Eröffnungsrede zum Gerichtsjahr
1999-2000
Dr. Sami Selcuk,
Erster Vorsitzender des Kassationsgerichtshofes
Wenn unter
"Krise" der Umstand zu verstehen ist, dass "ein Land bei
dem Versuch, mit der raschen Entwicklung und dem Wandel in der Welt Schritt
zu halten, die Probleme, mit denen es konfrontiert wird, nicht richtig
wahrzunehmen und zu nutzen vermag, weil es nicht über ausreichend
Perspektiven gesellschaftlichen Wandels verfügt, dass infolgedessen
dieses Land nicht in der Lage ist, die besagten Probleme zu lösen
oder zu falschen Lösungen schreitet" (Türkiye Bilimler
Akademisi), dann steckt die Türkei in einer solchen Krise. Dies zu
lösen wiederum ist unsere Aufgabe. (...)
Tatsächlich brauchen Diktaturen große Führer, Demokratien
hingegen vor allem große Bürger, die sich selbst ernst nehmen
und über Bewusstsein und Verantwortung verfügen. (...)
Lassen Sie mich jetzt an diesem historischen Tag als Türke, als Jurist,
als Bürger, unter dem Bild von Atatürk, vor Ihnen und mit Ihnen
gemeinsam die Hauptfragen stellen und sie im Lichte der Wissenschaft beantworten:
Was bedeutete der Atatürkismus, welches Ziel verfolgte er langfristig?
Was ist eine zeitgemäße Demokratie? An welchem Punkte befindet
sich die Türkei?
ATATÜRKISMUS
Der Atatürkismus
bezieht sich auf die 30er Jahre, also auf eine Epoche, die unwiederbringlich
vorüber ist, auf Atatürks Lebzeiten.
Seine Verteidiger leben in der anachronistischen Ironie, die 30er Jahre
auf die 80er, 90er Jahre, die Vergangenheit auf die Gegenwart zu übertragen;
und in einer Welt, die sich tagtäglich erneuert, reden sie paradoxerweise
ständig im Perfekt. Wer mit kritischem Rationalismus den Atatürkismus
hinterfragt, den bezichtigen sie des Vaterlandsverrates. Sie tun so, als
wüssten sie nicht, dass Kritik die Lebensader ist, die eine Strömung,
eine Ideologie nährt, dass diese Strömung verkümmert und
sich nach innen kehrt, dass sie melancholisch wird, dass sie zu einer
eindimensionalen Struktur verkommt, wenn es Kritik nicht gibt, dass sie
nach dem Newton'schen Trägheitsgesetz gar aufhört zu existieren.
Vom Inhalt her begnügen diese verdeckten "Antikemalisten"
sich mit einer platonischen Bewunderung, wie man sie einem sagenhaften,
übernatürlichen Helden gegenüber empfindet, doch sie sind
nicht in der Lage, ihr Gehirn anzustrengen und der Sache auf den Grund
zu gehen. Daher auch wiederholen sie, statt sich der Wissenschaft zuzuwenden,
mit dichterischen, parolenartigen, oberflächlichen Worten den lieben
langen Tag jene seichten Aussagen voll von hohlem Heldenmut und machen
Atatürk zu einer Ware. Oder mit den Worten von Umberto Eco ausgedrückt:
Der Moment ist gekommen, da einem sehr großen Helden, der ein großes
Feuer gelöscht hat, der Titel Feuerwehrmann verliehen wird. (...)
Menschen lernen aus der Vergangenheit, doch sie leben nicht in der Vergangenheit,
sondern in der Gegenwart.
Eine Rückkehr in die 30er Jahre ist unmöglich. Versucht man
es dennoch, so entgleitet uns die Gegenwart aus der Hand, und der Wind
der Zukunft hört auf zu wehen. Wenn es gelingt, eine Lehre aus den
30er Jahren zu ziehen, jedoch ohne ein Ansinnen darauf, der Hüter
der 30er Jahre sein zu wollen, eine Zukunft im Lichte der Wissenschaft
zu schaffen, dann erst wird man zum Erben Atatürks, dann ist man
Atatürkist. Das sollten wir alle wissen.
Die Zeit ist reif, sich aus dem geistigen Schlittern zu befreien und nicht
die 30er Jahre wieder herbeizureden, sondern mit Blick auf die Zukunft
die Gegenwart zu studieren und so den Atatürkismus dauerhaft zu etablieren.
Die 30er Jahre waren die Epoche, da der Grundstein gelegt wurde für
die physiologische Funktionalität der freiheitlichen, pluralistischen,
partizipatorischen und auf Diskussion beruhenden Demokratie, für
das Heranziehen eines demokratischen Menschen mit "einer freien Meinung,
einem freien Wissen und Gewissen". (...)
