Bericht der Menschenrechtsdelegation aus Hamburg und Stuttgart TeilnehmerInnen: Britta Eder - Rechtsanwältin
Im Zeitraum rund um unsere Menschenrechtsdelegation 21 Tage im September 2011 ereignete sich Folgendes: • 8 ZivilistInnen wurden von
türkischen Soldaten und Polizisten ermordet
Seit der Wiederwahl der AKP Regierung im Juni 2011 hat sich die Stimmung in der Türkei und in den kurdischen Provinzen des Landes negativ verändert. In Istanbul erzählen uns Menschen von einem rabiaten Gentrifizierungsprogramm in den Stadteilen rund um den Taksimplatz. Die kurdische Bevölkerung sowie Sinti und Roma werden hier seit gut drei Jahren systematisch vertrieben. Mafiaähnliche Methoden sind dabei an der Tagesordnung. Baulöwen schicken Schlägertrupps, die Menschen bedrohen, wenn sie sich weigern ohne oder gegen geringe Entschädigung ihre Wohnungen zu verlassen. Das Recht, nach der Sanierung zurückzukehren, erhalten die Betroffenen nicht. Seit der Wahl dürfen auch die unzähligen Straßencafes und Musikkneipen in Taksim und Beyoglu ihre Stühle und Tische nach zehn Uhr nicht mehr auf die Straße stellen. In Wildwestmanier ziehen Polizeibeamten, in zivil und sichtbar bewaffnet sowie in Uniform durch die Straßen und versuchen, das Geschehen zu kontrollieren. Das freie und unbeschwerte Nachtleben der Gegend rund um den Taksim, mit seiner ausgeprägten emanzipatorischen und subkulturellen Musik-, Kunst- und Theaterkultur scheint der AKP ein Dorn im Auge zu sein. Wir erfahren, dass die Polizisten die CafebesitzerInnen oft bedrohen und die Lokalitäten zudem immer öfter selbst in Uniform besuchen. Überall, selbst in den Nebenstraßen der Hauptstraße Istiklar Caddesi, wurden Videokameras installiert. Menschen die eine etwas dunklere Haut haben oder kurdisch aussehen sind darüber hinaus häufig mit rassistischen Polizeiübergriffen bei beliebigen Personalienkontrollen konfrontiert. Die „Sicherheitskräfte“ beschimpfen sie dabei wegen ihrer kurdischen oder armenischen Herkunft. Sie „sollten nach Hause gehen“ wird verlangt. Wenn die Menschen kurdische Insignien tragen, kommt es öfter vor, dass sie von Polizisten misshandelt werden. Dadurch entstand in den letzten drei Monaten bei vielen Menschen eine Atmosphäre der Angst und der Wut gegen die Unterdrückungspraxis. Es wird mittlerweile nicht mehr „lediglich“ gegen tausende AktivistInnen - 4400 KurdInnen wurden im Rahmen der KCK Prozesse inhaftiert - sondern gegen die gesamte kurdische Bevölkerung repressiv vorgegangen.
In der Metropole Van hat sich die Atmosphäre seit den Parlamentswahlen deutlich verändert. Auf den Straßen ist eine ruhige, sehr vorsichtige und angespannte Stimmung wahrzunehmen. Am 28. August 2011 wurde der Stadtrat von Van, Yildirim Ayhan (BDP), von Soldaten ermordet. Er hatte an einer Friedenskundgebung der hauptsächlich von den Friedensmüttern getragenen „Lebenden Schutzschilde“ in Hakkari/Cukurca teilgenommen. Wir konnten mit 17 AugenzeugInnen sprechen. Sämtlich wird das gleiche Szenario beschrieben: Soldaten schossen im Verlauf der Kundgebung der Lebenden Schutzschilde gezielt mit Tränengasgranaten und scharfer Munition auf die friedlich in einer Sitzblockade verharrenden KundgebungsteilnehmerInnen. Sie zielten auf eine Gruppe, in der sich die Parlamentarierin der BDP Aysel Tugluk und mehrere Mitglieder der Kommunalverwaltung der BDP befanden. Eines der unzähligen Geschosse traf Yildirim Ayhan in der Brust und durchbohrte ihn bis zur Wirbelsäule. Nach wenigen Minuten starb er an seinen Verletzungen. Bereits seit 2009 schießen „Sicherheitskräfte“ immer wieder gezielt mit Tränengasgranaten auf Protestierende. Mehrere Menschen starben dabei, viele wurden verletzt. Erst kurz nach den Wahlen 2011 verbrachten zwei neu gewählte BDP Abgeordnete aus Istanbul aufgrund einer derartigen Verletzung eine Nacht im Krankenhaus. In Sirnak wurde zur