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Patriotismus als Frage der geistigen Hygiene

Weil aber den Linken oder denen, die sich dafür halten, historisch das Stigma des »Vaterlandsverräters« anhaftet, präzisierte Habermas seine Idee vom wahren Patriotimus in der Zeit (vom 30.3.90) unter der Überschrift: »Was wird aus der Identität der Deutschen?« Ja, was wird daraus? fragt er forschend im Fortbildungsseminar für Oberstudienräte und hat auch gleich eine Antwort zur Hand: »Die Frage ist offen.« Dann untersucht Habermas die Bundesbürger auf ihre politischen Systemmerkmale. »Fehlender Nationalstolz« wird ihnen attestiert, helfen würde vielleicht ein bißchen mehr »Verfassungspatriotismus«, aber alles in allem ist Habermas mit dem Gesundheitszustand des Patienten zufrieden: »Inzwischen haben sich auch Bundesbürger dem westlichen Normaltypus nationaler Identität angenähert.« Alles eben nur »eine Frage der geistigen Hygiene«, meint Habermas.

Daß Habermas nationale Identität als Surrogat für die von der Massengesellschaft nivellierten individuellen Eigenschaften zu Winterschlußpreisen verhökert, weil die Leute, wenn sie schon keinen Charakter besitzen und weder mit sich noch mit ihren »Mitbürgern« viel anzufangen wissen, sich dann wenigstens als Deutsche verstehen sollen, läßt die Bedeutung von Habermas' Verfassungspatriotismus in einem etwas anderen Licht erscheinen. Beginnen die Deutschen mit nationaler Identität aufzurüsten, d.h. nicht nur qua Geburt Deutsche zu sein, sondern sich auch als Deutsche zu fühlen, weil sie sonst den Unterschied zum Ausländer nicht mehr erkennen können, dann verlagert sich die Bedeutung des Habermaskonstrukts auf den Patriotismus. Der Wahn, unbedingt eine nationale Identität haben zu wollen, paart sich mit der fixen Idee, sich zusammenrotten zu müssen, um sich gegen die Unzahl von Feinden zu wehren, die Augstein während der Wiedervereinigung in seinen Kommentaren erfand.

Ins Günter-Grass-Deutsch übersetzt lautete der »nationales Selbstbewußtsein« einklagende Habermas folgendermaßen: »Wir kommen an Auschwitz nicht vorbei. Wir sollten, so sehr es uns drängt, einen solchen Gewaltakt auch nicht versuchen, weil Auschwitz zu uns gehört, bleibendes Brandmal unserer Geschichte ist und - als Gewinn! - eine Einsicht möglich gemacht hat, die heißen könnte: Jetzt endlich kennen wir uns.« Daß die Deutschen Auschwitz zur eigenen Seelenerforschung nötig haben und heute als Gewinn verbuchen können, ist die Botschaft, die Grass seinen geduldigen Lesern vermittelt. In der Pose des Verkünders von ewigen Wahrheiten und Glaubenssätzen hat ihn sein heroisches Engagement überlistet, und vielleicht aus diesem Grund läßt es ihm keine Ruhe: Noch sei kein Ende mit dem Schreiben nach Auschwitz abzusehen, droht er niemand geringerem als dem »Menschengeschlecht«. Die Menschheit ist gewarnt, Grass hat es ihr ins Poesiealbum der Deutschen, der Zeit, geschrieben, weshalb sich niemand beschweren könnte, wenn Jugendliche, würden sie Grass lesen, wegen seiner dröhnende Leere und hohle Moral ausstrahlenden Rhetorik nichts mehr von Auschwitz wissen wollen.

Vor dem Massiv dieser ebenso gewichtigen Argumente wie Personen entschied sich der Hobbyhistoriker Kohl für die von Grass gesponserte Habermassche Version, weil er begriffen hatte, daß sich die von Habermas verteidigte »Einzigartigkeit von Auschwitz« und das von Grass behauptete »Auschwitz als Gewinn« besser zur unverwechselbaren Identitätsausstattung der Deutschen eignet als ein bloß vergleichbares und damit austauschbares Ereignis, das keinen Anspruch auf Originalität erheben kann und die Deutschen zu bloßen Nachahmungstätern der laut Nolte von den »Asiaten« erfundenen Massenvernichtung stempeln würde. Damit wäre Auschwitz bewältigt und man könnte sich wieder nationalen Aufgaben zuwenden, dürfte sich Kohl gedacht haben. Und hatte das nicht schon lange vorher auch der Nationaldichter Martin Walser in Worte gefaßt? Er hatte: »Wenn wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Aufgaben zuwenden.«