Lasst uns nicht vergessen: eine Gesellschaft kann sich nicht tagtäglich
mit einer glorreichen Geschichte, einem Befreiungskrieg, mit Revolutionen
und einem Führer, der hierbei eine unvergleichbare Rolle gespielt
hat, mit dem Versuch des Aufbaus einer Demokratie, die nie ins Wanken
geraten sei, rühmen. Sich allein mit dem Ruhm zu begnügen, bedeutet
nach François Jacop, unter der "Gefahr der Erstarrung in der
Beispielhaftigkeit" zu leben. Wir haben kein Recht dazu. Lasst uns
in die Zukunft blicken. An der Schwelle des Jahres 2000 müssen wir
die Demokratie richtig deuten und definieren, damit sie nicht zu einem
formalen Dekor verkommt.
Daher lasst uns die zweite Grundfrage stellen und beantworten: Was ist
eine zeitgemäße Demokratie?
ZEITGEMÄSSE
DEMOKRATIE
Zeitgemäße
Demokratie bedeutet, dass eine aufgeklärte und freie Bevölkerung,
bestehend aus freien, unabhängigen und gleichberechtigten Individuen,
unter der Souveränität des Rechts und nach zivilgesellschaftlichen
Normen, die auf Freiheitlichkeit, Pluralismus und Partizipation beruhen,
von einer freien Bevölkerung, für eine freie Bevölkerung
regiert wird.
Freiheit
Aus dieser
Definition ergibt sich, dass die Grundsubstanz und der gemeinsame Nenner
der Demokratie die Freiheit ist.
Das Wesen der Demokratie konzentriert sich auf die Freiheit, nicht auf
die Ausübung der Macht. Wenn die Freiheitlichkeit erst einmal verinnerlicht
wurde, folgt der Rest auf dem Fuße. Rechte und Freiheiten entstehen
zusammen mit der Gesellschaft. Ist die Gesellschaft demokratisch, so hat
sie dies ohnehin verinnerlicht.
Kurz zusammengefasst, im Brennpunkt der Demokratie steht ein freies/autonomes
Individuum, das mit Rechten und Freiheiten ausgestattet und frei von Unterdrückung
ist. Alles positioniert sich um diesen Brennpunkt herum. Die Demokratie
als Gesamtheit der Institutionen, Organisationen, Methoden und Techniken
wurde auf der Freiheit gegründet; der Freiheit, die als ein Wert
im Sinne von Selbstbestimmung zu verstehen ist.
Die Freiheit des Individuums beginnt damit, dass die freie Meinung gewährleistet
sein muss. Hierfür muss sich der Staat neutral gegenüber Meinungen
und Glauben verhalten. Ein neutraler Staat stellt bezüglich der Meinung
die Meinungsfreiheit, bezüglich des Glaubens den Laizismus unter
Garantie. In staatlichen Schulen werden dem Individuum die Erkenntnisse
der Wissenschaft, ohne den Filter einer ideologischen Sichtweise, neutral
und objektiv vermittelt, die Möglichkeit für eigene Interpretationen
steht offen. Das Individuum trifft mit seinem freien Verstand seine eigenen
Bewertungen, seine ganz persönliche Wahl, ohne voreingenommen zu
sein. Das Individuum ist der Mensch und dieser als solcher lernfähig.
Daher vermittelt die Schule auch Bildung, nicht Erziehung. Die Demokratie
ist Republik der Meinungen und Glauben. Sie lehnt gegenüber Meinungen
nicht nur rohe Gewalt ab, sondern auch indirekte Unterdrückung in
Form von Gehirnwäsche. Eine Bildung, die ideologisierend und nicht
auf der Basis von Skepsis, nicht hinterfragend ist, ist nicht demokratisch.
Eine demokratische Gesellschaft braucht keine missionarischen, organischen
Intellektuellen, die einer Gehirnwäsche unterzogen wurden, keine
braven Bürger, die dafür bestimmt sind, die staatlichen Behörden
zu füllen, sondern Individuen, die es sich nach Sokrates-Manier für
die Entwicklung der Gesellschaft zur Gewohnheit gemacht haben, alles mit
kritischem Rationalismus zu hinterfragen. Und Aufgabe der Schulen ist
es, solche Bürger heranzuziehen. Denn das Individuum hat zum Wohle
der Gesellschaft die Freiheit, nicht wie der Staat zu denken, sondern
"die bestehende Ordnung zu hinterfragen, zu kritisieren, zu rügen,
ja selbst zu verurteilen" (Laski). Tatsächlich beruht die Demokratie
auf dem Kampf der individuellen Freiheit mit der Ordnung, und das ist
der Kampf von gestern, heute und morgen.