gleichen Zeit eine 54 jährige auf diese Art umgebracht. Die Angehörigen, die Stadtverwaltung und die Bevölkerung trauern um Yildirim Ayhan, einen Menschen der sich mit all seiner Kraft für den Frieden und eine an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Kommunalpolitik eingesetzt hat. Yildirim Ayhan war von mehr als 25000 WählerInnen in den Stadtrat gewählt worden. Die gezielten Angriffe auf die kurdischen VetreterInnen sind nicht hinnehmbar und ein bewusstes Instrument einer menschenverachtenden Besatzungspolitik. Der Gouverneur von Van beschuldigte wahrheitswidrig die „Lebenden Schutzschilde“, Steine geworfen zu haben, anstatt sich bei den Verwandten zu entschuldigen und die Praxis des Tränengasgranaten-schießens auf Menschen zu ändern. Auch die Beerdigung des Stadtrates wurde von der Polizei mit Tränengasgranaten angegriffen. Dabei wurde der Friedhof in Brand gesetzt. Ein solches Verhalten kann nur als menschenverachtend und zynisch bezeichnet werden.
Das Projekt der demokratischen Autonomie wird von der kurdischen Bewegung immer weitergehend umgesetzt. Im Rahmen der Organisierung in Stadtteilräten wird u.a die konkrete Politikgestaltung anhand der Bedürfnisse der Menschen diskutiert und entwickelt. Durch eine derart basisdemokratische Rückbindung nimmt die Bevölkerung direkt an der Entwicklung der Gesellschaft teil. Auch in den Frauenräten gibt es eine sehr intensive Dynamik. Die Entfremdung durch wahlzentrierte StellvertreterInnenpolitik wird so Stück für Stück aufgehoben. Ein weiteres Ziel der Demokratischen Autonomie ist das friedliche Zusammenleben aller Lebewesen auf ökologischer Basis und eine föderalistische Struktur für die gesamte Türkei auf deren Grundlage die Interessen sämtlicher ethnischer und religiöser Gruppen besser repräsentiert werden könnten.
Anfang September besuchten Generäle, darunter Generalstabschef Necdet Özel die Gouverneure mehrerer kurdischer Provinzen um das weitere Vorgehen in der „Auseinandersetzung“ mit der PKK zu besprechen. Necdet Özel, der als Hardliner bezüglich der kurdischen Frage bekannt ist, wurde nachgewiesen, dass er 1999 den Befehl zu einem Giftgaseinsatz gab, bei dem 19 PKK Guerillas starben. Während des Besuches der Generäle in Van waren auf den Straßen rund um das Gouverneursgebäude Soldaten mit schweren Maschinengewehren und Polizisten in voller Montur samt kugelsicheren Westen postiert. Die Ergebnisse der Treffen zwischen Generälen und Gouverneuren wurden bisher nicht öffentlich gemacht. Jeden Tag patrouillieren Polizisten in kugelsicheren Westen mit Maschinenpistolen im Anschlag durch die Straßen von Van. An zahlreichen Orten im Stadtzentrum stehen zudem Panzerfahrzeuge und Wasserwerfer.
In Van und Van/Catak nahm die Polizei am Freitag, den 09. September 19 Menschen in Van und 10 Menschen in Van/Catak fest. 4 der Festgenommenen sind Berichten zufolge Guerillaangehörige. Zuvor entführten bisher unbekannte in Catak einen Polizisten. Während der Vorführung der Festgenommenen beim Haftrichter trafen sich Angehörige und MenschenrechtlerInnen sowie Mitglieder der BDP und der Friedenmütter in Cafes in der Nähe des Gerichtsgebäudes. Behelmte Polizisten liefen durch die Gasse in der die Cafes waren, drohten mit Schlagstöcken und vertrieben die Wartenden. Für ein derartiges Vorgehen gab es keinen Grund, geschweige denn eine juristische Grundlage. Jede Form der kritischen Öffentlichkeit oder Solidarität soll scheinbar unterbunden werden. Zuerst wollten einige der Polizisten auch uns drohen. Das wurde dann von einem Einsatzleiter mit der Bemerkung, dass wir Touristen seien, verhindert. Die Regierung Erdogan ist offenbar bemüht trotz menschenverachtender Praxis gegenüber der Internationalen Öffentlichkeit ein Bild der Normalität und Rechtsstaatlichkeit vorzutäuschen. Das gesamte Gericht wurde von behelmten Polizisten gesichert.
