Exemplarische Antifa-Aktion in Bochum
Im Dezember 1996 wurde bekannt, dass die ehemalige stellvertretende Oberaufseherin des Vernichtungslagers Majdanek, Hermine Ryan, aus ihrer Haft in Mühlheim an der Ruhr entlassen worden war. Ihre Strafe war von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Dortmund zur Bewährung ausgesetzt worden. (SZ 16.12.1996)
Aus der Beilage der Süddeutschen Zeitung vom 13.12.1996 ging weiter hervor, dass sie, betreut durch die SS-Organisation „Stille Hilfe“, mit ihrem Mann in Bochum-Linden lebte.
Im darauf folgenden Jahr 1997 nahmen autonome Antifas der „kleinen Strolche“, Mitglieder der „Roma UnterstützerInnen Gruppe“ und diverse Autonome ihre Anwesenheit in Bochum zum Anlass die Shoa und das Schweigen über den organisierten Massenmord zu thematisieren.
Heraus kam eine Vielzahl von mit einander abgestimmten Aktionen, die sich alle in Bochum-Linden in unmittelbarer Nähe zum Wohnort der NS-Massenmörderin abspielten.
Um an diese exemplarische Aktionsform zu erinnern, veröffentlichen wir hier den damaligen Artikel von Gaby Hommel aus der Zeitschrift „Konkret“ 8/1997. Sowie einige Fotos.
Weitere Archivmaterialien zur Aktion hat uns freundlicher Weise die autonome Antifa „die kleinen Strolche“ überlassen. Auf Anfrage kopieren wir sie gerne.
Artikel aus der Zeitschrift Konkret 8/1997:
„Seid Ihr Juden?“
Früher trug sie eisenbeschlagene Stiefel und Peitsche; jetzt sitzt sie im Rollstuhl und kann kaum noch sprechen. Damals war sie an der Vernichtung einer Viertelmillion Menschen in Majdanek beteiligt; heute gilt sie als bemitleidenswerte Frau. Welche Möglichkeiten gibt es, mit einer solchen Nachbarin umzugehen?
Aufgeworfen wird die Frage kurz vor Weihnachten letzten Jahres durch eine groß aufgemachte Reportage im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“; gefolgt von einem versteckten Bericht im Manteltteil der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“, dem Monopolblatt im Ruhrgebiet. „Hast Du gelesen, dass diese ätzende KZ-Scherge hier in Bochum haust?“ will ein Punk in der Straßenbahn wissen. „Da müssen wir mal drüber diskutieren“, heißt es auf einem Fest der autonomen Szene zu Sylvester. Während zwischen den Ständen des Wochenmarktes in Linden, keine zehn Schritte von der Altenwohnung entfernt, in der die ehemalige SS-Aufseherin Hermine Braunsteiner seit ihrer Haftentlassung im April 1996 lebt, vor allem zu hören ist: „Warum wird die alte Frau nicht in Ruhe gelassen? Die hat ihre Strafe doch abgesessen.“
Fünfeinhalb Jahre lang dauerte der Prozess, mit dem von mehr als 1500 Männern und Frauen, die im Vernichtungslager Lublin/Majdanek ihre mörderische Arbeit taten, gerade einmal zehn vor einem deutschen Richtertisch erscheinen mussten. Die fünf männlichen Angeklagten, denen die Staatsanwaltschaft u. a. gemeinschaftlichen Mord in 1000 Fällen sowie die aktive Teilnahme an Massen-Exekutionen vorwarf, kamen mit Haftstrafen von drei bis zehn Jahren davon. „Krowa“, die Kuh, beschuldigt der Selektion von Frauen und Kindern für die Gaskammern, starb noch während des Verfahrens, Rosa Süß, der aufgrund des Todes von Zeuginnen nicht mehr nachgewiesen werden konnte, eine Frau und ein Kind erschossen zu haben, wurde freigesprochen. Hildegard Lächert, nach Aussagen einer ehemaligen Lagerinsassin die „widerlichste und brutalste SS-Lageraufseherin“ in Majdanek und von ihren Opfern nicht umsonst die „Blutige Brigitte“ genannt, konnte neben anderer grausamer Taten zur Last gelegt werden, dass sie einer hochschwangeren Frau das Kind von einem Schäferhund aus dem Leib hatte reißen lassen. Sie erhielt eine Freiheitsstrafe von zwölf Jahren. Während Hermine Braunsteiner, rechte Hand und persönliche Freundin der 1948 in Polen hingerichteten Oberaufseherin im Lager, berüchtigt für die Vorliebe, Gefangene mit ihren eisenbestückten Stiefeln niederzutreten und deshalb auch „die Stute“ genannt, zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Dreimal lebenslänglich hatte die Staatsanwaltschaft gefordert. U. a. wegen Mord in 1181 Fällen und Beihilfe zum Mord an 705 Menschen.
