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Bericht zu den Operationen gegen Hungerstreikende in 20 türkischen Gefängnissen

Von Marianne Roth

Einleitung

Vom 21. bis 28. Dezember weilten Therese Jäggin und die Autorin dieses Berichts, Marianne Roth, beide vom Schweizerischen Arbeiterhilfswerk SAH, in Istanbul. Wir versuchten, in verschiedensten Gesprächen mit möglichst vielen Personen die Umstände in Bezug auf die Erstürmung der Gefängnisse zu ergründen. Die Berichterstattung in den türkischen Medien ist arbiträr, spekulativ und zum Teil schlicht erfunden. Die Aussagen von Seiten der Regierung oder der Sicherheitskräfte waren meist verdreht, verschwiegen wichtige Tatsachen, waren geschönt und gespickt mit Lügen, sodass es schwierig war, sich einen Überblick zu verschaffen.
Nebst Gesprächen mit persönlichen Bekannten und MitarbeiterInnen unserer Partnerorganisation in Istanbul, TOHAV, hatten wir die Möglichkeit mit einer Gefangenen zu sprechen, die am Tag nach der Stürmung des Gefängnisses Bayrampasa entlassen wurde und den Überfall direkt miterlebte. Wir unterhielten uns auch ausführlich mit der Anwältin und TOHAV-Mitarbeiterin Filiz Köstak, die sich zusammen mit drei BerufskollegInnen gleich nach Ausbruch der Operationen zum Gefängnis Bayrampasa und später nach Ümranyie begab.

Operation "Zurück zum Leben"

Unter dem Titel "Zurück zum Leben" stürmte ein Grossaufgebot von Polizisten, Soldaten und Sondereinheiten der Armee und der verschiedenen Geheimdienste 20 Gefängnisse im ganzen Land. Ziel der Operation war es nach offiziellen Angaben, das Leben der Häftlinge zu retten und den seit zwei Monaten dauernden Hungerstreik von gegen 2000 Häftlingen gewaltsam zu brechen. Diese protestierten dagegen, in die sogenannten F-Typ-Gefängnisse verlegt zu werden. 200 der Hungerstreikenden hatten sich zum Todesfasten entschlossen, einige von ihnen waren bereits in kritischem Zustand.
Die umstrittenen F-Typ-Gefängnisse sind mit Zellen eingerichtet, die zwischen 1-3 Personen fassen können. Bisher waren die Gefangenen in Grosszellen untergebracht, wo zwischen 20 bis 250 Personen zusammenlebten. Häufig gehörten die Gefangenen der gleichen politischen Organisation oder Gruppierung an, was dazu führte, dass die Gefangenen einen hohen Politisierungs- und Organisationsgrad besassen. Die Regierung bezeichnet diesen Zustand nun plötzlich als unhaltbar und brandmarkt die Grosszellen als Horte der Mafia und ideologische Machtzentren politischer und religiöser Extremisten. Die Gefängnisse seien in Wahrheit in den Händen von Terroristen und der Mafia, die Gefängniswärter hätten sich seit zehn Jahren nicht mehr in die Zellen hineingewagt. Dabei wird kein Unterschied gemacht zwischen politischen Gewissensgefangenen, tatsächlichen Mafiamitgliedern, denen nicht selten Kontakte zu höchsten Regierungskreisen nachgewiesen werden können, und Gefangenen, die aus religiösen Gründen in Haft sitzen. Der Hürriyet-Kolumnist Cüneyt Ülsever titelte dazu: "Der Staat hat die staatlichen Gefängnisse gerettet". Und die englischsprachige Turkish Daily News (TDN) setzte die Schlagzeile: "Überfälle beseitigen die Schande in unserem Staat", frei nach einem Zitat des Innenministers Sadettin Tantan. In dem dazugehörigen Artikel geisselt sie allerdings die türkischen Behörden als unfähig und inkompetent. Hauptsächlich an die ausländische Wohnbevölkerung gerichtet, kann sich die TDN einen etwas kritischeren Ton erlauben.
Nach offiziellen Angaben sind bei den Operationen 28 Personen ums Leben gekommen, davon 2 Polizisten, über 100 Gefangene sind bei den gewaltsamen Erstürmungen verletzt worden. Die Ordnungskräfte setzten verschiedene Gase und Schusswaffen ein. In den Gefängnissen, wo Gefangene sich in Zellen verschanzt hatten, drangen Soldaten mit schweren Baumaschinen ein, indem sie Löcher in die Gefängniswände rissen. Noch ist es nicht möglich, genaue Zahlen von Toten und Verletzten zu nennen. Menschenrechts-Organisationen rechnen jedoch aus Erfahrung mit einer höheren Zahl von Getöteten und Verletzten. Noch immer herrscht ein Chaos, suchen verzweifelte Verwandte nach ihren Angehörigen und müssen die Namenslisten der Getöteten und Verletzten täglich korrigiert werden.