Insgesamt wurden im Zeitraum unserer Delegation 900 Menschen, hauptsächlich aus den Reihen der BDP, der Menschenrechtsarbeit und JournalistInnen in den kurdischen Provinzen der Türkei, in Istanbul und Izmir festgenommen. Darunter auch die Bürgermeister von Sirnak, Silope und Idil, der Vizebürgermeister von Semdinli, Stadträte und BDP Vorsitzende aus Semdinli, Van, Istanbul, Adana, Batman, Diyarbakir und vielen weiteren Städten. Bei unserer Ankunft in Van erzählte uns ein BDP Mitglied: „Jeder der zurzeit die Wahrheit über die Verhältnisse öffentlich macht wird festgenommen.“ Diese Feststellung entspricht der Realität.
In der Nacht zum 11.09 töteten Türkische Soldaten und Polizisten im Umfeld einer Hochzeitsfeier und im Verlauf von ungehemmtem Beschuss von Wohnhäusern in der kurdischen Stadt Hakkari/Semdinli 4 Menschen. Die Hochzeit fand vor und im Gebäude der Stadtverwaltung statt. Semdinli wird von der sozialistischen, prokurdischen Demokratischen Friedenspartei (BDP) regiert. Die kurdische Bewegung ist hier sehr kraftvoll. Augenzeugenberichten zufolge eröffneten die „Sicherheitskräfte“ das Feuer in der gesamten Stadt mit schweren Waffen, Granatwerfern und scharfer Munition als Racheakt wegen eines Angriffs der Guerilla der PKK auf eine Polizeiwache und eine Jandarmastation. Nahezu kein Haus in der Stadt blieb beim kriegs- und völkerrechtswidrigen Vorgehen der „Sicherheitskräfte“ ohne Einschusslöcher. Das Gebäude der Stadtverwaltung durchsiebten Polizei und Militär systematisch mit Kugeln. In nahezu jedem Fenster des Gebäudes konnten wir Einschusslöcher sehen. Die Menschen flohen während des Beschusses in den hinteren Teil des Gebäudes und mussten dort mehrere Stunden verharren. Der 14 Jährige Osman Erbaş wurde im Eingangsbereich von einer Kugel getroffen. Mehrere Menschen wurden schwer verletzt. Osman Erbaş verblutete auf dem Weg ins Krankenhaus. Soldaten verhinderten über Stunden seinen Transport. Necdet und Tayyar Güreli sowie Resul Cetin wurden auf einem Hügel inmitten von Wohnhäusern von einer Granate getötet, als sie das Geschehen aus der Ferne beobachteten. Resut Ersol erlag am 14.09. im Krankenhaus von Van seinen Verletzungen. Das Militär griff zudem unzählige Häuser mit Maschinengewehren und Raketen an - darunter das Haus des Buchhändlers Seferi Yilmaz. Eine Rakete zerfetzte einen Teil einer Wand des Hauses seiner Familie und blieb dort stecken. Der Buchladen Von Seferi Yilmaz war bereits 2005 von Todesschwadronen mit Handgranaten angegriffen worden. Zwei Mitarbeiter starben. Im Rahmen des Prozesses gegen die Täter aus den Reihen der Jandarma (Militärpolizei), die von der couragiert eingreifenden Bevölkerung von Semdinli gestellt worden waren, bezeichnete der Generalstabschef die Mörder als „gute Jungs“. Parallel zu dem Beschuss der Häuser verwüsteten Sondereinheiten der Polizei im Verlauf einer Razzia zahlreiche Wohnungen. Im Vorfeld der Übergriffe hatte die PKK-Guerilla einen Polizei- und Jandarmaposten angegriffen. 1 Soldat und ein Polizist starben, mehrere wurden verletzt. Der Angriff der „Sicherheitskräfte“ auf die Hochzeit nach Beendigung des Gefechts kann insofern als gezielter Racheakt gegen die Zivilbevölkerung gewertet werden. An einer 3-tägigen Trauerfeier in einem Zelt nahmen mehrere Tausend Menschen teil. Darunter viele Verwandte der Ermordeten - auch aus dem nahe gelegenem Irak - und mehrere PolitikerInnen der BDP. Eine Kommission aus Mitgliedern der Menschenrechtsvereine IHD, Mazlum Der und Meya Der sowie der Anwaltskammer von Hakkari erarbeitet eine ausführliche juristische Dokumentation über dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Kaymakan (Stadtgouverneur) und die Staatsanwaltschaft verweigerten jegliche Zusammenarbeit mit der Kommission.