Die skandalösen Urteile, im Juli 1981 vom damals Vorsitzenden Richter der 17. Großen Strafkammer des Düsseldorfer Landgerichtes entgegen seiner persönlicher Rechtsauffassung, mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen gesprochen; Verhandlungsdauer und Prozessaufwand, die einmalig in der juristischen Verarbeitung von NS-Verbrechen in Deutschland sind; der Umstand, dass es das bislang einzige Verfahren gegen weibliche KZ-Bedienstete in der Geschichte der Bundesrepublik ist: Alles dies ist Thema einer Runde, die sich erstmalig Anfang Februar in einem Bochumer Kulturzentrum zusammenfindet. Und natürlich kommt auf den Tisch, was der aktuelle Anlass des Treffens ist. Nämlich die Freilassung jener Frau, die aufgrund der Charakteristika und besonderen Bedeutung des so genannten „Majdanek-Prozess“ zum Symbol für das Grauen in den KZs geworden ist. Einer unbelehrbaren Täterin, die ihre persönliche Schuld nie eingestanden oder gar bereut hat sondern in ihrem Schlusswort vor dem Düsseldorfer Schwurgericht sagte: „Ich werde mein ganzes restliches Leben dran zu tragen haben, dass ein Schicksal mich zum Glied einer Kette machte, die zu zerreißen ich zu klein und deren Lauf aufzuhalten, ich nicht fähig war.“
Als jüngstes von sieben Kindern 1919 in Wien geboren, stammt Hermine Braunsteiner aus „einfachen Verhältnissen“. Nach eigenen Angaben wollte sie ursprünglich Krankenschwester werden, landete dann jedoch nach verschiedenen anderen Hilfstätigkeiten als 20-jährige in einer Munitionsfabrik in Berlin. Von dort aus meldete sie sich als Aufseherin in das nahegelegene Konzentrationslager Ravensbrück. Drei Jahre später nach Majdanek versetzt, wurde sie binnen kurzen zur „Stellvertretenden Schutzhaftleiterin“ befördert, für ihre besonderen Verdienste in dieser Zeit mit dem „Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse“ ausgezeichnet und schließlich als Oberaufseherin ins Lager Genthin geschickt. wo ihr das Kommando über 14 SS-andere Aufseherinnen erteilt wurde. Bei Kriegsende floh sie nach Wien zurück, wurde kurzfristig verhaftet, wieder freigelassen und letztlich wegen der Misshandlung von Gefangen in Ravensbrück zu drei Jahren schwerem Kerker verurteilt. 1958 lernte sie den amerikanischen Soldaten Russel Ryan kennen, reiste mit ihm unbehelligt über die Kanada in die USA ein, wo das mittlerweile verheiratete Paar 1964 von Simon Wiesenthal aufgespürt wurde. Fast 10 Jahre brauchte es, bis die Bundesrepublik die Auslieferung beantragte; weitere fünf Monate bis sie vollzogen wurde.