Istanbul im Belagerungszustand

Bereits bei unserer Ankunft in Istanbul spürten wir die bedrohliche Stimmung, die in der Innenstadt herrschte. Das bevorstehende Ende des Fastenmonats Ramadan erhöhte die Nervosität wohl noch zusätzlich. Der Menschenrechtsverein, IHD, und andere Menschenrechts- und politische Organisationen, hatten seit Beginn der Operationen täglich Demonstrationen organisiert, die auf der Istiklâl Caddesi, einer der Haupteinkaufsstrassen Istanbuls, stattfanden. Die Hälfte des Taksim-Platzes ist bis heute von der Polizei abgeriegelt, um grössere Ansammlungen von Menschen zu verhindern und Präsenz zu markieren. Die Demonstrationen verliefen alle nach einem ähnlichen Muster: Ein Grossaufgebot von Polizisten drängte die Demonstrierenden in eine der Seitenstrassen, beschoss sie mit Gummigeschossen und spritzte sie mit kaltem Wasser ab. Nachdem ein Kälteeinbruch stattgefunden hatte und die Temperatur in den Tagen während und nach den Operationen nur knapp über Null Grad lag, eine harte Prozedur. Die Polizeikräfte waren dabei klar darauf aus, sich für die beiden getöteten Polizisten zu rächen. Sie skandierten: "Menschenrechtler und Linke raus", "wir kriegen euch" und "Rache, Rache, Rache...". Dabei gingen sie täglich brutaler auf die Demonstrierenden los und schlugen mit Gummiknüppeln auf sie ein. Zahlreiche AktivistInnen wurden dabei festgenommen.

Problematische Berichterstattung

Die TV-Sender sendeten stundenlange Live-Berichte zu den Operationen, die jedoch zur Hauptsache von Kameramännern der Polizei stammten, die auf den Dächern der Gefängnisse postiert waren. Es herrschte strikte Zensur. Der Justizminister, Sami Türk, warnte gar einen Moderator am Fernsehen: "Wagen Sie es nicht, die Operationen des Staates in Frage zu stellen!" Journalisten hatten zu diesem Zeitpunkt noch keinen Zutritt zu dem Gelände, jedoch überschlugen sich die Spekulationen. Die Polizeiüberfälle wurden richtiggehend abgefeiert und mit jedem "Sieg" gegen die sich zum Teil heftig zur Wehr setzenden Häftlinge traten die Regierungsvertreter selbstbewusster auf. Gross zu Reden gab ein sogenannter Telefonanruf, den die Polizei abgehört haben will. Dabei sollen die Angehörigen der verbotenen, von der Türkei als terroristisch bezeichneten, marxistisch-leninistischen Organisation DHKP/C vom Hauptquartier in Brüssel aus dirigiert worden sein. Ein fragwürdiger Tonbandmitschnitt, der aus Sicht politischer Linker aufgrund der Wortwahl eindeutig aus der Polizeiküche stamme, wollte zudem weismachen, ein "Chef" im Gefängnis habe den Gefangenen den Befehl erteilt, sich selbst in Brand zu setzen. Die Berichterstattung reichte von drei Gefangenen, die sich angezündet hätten, bis hin zu 16 Gefangenen, die sich auf Befehl von Oben in lebendige Fackeln verwandelt hätten. Laut diesem Bericht stammen alle Kugeln, die die restlichen Gefangenen und zwei Soldaten getötet haben sollen, aus Waffen der Insassen, was laut Augenzeugenbericht schlicht ausgeschlossen ist. Rechtsnationalistische Revolverblätter unterstellen den Häftlingen wahre Waffenlager, die sie in den Gefängnissen gehortet hätten. Allerdings stellt ein Hürriyet-Journalist die Frage, wie die Waffen denn in die Gefängnisse kommen könnten, wenn nicht mit Unterstützung der Gefängisse selbst. (Siehe auch Pressespiegel (Anhang I) am Schluss des Berichts.)
Ebenfalls im Anhang befindet sich die deutsche Übersetzung der Erklärung des Zentralsekretariats des Menschenrechtsvereins IHD in Ankara (Anhang II).

Fazit

Das Klima in der Türkei ist infolge dieser Operationen merklich repressiver geworden. Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen sowie progressive Parteien und Personen sind schockiert und ratlos ob der Härte, die sämtliche Konventionen verletzt, die der Staat gegen die Gefangenen angewendet hat. Die Gefängnisse sind faktisch im Ausnahmezustand und in den Händen der Armee. Alle Gesprächspartner befürchten weitere Schläge gegen die sogenannte Linke. Immer wieder hat man uns erklärt, das öffentliche Klima sei wie Ende der Siebzigerjahre, kurz vor dem Militärputsch. Antidemokratische Kräfte gewinnen immer mehr die Oberhand - bei den Behörden und in der Politik gleichermassen. Die Bevölkerung wird mit falscher Berichterstattung systematisch irregeführt.
Wir unterstützen die Forderung nach einem internationalen Monitoring. Die Vorkommnisse müssen untersucht und die Gefangenen dürfen ihren Peinigern nicht schutzlos ausgeliefert werden. Beim allergrössten Teil der Inhaftierten handelt es sich um Gewissensgefangene, die aufgrund ihrer politischen Gesinnung im Gefängnis sitzen und nicht weil sie ein Verbrechen begangen haben. Aber selbst jene Gefangenen, die ein schweres Delikt begangen haben, haben Anrecht auf menschenwürdige Behandlung.
Wir fordern PolitikerInnen, NGO, Ärzte- und Anwaltsorganisationen sowie Medienschaffende auf, sich gemeinsam mit den lösungswilligen Kräften vor Ort ein Bild zu verschaffen und nach nachhaltigen Lösungen zu suchen.
Marianne Roth

Beilagen:
1. Gespräch mit Filiz Köstak, Anwältin
2. Gespräch mit Suna Parlak, Gefangene
Anhang I: Pressespiegel
Anhang II: Erklärung des Türkischen Menschenrechtsvereins IHD