Ende September wurden in der kurdischen Stadt Batman eine schwangere Frau, ihr nicht geborenes Kind und ihre 6 jährige Tochter von Polizisten erschossen. Mehrere Augenzeugen berichten das übereinstimmend. Der Vater und eine weitere Tochter wurden verletzt. Nach einem Gefecht zwischen der Guerilla und Soldaten schossen Sicherheitskräfte in der Stadt wahllos um sich. Dies ist der zweite Rachefeldzug türkischer „Sicherheitskräfte“ dieser Art innerhalb von drei Wochen. Der Gouverneur behauptete wahrheitswidrig, dass die Guerilla die Tode verursachte. Bei dem vorherigen Gefecht starben 3 Guerillas und ein Polizist. Ein mit dem Handy eines Augenzeugen aufgenommenes Video wurde veröffentlicht, das zeigt, wie Polizisten einen der Guerillas ermorden, nachdem sie ihn lebendig festgenommen hatten. Sammelgräber Bereits am 15.09. hatte der Gouverneur von Van diese Zusage zurückgezogen, weil angeblich die Sicherheit der Delegation nicht gewährleistet werden könne und Militäroperationen stattfinden würden. In einem Gespräch einer Verhandlungsgruppe mit dem Gouverneur konnte dieser keine schlüssige Erklärung für die Verhinderung der Kundgebung am Sammelgrab geben. Er verwickelte sich in Widersprüche und wurde aggressiv. Militäroperationen gab es in der Region nachgewiesener Maßen ebenfalls nicht. Am 16.09. stoppte uns an einem Kontrollpunkt kurz nach Catak schwer bewaffnetes Militär. Ein vermeintlicher Jandarma-Kommandant zeigte uns nach mehrmaligem Insistieren auf Herausgabe einen Befehl, dass wir die Region aus Sicherheitsgründen nicht betreten könnten. Jegliches Ablichten des Befehls wurde verboten. Auf dem Befehl befand sich der Schriftzug des türkischen Geheimdienstes MIT. Im Nachhinein erfuhren wir, dass der Kontrollpunkt an dieser Stelle für uns aufgebaut wurde und die vermeintlich normalen Soldaten einer sichtlich gut geschulten Sondereinheit aus Van entstammten. Unsere Verhandlungen mit dem Kommandanten dieser Einheit sowie unsere Aktionen wurden von den Soldaten gefilmt. Sämtliche weitere Fahrzeuge konnten den Kontrollpunkt ungehindert passieren. Wir protestierten auf schärfste gegen die politisch motivierte Verhinderungspolitik, platzierten Plakate und Bilder von den ermordeten an Häusern und Sperren am Kontrollpunkt und machten eine Sitzblockade. Die Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko und Nicole Gohlke (beide Die Linke) intervenierten beim Auswärtigen Amt und der Deutschen Botschaft, der Schweizer Menschenrechtler Oskar Schmidt bei der Schweizer Botschaft. Es wurden Protestnoten bei der türkischen Regierung veranlasst. Diese blieben jedoch erfolglos. Unsere politische Einschätzung ist, dass auch die Deutsche Regierung wenig Interesse an einer Aufklärung des Mordes an Ronahi/Andrea Wolf hat, da diese internationale Verwicklungen nach sich ziehen würde. Trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass die Türkei wegen Untätigkeit und Behinderung der Aufklärung des Verbrechens verurteilte, lehnen auch die Staatsanwaltschaft und das OLG Frankfurt eine Wiederaufnahme des Verfahrens in Deutschland ab. Dorfschützer und überlebende Guerillas hatten MenschenrechtlerInnen gegenüber ausgesagt, dass Ronahi/Andrea Wolf nach ihrer Festnahme rassistisch beschimpft, vergewaltigt und zu Tode gefoltert wurde. Auch die weiteren Guerillas waren gefangen genommen und danach extralegal hingerichtet worden. Wir fuhren Mittags nach Catak, übergaben der Staatsanwaltschaft eine erneute Anzeige und demonstrierten durch die Innenstadt. Anschließend besuchten wir ein weiteres Sammelgrab in der Nähe von Van/Görentas. Hier waren 28 