Das edelste Organ, das den Menschen zu dem macht, was er ist, ist sein
Verstand, und das heiligste Produkt des Verstandes wiederum seine Meinung,
sein Glaube. Jedermann und auch der Staat müssen dies respektieren.
Dieser Respekt zeigt sich in dem Moment, da das Individuum die von ihm
entwickelte Meinung, den Glauben der Außenwelt zu erkennen gibt.
"Denke, aber behalte deine Meinung für dich" bedeutet,
man soll überhaupt nicht denken. Das Individuum muss nicht nur denken,
sondern seine Meinung mit allen möglichen Mitteln verbreiten können.
Wenn man die Veröffentlichung der Meinung, des Glaubens mit Verboten
und kosmischen Strafen zu verhindern versucht, wenn sie in einer Bewusstseinswelt
gefangen wird, die Münder gestopft, die Stifte zerbrochen werden,
dann tritt der Zustand ein, den Alfonso Reyes so beschreibt: "Mit
zusammengebissenen Zähnen kann man keine Freiheitslieder singen".
Eine derartige Gesellschaft hat das Zeitalter der Jäger und Sammler
noch nicht überwunden, sie ist primitiv. Ihre Jagdbeute besteht allerdings
aus Meinungen, aus Glauben, aus menschlichem Verstand, in letzter Konsequenz
aus dem Menschen, der Gesellschaft an sich.
In einer freiheitlichen Demokratie singt jeder das Lied der Freiheit.
Da die Zähne nicht zusammengebissen sind, singt auch das Volk sie,
und zwar mit lauter Stimme.
Versuche, die Äußerung der Meinung und des Glaubens zu verbieten,
waren schon gestern unmöglich, und sie sind heute noch unmöglicher.
Denn "der Mensch kann zwar vernichtet werden, er kann aber nicht
zur Kapitulation gezwungen werden." (Hemingway). "Gedanken kann
man nicht erschießen" (Napoleon). Lasst uns die Welt von gestern
betrachten. Das Handeln von Sokrates stellte nach den Athener Gesetzen
einen Straftatbestand dar. (...) Doch vergessen wurde dabei, dass man
eine Meinung nicht unter Strafe stellen kann. Daher kennen wir keinen
einzigen der Namen der 502 Richter, die Sokrates verurteilt haben. Doch
seit 2398 Jahren "spricht der Verurteilte Sokrates" (F. Erem),
und die Athener Justiz wird verflucht.
Doch es sieht so aus, als habe die Menschheit keine Lehre hieraus gezogen.
Verbote der Meinung sind immer zum Schaden der Gesellschaft. Ist die von
dem Verbot betroffene Meinung ganz oder auch nur teilweise wahr, so verarmt
die Gesellschaft, weil ihr die Wahrheit vorenthalten wurde; ist die Meinung
dagegen falsch, so verarmt sie, weil sie nicht die Möglichkeit hatte,
die Wahrheit noch klarer zu erkennen, sie kann nicht zu neuen Thesen gelangen,
sie bleibt dort stehen, wo sie sich gerade befindet.
Verbietet man den Menschen, ihre Meinung zu äußern, so ist
dies nicht allein ein Angriff auf die Person, die die Meinung gebildet
hat, sondern auch auf die Freiheit der anderen, die sie nun nicht hören
und würdigen können. Denn die Freiheit der anderen, eine Meinung
zu hören und sie zu würdigen, hängt davon ab, dass die
ersteren die Freiheit haben, ihre Meinung zu äußern. (...)
Die freie Meinungsäußerung darf auch unter dem Vorwand, man
würde die Freiheiten missbrauchen oder das demokratische System zerstören
wollen, nicht eingeschränkt oder verboten werden. (...)
Jedes Verbot hat das Verbotene nur gestärkt, den Widerspruch genährt.
Denn jede verbotene Meinung, jeder verbotene Glaube regt die Neugier an.
Eine verbotene Meinung, ein verbotener Glaube wächst über sich
hinaus. (...)
Ein Verbot schafft zunächst eine relative Ruhe. Doch die geht vorüber,
sie trügt. Denn ein Frieden, der durch Unterdrückung geschaffen
wird, ist nichts anderes als ein brodelnder Krieg. Der Grund, warum verbotene
Meinungen in einem Ausbruch von Brutalität nach Rache schreien, ist,
dass Unterdrückerregime kein inneres Immunsystem aufbauen können.
(...)
