Die Rolle des Militärs
Die Türkei besaß
immer ein von militärischen Kräften durchsetztes Machtzentrum,
und alle Verfassungen der Republik Türkei (1924, 1961 und 1982) sind
von den Militärs ausgearbeitet worden. In den letzten 76 Jahren wurde
das Kräfteverhältnis ständig zugunsten der Militärs
verschoben. Nach dem Putsch 1960 nahm die Zahl der Generäle im Zentrum
der Macht zu. Seit dem Militärputsch 1980 und der Verfassung von
1982 dominieren sie. Dank dieser Entwicklung hat die Armee die Legislative
und Exekutive in der Hand, kann nach ihren Interessen den politischen
Kurs bestimmen und konnte sogar Teile der Judikative (z.B. Staatssicherheitsgerichte)
unter Kontrolle halten. All dies ist legal und nicht verfassungswidrig.
Eigentlich hätte sich eine entgegengesetzte Entwicklung vollziehen
müssen. Mit der Zeit hätte innerhalb der letzten 76 Jahre das
Gewicht des Militärs abgebaut werden müssen. Da aber in der
Türkei die Militärs "unantastbar" sind, geriet ihr
Einfluss bis heute nie wirklich in Gefahr. Ihre Methoden sind aber "moderner"
geworden: um ihre Macht zu demonstrieren, brauchen die türkischen
Generäle nicht mehr im Schutz der Nacht zu putschen. Stattdessen
lassen sie nur, wie z.B. im Frühjahr 1997 in der Stadt Sincan bei
Ankara, mit einem Dutzend Panzern "die Waagschalen der Demokratie
überprüfen und ins rechte Lot bringen".(1)
Der 28. Februar 1997 ging als Tag des unblutigen postmodernen Putsches
in die Geschichte der Türkei ein.(2)
Im Juni 1997 schließlich haben die Militärs die Wohlfahrtspartei
Refah von Ministerpräsident Necmettin Erbakan, die aus den letzten
Wahlen mit 6 Mio. Stimmen als stärkste Partei hervorgegangen war,
aus der Regierung gejagt und an seine Stelle als Ministerpräsident
im "nationalen Konsens" den Vorsitzenden der Mutterlandspartei
ANAP Mesut Yilmaz gestellt. Dennoch dauerte es wiederum nicht lange, bis
auch die neue Regierung mit Ultimaten der Militärs traktiert wurde,
weil sie zögerte, gegen die islamischen Kräfte vorzugehen. Am
20. März 1998 drohten die Generäle diesmal Yilmaz: "Die
Türkische Armee ist allen Regierungen der Republik, die das Vertrauen
unserer Hohen Nation erlangt haben, verbunden, achtet sie und würdigt
ihre Erfolge. Jedoch, unabhängig von Amt, Position und Aufgabe kann
niemand wegen persönlicher Vorteile oder aus politischem Ehrgeiz
Schritte unternehmen, Erklärungen abgeben oder Ratschläge erteilen,
die die Armee von ihrer Entschlossenheit zum Kampf gegen separatistische
und religiös reaktionäre Entwicklungen abbringen, sie schwächen
oder in Zweifel ziehen könnten."(3)
Obwohl Yilmaz einen Rückzieher machte, lag bald darauf ein neues
Ultimatum auf dem Tisch, weil der Maßnahmenkatalog der Militärs
vom 28.2.97 immer noch nicht umgesetzt worden war. Durch eine Mahnung
am 5. Juli 1998 hielten die Generäle die Regierung Yilmaz unter Kontrolle.
Trotzdem zeichnete Yilmaz den ihm mehrmals drohenden Generalstabschef
Ismail Hakki Karadayi wegen "seiner großen Verdienste und Leistungen
für die Nation" mit dem höchsten Orden aus - eine Art Krönung
der Militärherrschaft.(4)
In einer normalen Gesellschaft wird die Verfassung vom Volk, d.h. von
den vom Volk gewählten Vertretern, geschaffen. In der Türkei
dagegen übernimmt diese Aufgabe seit Gründung der Republik das
"heldenhafte türkische Militär" im Namen des Volkes,
im Namen der Volksvertreter. Drei Verfassungen wurden von ihm unterzeichnet,
in denen es dem Volk und den Volksvertretern vorschreibt, was richtig
und was falsch ist und ihnen hierbei die Grenzen des Erlaubten aufzeigt.
Die Politiker hingegen haben nicht den Mut, gegen die Militärs aufzubegehren,
und daher ist es auch unbedeutend, welcher Couleur, welcher politischen
Richtung sie angehören, sie kommen nie davon los, nur die schlechten
Kopien ihrer Vorgänger zu sein.
Blickt man auf die letzten 30-40 Jahre und die jeweiligen Akteure (Demirel,
Ecevit, Erbakan etc.) zurück, so ist dieser Sachverhalt leicht zu
erkennen. Jeder der Akteure hat versucht, die Konkurrenten mit dem Schreckgespenst,
die Armee rücke ein, in die Schranken zu verweisen und dabei handlungsunfähig
zu machen. Und immer wieder gibt es Instruktionen, Ultimaten und Warnungen
der Armee, mit denen Akteure, die die Grenzen überschreiten, zur
Räson gebracht werden sollen.
(1)Das
Zitat wird dem damaligen stellvertretenden Generalstabschef Cevik Bir
zugeschrieben. Er galt bis zum August 1998 als der "Geschäftsführer"
des wahren Machtzentrums. Er war auch derjenige, der im Frühjahr
1997 die Panzer auf den Straßen von Sincan rollen ließ. Am
4. Februar 1997 ließ das Militär in dem Vorort von Ankara,
der von dem der Refah-Partei zugehörigen Bürgermeister Bekir
Yildiz verwaltet wurde und wo wenige Tage zuvor bei einer von islamischen
Fundamentalisten veranstalteten Theateraufführung in Anwesenheit
des iranischen Botschafters die Umwandlung der Türkei in einen islamischen
Gottesstaat gefordert wurde, als Machtdemonstration über 20 Panzer
auffahren.
(2)An
diesem Tag haben die Militärs gegen den damaligen Ministerpräsidenten
Necmettin Erbakan mobil gemacht und der Regierung einen Maßnahmenkatalog
gegen die islamischen Kräfte unterbreitet.
(3)'Memorandum
an die Hohe Türkische Nation' des Türkischen Generalstabs vom
20.3.98.
(4)Hürriyet,
1.8.98
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