Für Bewegung sorgen!
Der G 8-Gipfel ist vorbei, aber nicht die Bewegung. Im Gegenteil,
politisch könnte sie aus den Ereignissen von Genua weiter an Stärke
gewinnen, auch wenn ihr dort unerwartete Brutalität entgegenschlug.
Derart angegriffen wurde sie, weil ihre frische Dynamik und vor
allem ihre gesellschaftliche Breite den Herrschenden Angst einflößen.
Gut zehn Jahre nach dem proklamierten »Ende der Geschichte«, das
auch als historische Niederlage verschiedener linker Ansätze interpretiert
worden war, kommen die Verhältnisse wieder in Bewegung.
In Genua wurden alle Flügel des breiten Bündnisses Genoa Social
Forum (GSF), GewerkschafterInnen, PazifistInnen, AktivistInnen
aus besetzten Zentren, katholische Basisgemeinden, Tute Bianche
usw. gleichermaßen verprügelt und stundenlang mit Tränengas eingedeckt.
Die Botschaft war klar: Wer gegen die Weltwirtschaftsordnung demonstriert,
ganz gleich in welcher Form, soll in Zukunft um Leib und Leben
fürchten.
Doch trat in Italien der gegenteilige Effekt ein. Die Empörung
über die Repression und den Mord an Carlo Giuliani mobilisierte
noch mehr Menschen, und am Dienstag nach dem G 8- Gipfel waren
im ganzen Land erneut 300 000 DemonstrantInnen auf den Straßen.
Das GSF ist nicht zerbrochen, sondern mittlerweile zum überregionalen
Italia Social Forum angewachsen, und über 300 Rechtsanwälte haben
sich zum Genoa Legal Forum zusammengeschlossen, um ein internationales
Tribunal zu organisieren.
In ihrer Gründungserklärung unterstreichen sie, dass sie sich
für alle 49 noch Inhaftierten einsetzen: »Es gibt keine 'Bösen'«,
so die Zurückweisung der offiziellen Darstellung, die versucht,
einzelne »Gewalttäter« für die Eskalation verantwortlich zu machen.
Der italienischen Anti-G 8-Bewegung ist es gelungen, sich nicht
spalten zu lassen, und ihre Breite hat angesichts des geschickten
Agierens der verschiedenen Bestandteile des GSF noch zugenommen.
Damit scheint sie zwei wichtige Lektionen aus der Vergangenheit
umgesetzt zu haben: Dass sowohl Spaltungen als auch die Militarisierung
von Auseinandersetzungen nur die Herrschenden begünstigen, und
Gewaltdebatten vor allem geeignet sind, die politischen Inhalte
von Widerstand öffentlich unsichtbar zu machen.
Auch führen Gewaltspiralen nach dem reaktiven Muster »Aktion-Repression-Aktion«
nur dazu, dass die Bewegung immer mehr schrumpft und isolierter
wird. Dieser Logik, die in Italien auch Erfahrungen aus der Autonomia-Zeit
der siebziger Jahre widerspiegelt, wollten die Tute Bianche mit
ihrem Konzept des »zivilen Ungehorsams« von Anfang an entgegentreten,
da sie den Konflikt nicht als militärischen, sondern in erster
Linie als politischen und gesellschaftlichen begreifen.
Zwar haben die Tute Bianche in Genua ihr selbst gesetztes Ziel,
das Eindringen in die Rote Zone, nicht erreicht. Angesichts der
polizeilichen Strategie undifferenzierten Terrors ist auch ihr
Ansatz gescheitert, die Grenzen der Legitimität von Widerstand
durch öffentlich hergestellte Akzeptanz zu erweitern. Doch belegt
ihre deutliche Präsenz in der öffentlichen Debatte, dass es allenfalls
eine taktische Niederlage war, keineswegs jedoch das Scheitern
einer politischen Strategie oder einer ganzen Bewegung - wie es
in Deutschland nach der Räumung der Mainzer Straße im November
1990 der Fall war. Auch die Tute Bianche wenden sich nun gegen
eine Verdammung des Schwarzen Blocks, der in der von Medien und
Staatsanwaltschaft proklamierten Homogenität ohnehin ein Konstrukt
ist.
Ganz anders scheinen deutsche Linke die Ereignisse von Genua
zu verarbeiten. Von ihnen gehen derzeit die stärksten Spaltungstendenzen
aus. Da werden allerlei Gerüchte vorschnell aufgegriffen und verbreitet,
offenbar in dem Eifer, das eigene Handeln als »besser« darzustellen
als alle anderen Ansätze. NGO-Vertreter, z.B. aus dem deutschen
Attac-Spektrum, fühlen sich zu Distanzierungen genauso bemüßigt
wie militante Aktivisten, die sich von »den Bürgerlichen« abgrenzen.
Anstatt einer Debatte um zukünftige Strategien, wie die Weltwirtschaftsordnung
angesichts der bisherigen Erfahrungen weiterhin delegitimiert
und angegriffen werden kann, dominieren hierzulande derzeit einerseits
die fruchtlose Gewaltdebatte, andererseits der entsetzte Blick
ausschließlich auf die polizeiliche Repression.