„Für mich ist das purer Zufall, dass sie überhaupt geschnappt und verurteilt worden ist“ faßt ein Antifa-Aktivist seine Bewertung der strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern und Täterinnen zusammen. „Den meisten Nazi-Verbrechern ist doch überhaupt nichts passiert.“ Letzteres ist unstrittig in der Gruppe, die sich anlässlich des Zuzugs von Hermine Braunsteiner in die Stadt zusammengefunden hat. Ebenso der Fakt, dass sie vergleichsweise lange hinter Gittern gesessen hat. Hinzu kommt, dass die ehemalige „Stute von Majdanek“ heute eine 78-jährige, nach der Amputation eines Unterschenkels an den Rollstuhl gebundene, schwerkranke und vom Tode gezeichnete Frau ist. „Deshalb breche ich noch lange nicht in Tränen aus“ ereifert sich eine SDAJlerin und schlägt vor, Hermine Braunsteiner so lange auf die Bude zu rücken, bis sie die Koffer packt. Der Rest des Kreises macht deutlich, dass auch sonst niemand der Anwesenden vor Mitleid zerfließt, will aber weder „eine Oma die Treppe runterwerfen“ noch sich das Problem, eine NS-Massenmörderin zur Nachbarin zu haben, einfach vom Hals schaffen. Was hieße, sich dem unbeschreiblichen Horror des Nationalsozialismus genauso zu entziehen wie seinen Konsequenzen.
Das Lager Majdanek wurde 1941 auf Befehl Heinrich Himmlers erbaut und hieß offiziell „Kriegsgefangenenlager der Waffen-SS“. Tatsächlich wurden neben sowjetischen Soldaten, Polen und Polinnen, Roma und Sinti vor allem jüdische Menschen aus sämtlichen der von Deutschland besetzten Länder dorthin deportiert. Die Hälfte von ihnen, d.h. mindestens 250.000 Männer, Frauen und Kinder kam zu Tode. In einer der sieben Gaskammern, durch Erschießen, Erhängen oder Todesspritzen, durch Hunger, Krankheit oder Grausamkeiten des Wachpersonals. Ihre Knochen wurden zum Düngen der umliegenden Felder genutzt. Der Gestank verbrannten Menschenfleisches lag Tag für Tag über der Umgebung. Am 3. Novemer 1943, dem „Erntefest“ in Majdanek, kam der Geruch von frischem Blut dazu. Kniehoch stehend in Meter um Meter langen Gräben, welche die ersten der rund 17.000 Exekutierten an diesem Tag hatten ausbuddeln müssen. Frauen, die in die Gruben springen mussten, hielten ihre Kinder hoch über dem Kopf. Damit sie nicht sofort ertranken. Erst nach den Schüssen. Im Blut der Mutter.
Arbeitskreis „Gegen das Vergesse“ì nennen sich im Ergebnis-ihrer Diskussionen die wenigen Männer und Frauen, die über die Anwesenheit einer der Täterinnen in der Stadt nicht schweigend hinweggehen wollen. Zu ihrem Ziel erklären sie: „Wir wollen die Tatsache, dass Hermine Braunsteiner, die die Massenvernichtung im NS persönlich aktiv mitgetragen hat, hier lebt und leben kann. zum Anlass nehmen, uns an das Leben der verfolgten, vertriebenen und vernichteten Menschen zu erinnern. Wir wollen die Frage stellen, was ihr Tod für uns heute bedeutet und dazu beitragen, dass die Geschichte der Ermordeten und die Geschichte ihres Widerstandes gegen die Vernichtung auch hier ist.“ Als Mittel zum Zweck lässt sich die Gruppe eine ungewöhnliche Folge von Aktionen einfallen.