Guerillas in einem Hinterhalt der türkischen Armee gestorben. Sämtliche Guerillas bis auf eine starben in dem Gefecht. Die Überlebende wurde gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Die Soldaten übergossen die Leichen der Guerillas mit einer Chemikalie. Für diesen Vorfall gibt es zwei AugenzeugInnen. Anschließend köpften die Soldaten den von kurdischer Seite aufgrund seines Mutes verehrten Kommandanten und stellten seinen Kopf in der Stadtverwaltung von Catak zur Schau. Selbst die jetzige AKP Bürgermeistermeisterin bezeichnet das gesamte Geschehen als nachgewiesenes und unakzeptierbares Kriegsverbrechen. Am Abend des 16.09. stoppten Guerillas der PKK ein Versorgungsfahrzeug von der Kaserne, an der wir aufgehalten wurden, gaben dem Fahrer die Gelegenheit auszusteigen und zündeten das Fahrzeug an. Das gesamte Gebiet wurde daraufhin von Soldaten abgesperrt.
Am 21.09. besuchten wir drei Sammelgräber in der Nähe der Stadt Mutki in der Provinz Bitlis. In einem der Gräber liegen 9 StudentInnen, die 1999 extralegal hingerichtet wurden. Wenige Meter entfernt davon befindet sich auf einer Müllkippe ein Sammelgrab von mindestens 6 Guerillas, darunter zwei Frauen, die im Jahr 1993 nach ihrer Festnahme ermordet wurden. Selbst nach dem bekannt werden des Leichenfundes wird weiterhin Müll auf diese Stelle gekippt. Das ist zynisch. Eine derartig unwürdige Praxis muss sofort beendet werden. In einem weiteren Sammelgrab, etwa 400 Meter von dieser Stelle entfernt befinden sich mindestens zwölf Guerillas, die zum Teil ebenfalls erst nach ihrer Festnahme ermordet wurden. Für diese Vorkommnisse gibt es jeweils Augenzeugen. Es ist dringend notwendig, eine Wahrheitskommission zur Aufklärung sämtlicher Kriegsverbrechen einzurichten. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass Kriegsverbrechen durch das türkische Militär seit 2009 wieder stark zunehmen. Dazu gehören Folter und Verstümmelungen von toten Guerillas, extralegale Hinrichtungen von ZivilistInnen und gefangen genommenen Guerillas sowie Chemiewaffeneinsätze. Hintergrund Einschüchterungsversuch In der Nacht auf den 21.09.2011 zwangen Zivilpolizisten die beiden Mitglieder unserer erweiterten Menschenrechtsdelegation Martin Glasenapp (medico international) und Martin Dolzer (Soziologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der MdB Heidrun Dittrich) zu einem Verhör auf die Hauptpolizeiwache (Emniyet) in Van. Am 20.09.2011 hatten sich die Betroffenen bei einer Pressekonferenz für einen Friedensdialog unter Einbeziehung sämtlicher Akteure einschließlich A. Öcalan und der PKK in der Türkei ausgesprochen und die erneut zunehmenden Menschenrechtsverletzungen sowie Kriegsverbrechen in der Türkei thematisiert. Bereits im Hotel wurden sämtliche Beteiligten gefilmt und teilweise beschimpft. Die Verhöre dauerten bis 7 Uhr Morgens und fanden unter Schlafentzug statt. Die Staatsanwaltschaft Van hatte diese Maßnahme mit der Begründung vermeintlicher „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ angeordnet. Den Betroffenen wurde angedroht, mindestens weitere 24 Stunden in Haft bleiben zu müssen, wenn sie von Ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen und Ihre Aussage nicht unterschreiben würden. Sie wurden von den Polizisten als sie Unterschriften verweigern wollten und die Telefonnummer der Polizeiwache zur Weitergabe an die Botschaft einforderten angeschrieen. Der Botschaftsangehörigen wurde bei ihrem Anruf in der Polizeiwache zuerst wahrheitswidrig mitgeteilt, dass die Beamten kein Englisch sprächen. Die Beamten gaben zudem ihre Namen nicht bekannt.