Hinter der Betonung der Einzigartigkeit von Auschwitz verbirgt sich aber gerade bei jenen, die bei jeder Gelegenheit darauf herumreiten, weniger die Tatsache, daß Auschwitz ein System zur Vernichtung von Menschen war, die weder mit dem Krieg noch mit den Tätern irgendetwas zu tun hatten, als vielmehr eine Aura des Schreckens, eine Sakralisierung des Unbegreiflichen. Diese Aura schließt jedes Verstehen aus, sie macht aus dem Unbegreiflichen ein Prinzip und reduziert jede Reaktion auf Betroffenheit, darauf, daß Auschwitz ganz schrecklich gewesen wäre, so wie eben die Nahkampfbedingungen im Sommerschlußverkauf auch ganz schrecklich sind.

Die Folge davon ist, daß man hinter allen möglichen Bürgerkriegen und Massakern ein neues Auschwitz heraufziehen sieht wie im jugoslawischen Bürgerkrieg, oder wie seit 1989 auch wieder in Deutschland, als Jürgen Fuchs in den Stasi-Akten ein »Auschwitz in den Seelen« entdeckte, und Konrad Weiß in Dresden »Über ein Land auf dem Weg zu einer neuen Identität« zu Protokoll gab: »Auch die SED war eine Partei des menschenverachtenden Terrors. Der weiße Strich auf dem Bahnsteig war nicht minder zynisch als der Spruch ''Arbeit macht frei'' an den Toren der Konzentrationslager.« Hat sich die Transformation der Einzigartigkeit von Auschwitz in »nationales Selbstbewußtsein« erst einmal vollzogen, wird es Habermas möglich, die Vergangenheit mit versöhnlichen Augen zu sehen, wenn er schreibt, daß man sich als »Nachgeborene« »in der moralischen Bewertung von Handlungen und Unterlassungen während der Nazi-Zeit« zurückhalten sollte, ein Argument, dem jeder Nazi, aber auch alle, die niemals welche gewesen sein wollen, nur beipflichten kann.

Und als selbst Manfred Stolpe seiner Freunde vom 20. Juli gedachte, die ähnlich wie er mit dem weißen Strich auf dem Bahnsteig zu kämpfen hatten, und in Potsdam eine Rede mit dem Titel hielt: »Die Bedeutung des antifaschistischen Widerstands für die nationale Identität der Deutschen«, da konnte sich der Verfassungspatriot Habermas entspannt in seinen Sessel zurücklehnen und zufrieden auf sein Werk blicken.

Die deutsche Identität war also historisch und politisch schon mit einem 1A-Gütesiegel versehen worden, als die Wiedervereinigung mit dem Ruf »Wir sind ein Volk!« die im Westen eher in Intellektuellenblättern und Zeitschriften des gehobenen Mittelstandes geführte Diskussion auf einen simplen Nenner brachte. Als die vergreiste und zahnlose DDR-Nomenklatura, dessen »gutgeölter Apparat« laut FAZ übrigens deshalb nutzlos war, weil ihn kein »Identitätsgefühl« durchdrang, in einem Akt falsch verstandener Menschlichkeit gegenüber dem grölenden Mob in Leipzig den Löffel abgab, hielt die Zeit, angesteckt vom Überschwang nationaler Größe, eine Ansprache, bei der man das Gefühl bekam, Goebbels sei wieder auferstanden, dabei war es nur Roland Phleps: »Hier und jetzt aber sollten wir, die wir uns Deutsche nennen, darüber nachdenken, was uns berechtigt, uns als Deutsche zu bezeichnen und wozu uns dieses Deutschsein verpflichtet. Wir können und wollen aus der Geschichte nicht aussteigen, die einen Teil auch der individuellen Identität ausmacht ... Wir sollten unserer Zugehörigkeit zu einem Volk dankbar und zugleich hilfsbereit bejahen. Die Deutschen, die jetzt aus dem Osten zu uns kommen, haben die wirklichen Opfer gebracht.«



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