Es beginnt an Pfingstmontag. Abends gegen 22 Uhr treffen sich ein gutes Dutzend Personen auf dem Marktplatz von Bochum-Linden und projezieren großflächige Bilder an die Wand des gegenüberliegenden Hauses. Eine Serie zeigt Ausschnitte aus der Wirklichkeit von Majdanek, Wachtürme und Zäune, Appell und Selektion von Menschen; eine andere Reihe Szenen aus dem damaligen Linden, das Alltagsleben auf der Straße, jüdische Geschäfte, die arisiert wurden, Häuser, aus denen jüdische Familien vertrieben und deportiert wurden. Die Botschaft ist eindeutig und müsste auffallen. Doch drehen Passanten kaum den Kopf. Keines der zahlreichen Autos auf der verbeiführenden Straße bremst ab. Nicht einmal eine vorbeikommende Polizeistreife hält an, um nach einer Erlaubnis für die nächtliche Dia-Vorführung zu fragen.
An den folgenden sechs Tagen wird die Aktion wiederholt. Abend für Abend tauchen rund zwei Stunden lang die Bilder auf. Doch geschieht wenig anderes als beim ersten Mal. Zwar schlendern die Taxi-Fahrer von ihrem Halteplatz am Markt irgendwann einmal rüber und fragen, was das Ganze soll. Auch die Besitzer einer italienischen Eisdiele zeigen verhaltenes Interesse. Doch ein wirkliches Gespräch entwickelt sich genauso wenig wie mit einer Reihe von Jugendlichen, die kurz gucken, was geboten wird; dann aber schnell entscheiden: „Wie langweilig!“ Oder: „Das ist Kunst. Lass uns abhauen!“ Trotzdem scheint es nur auf den ersten Blick so, als würde das Geschehen und sein Hintergrund im Stadtteil nicht bemerkt. Denn allzu demonstrativ schauen viele der vorbeikommenden Leute zur Seite. Kaum vorstellbar ist, dass es die BewohnerInnen des als Projektionsfläche genutzten Hauses eine Woche in ihren Wohnungen hielt, wenn sie nicht bereits wüssten, was vorgeht. Ebenso die Rentner und Hundebesitzer, die mehr oder minder zufällig am Rande des Marktplatzes stehen bleiben, um ein Schwätzchen zu halten. Unter ihnen ist ein etwa 70-jähriger ehemaliger Bergmann. Mit seinem alterschwachen Cockerspaniel, den er „Daisy“ ruft, gehört er zu den ganz wenigen Menschen im Stadtteil, die sich auf ein längeres Gespräch einlassen. Dabei erzählt er, als junger Mann in einem der Lindener Geschäfte gearbeitet zu haben, die von ihren jüdischen Besitzern aufgegeben werden mussten. Zu einer Zeit allerdings, als es bereits in arischer Hand war. Und dann, nach Kriegsende, habe „der Jude“ plötzlich vor der Tür gestanden und Rückgabe bzw. Entschädigung gefordert. „Ja sagen Sie mal, wo kam der eigentlich noch her?“
In der Woche nach der Bilderschau werden im Stadtteil Hunderte von Plakaten verklebt. Darauf ist das Foto eines Mannes in gestreifter Häftlingskleidung zu sehen, der mit erregtem Gesicht, erhobener Hand und ausgestrecktem Finger auf einen Uniformierten zeigt, während ein zweiter Wachmann im Hintergrund die Szene mit mißtrauischem Blick verfolgt. Das ist alles. Keine Überschrift, kein Text erklärt die Bedeutung der in scharz/weiß und einem auffälligen Querformat erstellten Anschläge. Binnen kurzem hängen sie an fast jeder Hausecke, jedem Stromkasten, Laternenpfahl und Zigarettenautomaten, vor allem rund um den Komplex von Pflegeheim. Krankenhaus und dem Altenwohnheim, in dessen zweitem Stock Hermine Braunsteiner gemeinsam mit ihrem Mann in einer Zwei-Zimmer-Wohnung lebt. Das Haus ist in Besitz der evangelischen Kirche, doch werden die Wohneinheiten über das Sozialamt vergeben und von der Stadt finanziert.
