I. Die VorgeschichteMilitärdemokratur'
oder: "Demokratie à la Turquie"
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Das wahre Machtzentrum hat seine eigene VerfassungTatsächlich wird das Land aber vom Militär regiert, und zwar auf der Basis seiner eigenen "Verfassung". In dem Dokument, das sich "Politikdokument der Nationalen Sicherheit" (5) nennt, werden die Grenzen der offiziellen Verfassung definiert und festgelegt, welche Tabus im Staat herrschen und wer als Feind zu gelten hat.Die Generäle als die wahren Machthaber, als der unsichtbare Staat im Staate, haben diese Verfassung, die je nach Bedarf überarbeitet wird, zuletzt am 31. Oktober 1997 aktualisiert und dabei dem Staat und dem Volk zwei Hauptfeinde und vorrangige Angriffsziele genannt. Das erste und allgemein bekannte ist der "Separatismus", also der Kampf der Kurden um Gleichberechtigung, das zweite hingegen sind islamische Strömungen, die als "Fundamentalismus" und religiöser Fanatismus bezeichnet werden. Folgende Punkte sind in der aktuellen Fassung der 'geheimen Verfassung' niedergeschrieben: 1. Separatistische und fundamentalistische Aktionen bilden eine Gefahr für den Staat und sollen vorrangig bekämpft werden. 2. Der politische Islam ist weiterhin eine Bedrohung für die Türkei. 3. Einige Kreise wollen den türkischen Nationalismus zum Rassismus umfunktionieren. Die faschistische Mafia will daraus profitieren. Dies ist auch eine Bedrohung für den Staat. 4. Die radikale Linke ist weiterhin eine Bedrohung. Aber es wird auch ein AufweichungsProzess beobachtet. 5. Mit den Turk-Republiken sollen die Beziehungen vertieft werden. Die Regierungen dieser Staaten sollen unterstützt werden, damit sie ihre Macht nicht verlieren. 6. Obwohl die Türkei keinen Zusammenstoß wünscht, darf bei den Beziehungen zu Griechenland die Bedrohung nicht außer Acht gelassen werden. 7. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sich im Falle eines Zusammenstoßes mit Griechenland auch Syrien daran beteiligen würde, gegen die Türkei Partei zu ergreifen. 8. Die bisherigen Beurteilungen bezüglich der Nachbarn der Türkei müssen beibehalten werden. 9. Es sollen Neustrukturierungen bezüglich der Pflege der kulturellen und regionalen Besonderheiten vorgenommen werden. Die öffentliche Verwaltung ist von dieser Maßnahme ausgeschlossen. 10. Im Bereich der Justiz und des Staatssystems sollen die Fehler und Defizite behoben werden. 11. Die Ausrichtung der Türkei nach Westen darf nicht verändert werden. Das Ziel der Türkei bezüglich der Mitgliedschaft in der EU muss beibehalten werden. Aber dabei darf die negative Haltung einiger europäischer Länder nicht außer Acht gelassen werden. 12. (Aus Gründen der Staatssicherheit kann dieser Punkt nicht veröffentlicht werden, weil er einen geheimen Beschluss des Staates darstellt.) 13. Damit die Türkei den Weltstandard erreichen kann, sollen die Privatisierung und die wirtschaftlichen Bemühungen verstärkt werden. Eben darum sind Kurden, die ihre Rechte einfordern, "Separatisten" und "Terroristen", und eine Studentin mit Kopftuch gilt in einem Land, dessen Bevölkerung nach offizieller Darstellung (Demirel) zu 99% aus Muslimen besteht, als eine "Fundamentalistin", eine "Staatsfeindin", die es zu jeder Zeit und unter allen Umständen zu stoppen und auszugrenzen gilt. Aufgrund dieser Tabus und Feindbilder werden, wie wir am Beispiel der DEP-Abgeordneten gesehen haben, im März 1994 gewählte Vertreter des Volkes ins Gefängnis geworfen, wird, wie wir in Sincan im Februar 1997 erlebt haben, die "Balance der Demokratie" mit Panzern wiederhergestellt, werden, wie das Beispiel des Istanbuler Oberbürgermeisters Recep Tayyip Erdogan, zeigt, Kommunalpolitiker unter lächerlichen Vorwänden abserviert (6), wird eine Frau mit Kopftuch, wie das Beispiel Merve Kavakci zeigt, die die Stimmen Zehntausender Wähler für sich gewonnen hat und als Abgeordnete der Tugendpartei ins Parlament eingezogen ist, von einem 75jährigen Staatspräsidenten als "agent provocateur" bezeichnet und mit schwindelerregendem Tempo ausgebürgert. Als eine US-Bürgerin kann sie dagegen bedenkenlos (7) Abgeordnete sein. Parteien werden eine nach der anderen verboten, weil sie anders denken als die Zentralgewalt, und so ist es zu der 'einmaligen' Rekordzahl von 22 verbotenen Parteien (8) gekommen. Doch nicht allein den Rekord an verbotenen Parteien hält das Land, es bricht jedes Jahr aufs Neue den Rekord bei der Zahl inhaftierter Intellektueller, Schriftsteller und Publizisten, die allein wegen ihrer Meinungen, die nicht in die Schablonen der offiziell erlaubten Ansichten passen, im Gefängnis sitzen. Nach dieser kurzen Vorgeschichte über die Rolle des Militärs in der Türkei können wir nun zu Atatürks Erbe übergehen und uns auf eine kleine Reise in die Vergangenheit begeben. (5)
Das
"Politikdokument der Nationalen Sicherheit - Milli Güvenlik
Siyaset Belgesi" gilt in der Türkei als 'geheime Verfassung'
des wahren Machtzentrums des Staates. Dieses Dokument wurde Mitte der
60er Jahre formuliert und nach dem Militärputsch vom 12. September
1980 sowie erneut 1992 geändert. Zu seiner bisher letzten Überarbeitung
kam der Nationale Sicherheitsrat am 31. Oktober 1997 zusammen. Der Bericht
wurde in Form von zwei Büchern und 10 Anlagen dem Ministerrat zur
Beschlussfassung und Umsetzung vorgelegt. (6) Erdogan wurde wegen eines von ihm vorgetragenen Gedichts vorgeworfen, unerlaubte islamistische Propaganda mit dem Ziel des gewaltsamen Umsturzes des Staates betrieben zu haben. (7)
die tageszeitung (taz) und Hürriyet, 17.5.99 |