandschaft« rief man zahlreiche Initiativen ins Leben. Im Theater am Halleschen Ufer wurde ein Erlebnisbericht mit dem Titel »Mirad - ein Junge aus Bosnien« aufgeführt. Die Schaubühne in Berlin veranstaltete unter dem Titel »Memozid Sarajevo« einen Leseabend, auf dem u.a. Goytisolos »Notizen« vorgetragen wurden. »Eine fast zeremonielle Veranstaltung«, schrieb die taz, »bei der eine Komposition von Giacinto Seelsi eine hinduistisch-meditative Grundstimmung vermittelte.« Das Scharoun Ensemble beteiligte sich an einem »Benefiz-Konzert für Sarajevo«. Das Gripstheater brachte Ende April '93 das Stück »Bosana« auf die Bühne, von dem die taz berichtet: »Hier erzählen Betroffene tatsächlich selbst.« Im Januar '94 ließ sich das Gripstheater von Erich Rathfelder die »richtigen Kontakte« knüpfen, um »mit einem aktuellen Stück eine eigene Position zu diesem Balkan-Massaker zu beziehen«. »Bosana« war Pflichtveranstaltung für Schulklassen mit Schülern ab 13 Jahren. Großes Echo fand vor allem eine »Kunstauktion für Künstler in Sarajevo«, die von 149 in- und ausländischen Künstlern und Galerien unterstützt wurde und einen Erlös von 557600,- DM erbrachte. Auch der Berliner Senat für kulturelle Angelegenheiten wollte etwas für die Künstler in Sarajevo tun. 94000,- DM wurden gesammelt dank eines etwas kryptischen Aufrufs: »Mit dem Leiden Sarajevos leidet ein Stück unserer europäischen Kultur. Kultur darf nicht sterben, nicht in Sarajevo.«

Der diesen Vorstellungen zugrunde liegende Begriff Kultur wird als eine Art Rezept für Völkerverständigung gedacht. Mit ein bißchen mehr Kultur auf der Welt würde tiefer Friede eintreten, und wenn nur genügend Theaterinszenierungen, Konzerte, Ausstellungen und Dichterlesungen stattfinden würden, dann hätte der Krieg keine Chance mehr. Als Beleg für diese These prangern die Künstler den »Völkermord« an der Kultur an, den sie offensichtlich mehr verabscheuen als alles andere. Wenn Kultur aber schon zur Person erklärt wird, um einen Mord an ihr begehen zu können, was muß sie dann erst sein, wenn sie einem »Völkermord« zum Opfer fällt? Eine sich in karnickelartiger Geschwindigkeit vermehrende Volkskultur? Hätte dann der »Völkermord« nicht eine gewisse Berechtigung, wenn er uns von Schuhplattlern und den Wildecker Herzbuben befreien würde?



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