„Ach, Ihr seid das schon wieder“, überrascht der Besitzer von „Daisy“ einen der Plakatiertrupps bei der Arbeit. Und wie bereits bei früheren Begegnungen mit ihm, ist der Mann an einem Schwatz interessiert. Worauf die Aktivitäten der Gruppe eigentlich hinauslaufen sollen, will er wissen. Und nachdem ihm dies zum wiederholten Male erklärt worden ist, kommt die entscheidende Frage: „Jetzt sagt mal ganz ehrlich. Seid Ihr Juden?“ In die gleiche Richtung denkt auch eine Gruppe türkischer Jugendlicher, denen zwei junge Frauen beim Anbringen der Plakate begegnen. „Ihr Juden und wir müssen zusammenhalten“, bringen sie ihre Überzeugung auf den Punkt.
Der nächste Schritt, die Lindener Bevölkerung mit der Tatsache zu konfrontieren, daß die Vergangenheit noch lebt und sich in Gestalt einer ehemaligen SS-Massenmörderin vor der Haustüre niedergelassen hat, erfolgt in Form einer Hauswurfsendung. Neben nüchternen Fakten über Majdanek und einer kurzen Information über ihre Person steht u.a. zu lesen: „Dass über die Anwesenheit von Hermine Braunsteiner in dieser Stadt hinweggegangen wird, steht für uns in einem engen Zusammenhang mit dem Verdrängen deutscher Geschichte und dem „Vergessen“ der Ermordeten.“ Verbunden ist das Ganze mit der Einladung zu einer Versammlung auf dem Marktplatz und der Erklärung. „Die Veranstaltung soll darüber informieren, was Majdanek war. Sie soll aber auch Fragen danach aufwerfen, welche Bedeutung die Menschenvernichtung im NS heute für uns, für diese Gesellschaft hat.“
Als Kurzankündigung erscheint der genannte Termin auch im Bochumer Lokalteil der WAZ. Ein Halbes Jahr nach Bekanntwerden des Zuzugs von Hermine Braunsteiner in die Gemeinde, drei Monate nach Gründung des Arbeitskreises „Gegen das Vergessen“ und zwei Wochen, nachdem er mit seinen Aktivitäten in Linden begann, ist es die erste Notiz, die an dieser Stelle zum Thema erfolgt. Aus welchem Grund erklärt ein Mitglied der Stadtredaktion sinngemäß mit den Worten: „Wir haben lange darüber diskutiert und uns dann entschieden, über die Sache nichts zu bringen.“ Welche Argumente dafür ausschlaggebend waren, ist nicht zu erfahren. Doch immerhin nimmt ein Redakteur an der Veranstaltung auf dem Lindener Markt teil und veröffentlicht später einen Vierspalter unter der Unterschrift: „Die Schuld der Schuldigen. Stilles Erinnern an das Konzentrationslager Majdanek.“
Tatsächlich verläuft die Veranstaltung ganz und gar nicht stillschweigend. Schon das Aufstellen von Tischen bzw. Stühlen und das Installieren einer Lautsprecheranlage sorgen für erstes Hinsehen. Einige Schaulustige bleiben stehen; wenngleich in sicherer Entfernung auf einer Brüstung oberhalb des Platzes oder am Rande zur vierspurigen Durchgangsstraße hin. Als zwei Mitglieder des Arbeitskreises und ihr Gast Heiner Lichtenstein - Journalist, Buchautor und langjähriger, aufmerksamer Beobachter des Majdanek-Verfahren - vor den Mikrophonen Platz nehmen, haben sich rund 80 Personen versammeln. Darunter viele aus dem Freundes- und Bekanntenkreis der VeranstalterInnen sowie Mitglieder antifaschistischer und antirassistischer Initiativen. Weniger zahlreich erschienen sind VertreterInnen der VVN und der jüdischen Gemeinde. Jeweils einen Sprecher bzw. eine Sprecherin haben geschickt eine Gruppe, die Gräber von Zwangsarbeitern in der Stadt pflegt sowie der Verein „Erinnern an die Zukunft“, auf dessen Betreiben hin sich die Stadt Bochum kürzlich zum ersten Mal veranlasst sah, ehemalige jüdische Bürger und Bürgerinnen zu einem offiziellen Besuch einzuladen. Zu den unbekannten Gesichtern zählen ein Dutzend Kinder und Jugendliche mit Baseball-Mützen auf dem Kopf und Skateboards unter dem Arm sowie eine zweite, kleinere Gruppe 18-20jähriger. Sonstige Bürger und Bürgerinnen aus dem Stadtteil sind an einer Hand abzuzählen.
