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Mon Jun 11 11:21:57 2001
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»Geht die Kultur, kommt die Gewalt«, orakelte Gerhard Zwerenz in Halle zum Auftakt des dreitägigen »Kongresses zur Verteidigung der Kultur« Mitte Juni 1994. Schon die als Reprise angelegte Veranstaltung selbst verriet, daß der Erfolg ein ähnlicher sein würde wie der des historischen Vorläufers 1935 in Paris. Daß die Volksfrontpolitik betreibenden Kommunisten für die »Verteidigung der Kultur« eintraten, haben die Surrealisten kritisiert, weshalb ihnen eine Beteiligung an diesem Kongreß verwehrt wurde. André Breton warf den Veranstaltern vor, daß es nicht genügt, lediglich Abscheu vor dem Faschismus zu bekunden, und insofern ist sein Einwand auch heute noch aktuell. Angesichts nämlich des in Halle einen Monat zuvor von zehn »Sieg Heil« grölenden Männern krankenhausreif geschlagenen Asylbewerbers aus dem Tschad mutete es gespenstisch an, ausgerechnet Kultur als besonders schützenswertes Gut zu betrachten. Was immer sich das PEN-Mitglied Zwerenz gedacht haben mag, Kultur ist kein die Gewalt ausschließendes Prinzip, und oft sind es die Künstler, die eine erstaunliche Blutrünstigkeit an den Tag legen. Gerade im vielgepriesenen multikulturellen, multiethnischen und multinationalen Sarajevo wurde der tiefere Sinn der kulturellen Friedenmission deutlich. Hier hatte sich die Gewalt keineswegs beschämt verdrückt, als die Kultur mit Susan Sontag, Juan Goytisolo, André Glucksmann und Bernard-Henri Lévy Einzug hielt, hier lautete die Formel vielmehr »Kommt die Kultur, kommt auch die Gewalt«. Die Künstler und Schriftsteller waren vor allem deshalb nach Sarajevo gereist, um die Bewohner der Stadt mit Durchhalteparolen aufzumuntern. Sie stimmten Heldengesänge auf die großartige Moral der Bevölkerung an und jauchzten ein Hohelied auf Sarajevo, der einzigartigen und lebendigsten Stadt in Europa.
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