Inhalt | Wie die Identität unter die Deutschen |
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Erst mit der Wiedervereinigung aber begann der Siegeszug der Identität, erst jetzt nämlich hatte der Letzte begriffen, was es mit dem etwas wolkigen Begriff auf sich hatte. Daß es mit Volk, Vaterland und Nation zu tun hatte, wußte man zwar schon vorher, aber gerade deshalb konnte man im Westen so wenig damit anfangen, weil seit Gorbatschow die Bedrohung aus dem Osten fehlte und nicht einmal die Bundeswehr einen gleichwertigen Gegner ausmachen konnte, der die Gefahr hätte darstellen können, die notwendig ist, um aus der in Einzelinteressen zerfallenden Bevölkerung eine nach nationaler Identität grabende Volksgemeinschaft zu machen.
Als die Mauer fiel, hatte man sich plötzlich um fast ein Drittel der Fläche und der Einwohner vergrößert, ein Grund für Bild, in Schwarz-Rot-Gold zu erscheinen. Über Nacht, so glaubte man, war man reich geworden und durfte den Traum vom neuen und unberührten Land träumen, das einem ohne Zutun in die Hände gefallen war. Aber die patriotischen Gefühle hatten nur kurzfristig Konjunktur, und schon die Feiern zum offiziellen Zusammenschluß der deutschen Staaten zeichneten sich mehr durch Überdruß als durch Überschwang aus. Der Traum von Macht, Reichtum und Einfluß hatte sich als Illusion herausgestellt, und die kurze Euphorie war teuer erkauft, als, statt Rendite und Profite zu kassieren, Solidarzuschläge und Sanierungsabgaben gezahlt werden mußten, um den »Aufschwung Ost« zu finanzieren.
Mit dem Zugewinn aus dem Osten sind die Deutschen auf Jahre hin unschlagbar, sagte Beckenbauer nach dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1990. Aber bereits zwei Jahre später verlor man das Europameisterschaftsendspiel ausgerechnet gegen die Provinzfußballer des kleinen Dänemark, das sich nur durch einen Zufall für die Teilnahme qualifiziert hatte. Wir können uns nur selber schlagen, hieß es dann Böses ahnend bereits vor dem Ausscheiden 1994 (welches umso bitterer war, als man gegen das unterentwickelte Bulgarien verlor und die Vorbereitung der bulgarischen Spieler hauptsächlich im Verspeisen von Pommes Frites bestand, also gleich zwei Gründe für die deutschen Moderatoren, am Star der Bulgaren Stoitschkow kein gutes Haar zu lassen), und das hörte sich nicht nur wie eine präventive Entschuldigung an, sondern entsprach auch in der von Zwangsoptimismus überspielten Depression dem zerrütteten Zustand der Nation, wo ja auch angesichts unübersehbarer ökologischer Schäden und Kombinatsruinen »blühende Landschaften« beschworen wurden. Eifersucht, Neid und Mißgunst vermiesten also schon vorher die Stimmung des »glücklichsten Volks auf Erden«, weshalb von der gemeinschaftsstiftenden Identität nur Bruchstücke übrigblieben, nicht zu verwechseln mit »gebrochener Identität« oder mit »Identitätsbrüchen«.
Die Verarbeitung dieser Enttäuschungen, die viele an der großen und einzigen Identität zweifeln ließ, nahm nun unterschiedliche Formen an. Vor allem im Westen hat man nach dem Wiedervereinigungsflop damit begonnen, sein Heil in der ganz perönlichen Identität zu suchen, d.h. seine Neurosen zu pflegen, weshalb die Identität in allen möglichen Kombiangeboten eine unglaubliche Konjunktur zu verzeichnen hat. Sie wurde zu einem Modeartikel, in den man geradezu vernarrt ist. War man früher bloß schwul, lesbisch oder heterosexuell, so trägt man heute »schwule« oder irgendeine andere »Identität« wie eine Auszeichnung für besondere Verdienste. Wenn es darum geht, »die kommerzielle Vermarktung typischer Oktoberfestsouvenirs in rechtlicher Hinsicht abzusichern«, dann steht gleich die »Identität des Oktoberfestes in allen Kontinenten« auf dem Spiel. Identität ist in die Werbung eingesickert, spukt als »Identitätskrise der Neutrinos« auch in den »Natur und Wissenschaft«-Spalten der FAZ umher, und der Spiegel fragt den Trainer von Borussia Dortmund, ob der Klub bei der verfehlten Einkaufspolitik von Stars »nicht seine Identität aufs Spiel« setzt. Das Tempolimit ist nicht bloß ein Streit in der Bundestagsdebatte, sondern ein »wichtiger Identitätspunkt der SPD«, und wenn im Tagesspiegel irgendein öder Riemen über die Geschichte einer Stadt zu lesen ist, dann kann man sicher sein, daß einer oder etwas »auf der Suche nach der eigenen Identität« ist. Als der Piper-Verlag an den schwedischen Medienkonzern Bonnier verkauft wurde, bestand natürlich die größte Befürchtung in der »Wahrung seiner Identität«. Der Film »Erdbeer und Schokolade« wurde von der Jury der Evangelischen Filmarbeit zum Film des Monats Oktober '94 ernannt, weil darin die gelungene Verknüpfung der »Suche nach politischer und sexueller Identität« gezeigt worden sei. Und selbst die in der Politik nicht gut angesehenen Nichtwähler werden aus ihrem identitätslosen Dasein errettet und bekommen »eine ernst zu nehmende Identität« verpaßt. Und wem das alles noch nicht reicht, der wird in einer beliebigen Ausgabe der Zeit fündig, wo eine »späte Identität« immer noch besser als keine ist und man mit Vorliebe über eine »Identität im Wandel« grübelt.
Als »identitätslos« wird einer bezeichnet, der schüchtern und farblos wirkt. Um eine rein private Identitätsmarotte handelt es sich hier jedoch deshalb nicht, weil jeder damit hausieren geht und auch danach beurteilt wird. Aus der Identität als Begriff einer Bildungselite, die in ihr höhere Werte und erhebende Gefühle ausfindig machen wollte, wurde eine Weltanschauung für viele einzelne, die ihr Selbstwertgefühl aus ihrem Beruf, einem persönlichen Defekt, Wahn oder sonst irgendeiner Eigenschaft, die sie von anderen unterscheidet, ziehen. Als Demokratisierung des Elends läßt sich deshalb bezeichnen, was die Persönlichkeit des einzelnen hervorheben sollte. Kein Wunder also, daß der Begriff »Identität« vor allem auch in Randgruppen Konjunktur hat. Unter dem Titel »Filme gegen Identitätsverweigerung« berichtete die taz (vom 21.10.94) über das Berliner Lesben-Filmfestival: »Identität steht neben Sex ganz oben, und unter Identität ist nicht nur Gender und sexuelle Beziehungen zu verstehen, Identität splittet sich in alle möglichen Unds ... Michal Goralski setzt sich mit ihrer jüdischen Identität auseinander ... Anne Pratten zeigt ähnliche Kategorien von erzwungenen Identitätskorsetten ... Katholizismus scheint in der Identitätenreihe zum Thema Nummer eins geworden zu sein.« Wird wohl so sein.
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