Zur Einführung in die Veranstaltung wird in knappen Worten dargestellt, welche Aktivitäten der Arbeitskreises „Gegen das Vergessen“ bisher unternommen hat, und in welchem Verhältnis diese zur Person Hermine Braunsteiner stehen. „Was wir wussten war, dass sie auch während des Prozesses und der Jahre in Haft ihre Schuld nicht anerkannt hat, dass sie ungebrochen aus der Zeit hervorgegangen ist. Insofern sind wir der Meinung, dass sie ihre Taten persönlich repräsentiert. Auch heute noch. Und insofern finden wir es auch völlig legitim hier zu sitzen und in ihrer örtlichen Anwesenheit daran zu erinnern, was war.“
Rund 320.000 Menschen lebten 1929 in Bochum, darunter 1228 jüdische Männer und Frauen, von denen wiederum 22 zum Teil bereits seit Generationen im Stadtteil Linden zu Hause waren. Dazu zählten Sophie und Moses Röttgen, die ein Papier- und Dekorationsgeschäft betrieben, welches später von ihrer Tochter Elsa und dem Schwiegersohn Alexander Adler übernommen wurde. Letzterer wurde in der Reichsprogromnacht verhaftet und nach Oranienburg gebracht, wo er wenig später an einer nicht behandelten Blutvergiftung starb. Seine Frau und deren Mutter tauchen Anfang der vierziger Jahre noch im amtlichen Bochumer Adressbuch auf. Allerdings sind ihre Namen bereits mit dem damals vorgeschriebenen Zusatz „Sarah“ zur Identifikation jüdischer Frauen versehen. Später werden beide Frauen getrennt voneinander in eines der so genannten „Judenhäuser“ gebracht. Sieben dieser Sammelstellen, mit denen die Deportationen in die Konzentrationslager vorbereitet wurden, gab es alleine Bochum. Sophie Röttgen kam nach Theresienstadt, wo sie ermordet wurde. Ihre Tochter konnte nach Frankreich fliehen, kam nach dem Krieg nach Bochum zurück und verstarb schließlich bei ihrem Sohn in England. Auf eigenen Wunsch beerdigt wurde sie auf dem Friedhof der ehemaligen jüdischen Gemeinde Bochum/Witten.