In Italien hingegen wird nach vorn diskutiert. Während das GSF
die Aufklärung des Geschehenen intensiv betreibt, kündigt es für
Oktober und November erneute Massenmobilisierungen an. Bereits
jetzt wird zu Protesten gegen den geplanten Nato-Gipfel am 26.
und 27. November in Neapel aufgerufen. Und auch an anderen Fronten
steht ein heißer Herbst bevor. Die Metaller der Fiom (die auch
im GSF sind) wollen gegen die Tarifabschlüsse der rechten Gewerkschaften
streiken und demonstrieren, und in den Schulen und Krankenhäusern
beginnen Aktionen gegen die Privatisierung der Bildung und der
medizinischen Versorgung.
Ob es gelingt, diese erfreuliche Dynamik auch außerhalb Italiens
zu entfalten, liegt im Wesentlichen am Vorgehen der Linken, auch
hier in Deutschland. Bisher steht in der Genua-Nachbereitung die
Polizeibrutalität sehr stark im Vordergrund. Zweifellos brauchen
die Inhaftierten und Misshandelten unsere Solidarität.
Doch ist es dringend notwendig, sich der erlebten neuen Qualität
von Repression auch analytisch anzunähern und den Schock zu überwinden,
um als Bewegung handlungsfähig zu bleiben. Die ausschließliche
Betonung der maßlosen Repression läuft Gefahr, die großartigen
Demonstrationen von Genua im Nachhinein geradezu als politischen
Misserfolg erscheinen zu lassen und abschreckend zu wirken.
Diejenigen von uns, die vor Ort waren, haben dort wesentlich
mehr erfahren als Polizeiprügel: die mit Abstand größten und stärksten
Demonstrationen der letzten zehn Jahre; eine öffentlich gut verankerte,
hervorragend koordinierte Widerstandsbewegung; internationale
Begegnungen, die in Form und Inhalt sehr bereichernd waren; einen
erheblichen Sachschaden, der zum großen Teil durchaus politisch
zielgerichtet war und den ohnmächtigen Zorn der Ausgegrenzten
dieser Welt gut auszudrücken vermag; die Erfahrung, dass auch
Konfrontationen mit der Polizei organisiert und solidarisch, also
gemeinsam durchgestanden werden können; und nicht zuletzt einen
breiten Grundkonsens gegen den in alle Lebensbereiche vordringenden
Terror der Ökonomie. Auf dieser Basis konnten in Genua die vielfältigsten
Ansätze und Mittel zum Ausdruck kommen.
Gewiss, in allen Ländern koexistieren in dieser Bewegung verschiedene
Positionen. Während die einen ihre Kritik auf den Finanzkapitalismus
beschränken, wollen andere den Neoliberalismus als fundamentalistisches
Denk-, Handlungs- und Steuerungsprinzip bekämpfen, welches die
Existenzberechtigung von Menschen an deren ökonomischer Verwertbarkeit
bemisst. Fakt ist jedoch, dass es keiner dieser Fraktionen einen
politischen Nutzen bringen wird, die anderen öffentlich zu kritisieren
und öffentlich abzuwerten. Das dürfte die Erfahrung ausreichend
bewiesen haben.
Die Verhältnisse tatsächlich zum Tanzen bringen wird die Bewegung
nur, solange sie aus ihrer heterogenen Zusammensetzung die maximale
Energie zieht, d.h. wenn die verschiedenen Flügel sich vor allem
unterstützen und sich auf gemeinsame Lernprozesse und ein produktives
Nebeneinander einlassen. Schließlich muss niemand gegen seine
Überzeugungen den »Reformisten« oder »Radikalinskis« beitreten
- sondern es geht darum, gemeinsame Kämpfe zu führen.
Anstatt uns eine Diskussion über uns selbst, unsere »Identitäten«
und Aktionsformen aufzwingen zu lassen, sollten wir den Blick
nach vorn richten und uns dabei auf die Gemeinsamkeit stützen,
die alle Strömungen eint. Wir sollten uns für die nächsten Treffen
des globalen Entscheidungskartells besser koordinieren als bisher,
unsere Unterschiede dabei als sich ergänzende Werkzeuge begreifen.
Wir sollten neue lokale Ansatzpunkte für Bündnisse und Aktionen
suchen, die die positiven Erfahrungen aus Genua und anderen Orten
auch hier nachvollziehbar machen. Wir alle haben erlebt, wie der
vor allem seit der Wende in Deutschland grassierende Abgrenzungswahn,
der die Reinheit der eigenen Position höher bewertet als gemeinsames
Handeln, zu völliger Lähmung geführt hat. Wie können also Diskussionen,
auch in der Jungle World, so gestaltet werden, dass sie Bewegungen
zwar kritisch begleiten und ihren Blick schärfen, ohne aber jeglichen
Ansatz von politischer Praxis wegen mangelnder Erfüllung des deutschen
Reinheitsgebots zu torpedieren?
Die deutsche Linke sollte den Mut zu neuen Wegen aufbringen,
und auch den Mut zu neuen Fehlern. Sicher, wer sich bewegt, kann
Fehler machen, aber wer sich nicht bewegt, hat schon verloren.
für eine linke strömung (fels) und das überregionale
forum genova libera
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