Wir haben gesehen und erfahren, dass Diejenigen, die sich kritisch äußern oder Unrecht publik machen, in der Türkei erneut immer häufiger verhaftet oder sogar ermordet werden. Wir verurteilen die wiederholte gezielte Tötung von ZivilistInnen und FunktionärInnen der BDP durch türkische Sicherheitskräfte auf Schärfste. Die Regierung Erdogan strebt seit den Parlamentswahlen im Juni 2011 eine „tamilische Lösung“ der kurdischen Frage an, die sie in modifizierter Form auch umsetzt. In diesem Rahmen sind die völkerrechtswidrige Eskalation des militärischen Konflikts mit der PKK sowie Massaker im Zusammenhang mit systematischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung offenbar politisch gewollt. Jede freie Meinungsäußerung und konstruktive kommunalpolitische Arbeit wird mit Haft sanktioniert. Dabei wird seit einem Monat „Stückchenweise“ – ca. 50 Personen pro Tag - vorgegangen. Eine solche Politik ist nicht hinnehmbar. Dass die türkische Regierung Friedensbemühungen der kurdischen Seite und das Engagement für die Menschenrechte als Terror definiert, verhindert jeglichen politischen Lösungsweg. Die Festnahme von zwei Delegationsteilnehmern zeigt deutlich, dass das Thematisieren von Menschenrechtsverletzungen unter der AKP Regierung nicht geduldet wird. Festgenommen wurden die beiden Delegationsteilnehmer, die nicht lediglich die Kriegsverbrechen im Jahr 1998, sondern die seit 3 Jahren erneut zunehmenden Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zur Sprache brachten. Dies und das Artikulieren einer dialogischen Friedensperspektive will die AKP offensichtlich mit allen Mitteln verhindern. Alles andere als die Unterwerfung unter das neo- osmanische Projekt der Regierung Erdogan soll als Terror oder Propaganda für eine terroristische Vereinigung gedeutet werden. Die Regierungen Europas sehen dem tatenlos zu – oder unterstützen die Politik Erdogans politisch oder/und infrastrukturell. In jedem anderen Land des Mittleren Ostens würden derartige Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen mit einem Militäreinsatz oder politischen und wirtschaftlichem Druck sanktioniert. Eine emanzipatorische, selbstbewusste, gut organisierte Bewegung in den kurdischen Provinzen wird aber anscheinend als mögliches Motivationsbeispiel für die Aufständischen im umkämpften Mittleren Osten oder auch für Widerstand in Europa gesehen. Das ist nicht gewollt. Die Politik der Regierungen in der Türkei und Europa ist hauptsächlich an geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen orientiert. Es geht es um die Sicherung der eigenen Machtpositionen sowie der Ressourcen Öl, Gas und Erze. Auch die ungehemmte Öffnung neuer Märkte ist beabsichtigt.(siehe Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik/SWP, „Die neue Kurdenfrage“, aus dem Jahr 2011). Dazu soll die AKP Regierung als neoliberal islamisches Rolemodell in der Energiedrehscheibe Türkei dienen. Die Praktiken des schmutzigen Krieges nehmen in diesem Rahmen, ähnlich wie in den neunziger Jahren, erneut zu. Die Regierenden in Europa müssten sich aufgrund ihrer Unterstützung einer solchen Politik schämen. Trotz der Repression und zunehmender Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen bishin zur angestrebten Vernichtung, lassen sich die KurdInnen nicht davon abbringen, weiterhin gegen systematisches Unrecht und Tyrannei zu kämpfen. Kultur, Kunst und politische Aktion werden genutzt um Traumata aufzuarbeiten, die durch die Regierungspolitik angestrebte Ohnmacht nicht entstehen zu lassen und ein emanzipatorisches, basisdemokratisches Projekt umzusetzen. siehe auch: Einschüchterungsversuch
3.Bericht der Menschenrechtsdelegation Besuch
der Generäle Gentrifizierung
und Vertreibungspolitik in Istanbul |