Diese und die Geschichte der Familie Lipper, deren Textilgeschäft kaum einen Steinwurf vom heutigen Markt in Linden zu finden war; die Erlebnisse von Emil Röttgen, einem Metzger, der bereits 1933 als „unzuverlässige Person“ vom Bochumer Viehmarkt vertrieben wurde; einige Fakten aus dem Leben von Max Salomon, der aus unbekannten Grund ab Mitte der dreißiger Jahre aus den amtlichen Unterlagen der Stadt verschwindet: Sie alle wurden binnen weniger Wochen recherchiert und sind entsprechend unwohlständig. Doch geben sie einen Einblick in das, was noch zu finden wäre. Vor allem, wenn alteingesessene Lindener sich beteiligen würden. Wozu der Arbeitskreis „Gegen das Vergessen“ - unterstützt von Heiner Lichtenstein, der zum weiteren Verlauf des Abend leider wenig Konkretes beizutragen hat - als eine mögliche Konsequenz seiner Veranstaltung aufruft. Eine weitere verbirgt sich hinter der Frage der OrganisatorInnen, ob es wirklich möglich ist, dass die industrielle Vernichtung von sechs Millionen Menschen nichts anderes hinterlässt als eben die Toten. „Wir glauben nicht daran“. lautet ihre eigene Antwort, „sondern dass alles dadurch geprägt ist, wir selbst und die Gesellschaft. Und dass dies heute vor allem dadurch deutlich wird, dass sich niemand mehr vorstellen kann, was passiert ist. Oder vorstellen will. Oder Beides. Es gibt zwar verschiedene Formen des Gedenkens, die oft aber sehr weit vom realen Leben stattfinden. Weit weg von denen, die die Vernichtung zu verantworten haben und weit weg von den Betroffenen.“
Auf derart abstrakten Ausführungen - es ist ihren Gesichtern anzusehen - stehen die nichtsdestotrotz bis zum Ende der Veranstaltung ausharrenden Skater-Fans wenig. „War okay“, lautet ihr einziger Kommentar zum Ablauf des Abends. Und es bedarf des Einsatzes einer Bauwagen-Bewohnerin, selbst mit Abstand jüngstes Mitglieds des ansonsten vornehmlich von „Alt-Autonomen“ getragenen Initiative „Gegen das Vergessen“, um den Grund ihres Kommens zu erfahren. Der erste Teil der Entgegnung, wonach sie aufmerksam geworden seien „auf die komischen Plakate“, die auf einmal überall gehangen hätten, entspricht den Hoffnungen. Der Zusatz, wonach „die Teile“ anders als sonst üblich auch kaum abgerissen worden seien, freut das Herz. Die schlussendliche Erklärung sorgt für Ernüchterung. Denn nicht etwa die sorgfältig ausgewählte, inhaltliche Aussage des Plakates, der selbstbewusste Fingerzeig des Opfers auf die Täter, hatte es den Kinder und Jugendlichen angetan sondern - wie sie sich ausdrücken - „da stand ja überhaupt nicht drauf, was du kaufen sollst.“
Nachtrag I
Die Veranstaltung auf dem Marktplatz in Linden fand nicht zuletzt deshalb unter freiem Himmel statt, weil der evangelische Pfarrer im Stadtteil - bekannt für seine liberale Haltung, etwa wenn es um die Probleme von Flüchtlingen geht - sich weigerte seinen Gemeindesaal zur Verfügung zu stellen. Und dies keineswegs, weil ihm die generelle Auseinandersetzung mit dem Nationalismus nicht genehm ist sondern einzig des Umstandes, dass diese aus Anlass und in örtlicher Nähe von Hermine Braunsteiner stattfindet. Eine Haltung, die fortgedacht bedeutet: Solange eine der TäterInnen anwesend ist, darf der Holocaust nicht thematisiert werden. Es ist nur für eine Seite Platz.
Nachtrag II
Beim Arbeitskreis „Gegen das Vergessen“ hat sich bis heute kein Mann und keine Frau aus Linden gemeldet, der oder die etwas zu sagen hätten.
Nachtrag III
Die Skater aus Linden haben sich mit ihren Kollegen aus dem Nachbarstadtteil zusammengetan, um gemeinsam etwas gegen die verstärkten Versuche der JN zu unternehmen, in den Schulen und Jugendheimen der Gegend Nachwuchs zu rekrutieren.
Generelle Informationen zum KZ Majdanek und dem Prozess in Düsseldorf:
Wikipedia: Hermine Braunsteiner-Ryan
KZ Majdanek :
Wikipedia
Deathcamps.org
Polnische Infoseite
Majdanek – Prozess:
WDR
Wikipedia
Deutschland-Radio Kultur
Simon-Wiesenthal-Archiv
Über den Fernsehfilm zum Prozess