Kurz gefasst ist Freiheitlichkeit, vor allem die Freiheit des Verstands,
des Denkens und des Glaubens, etwas, das nur in einer Demokratie verwirklicht
werden kann und für diese wiederum unerlässlicher Bestandteil
ist. (...)
Ich wiederhole: Ein Rechtssystem, ein Staat, der die Freiheit willkürlich
beschränkt, ist ein Rechtssystem und Staat, der Verrat begeht an
der Grundsubstanz, die den Menschen zum Menschen macht: der Freiheit.
Und in einer solchen Ordnung ist weder das Recht noch der Staat legitim.
Pluralismus
Pluralismus
ist (...) die Grundvoraussetzung für Demokratie. Eine demokratische
Gesellschaft schließt kulturellen Monopolismus aus. Sie richtet
sich nach dem Gesetz der Natur. Diesem Gesetz zufolge hat jede Gesellschaft
soviele Meinungen wie Köpfe, soviele Lieben wie Herzen. Denn was
das Individuum zum Individuum macht, als Individuum definiert, ist seine
Eigenart, einzigartig und unvergleichbar zu sein. Das einzige gemeinsame
Merkmal der Menschen ist, dass sie unterschiedlich sind.
Wir leben im Zeitalter der Unterschiedlichkeiten, der Andersartigkeiten.
Das bedeutet Freiheit, Eigenart, Vielfalt, Andersartigkeit, Vielfalt in
der Logik, Polizentralismus, philosophischer, politischer, kultureller
Pluralismus und die Akzeptanz, dass es mehrere Wahrheiten geben kann.
Es bedeutet Ablehnung der vorgeschlagenen endgültigen Lösungen
und jeglicher Bevormundung.
Pluralismus ist die natürliche Konsequenz persönlicher Freiheit/Selbstbestimmung.
Wenn alle (...) frei und gleichberechtigt sind, dann müssen sich
die Individuen auch keinem Denkschema anpassen; denn sie sind Individuen,
keine "Sklaven". Das Individuum hat die Freiheit, sein eigenes
Schicksal selbst zu bestimmen. Als autonomes Wesen nimmt es am demokratischen
Prozess teil und bleibt auch so, wie es ist. Es gibt keinen einzig gültigen
Wert, sondern Wertevielfalt. Denn jedes Individuum hat das Recht, seine
Art zu leben in einen kulturellen Wert zu verwandeln.
Die Natur ist keine Klinik zur Schaffung des Einheitsmenschen; sie ist
vielfältig. Und auch Gesellschaften sind aufgrund ihrer natürlichen
Beschaffenheit so. Auch die Geschichte des Turmbaus zu Babel beweist,
dass selbst Gott die Idee einer Einheitssprache nicht gefiel. Eine zivile
Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die sich die pluralistische Beschaffenheit
im Wesen der den Menschen eigenen Werte zu eigen gemacht hat. Sie behauptet
nicht und beharrt nicht darauf, dass sie allein die Grundlagen der Vernunft
geschaffen habe. Sie ist weder rein individualistisch, noch rein kollektivistisch.
(...)
All dies offenbart, dass die Gesellschaft kein Geschöpf ist, das
die Ideologen, die Regierenden wie einen Teig kneten und formen können.
(...) Keine Kultur konnte je mit dem Stiefel vernichtet werden. Jeder
dahingehende Versuch hat sie nur stärker gemacht. Das Unterfangen,
den Einheitsmenschen zu schaffen, hat als gefährlicher Säuberungsversuch
stets zunächst nur seine Initiatoren vernichtet. (...)
Unter einem solchen Regime, in einem solchen Staat, der die Gesellschaft
in Zwangsjacken steckt, ist der Mensch gezwungen, sich eine Maske aufzusetzen
und unter falscher Identität herumzulaufen. Der einzige Ausweg für
das Individuum ist die Heuchelei. Niemand ist dort mehr er selbst. Die
Stimmen, die man vernimmt, sind Parolen, die sich wiederholenden Zeremonien
sind unfruchtbare Rituale. In einer Gesellschaft, bestehend aus pasteurisierten
Menschen, bildet sich eine Ansammlung von Kopien heraus. Organisationsleben
gibt es nicht, denn es gibt keine Andersartigkeit. So etwas nennt man
kulturellen Genozid. Die Menschen kennen, sie denken alle dasselbe, und
das ist die Wahrheit, die das Regime ihnen aufgezwungen hat. Und wenn
alle Menschen dasselbe denken, dann bedeutet das, dass eigentlich niemand
mehr denkt. Statt des Menschen gibt es nur noch Wesen ohne Persönlichkeit,
also "niemande" (Octavio Paz).
Doch ideologische, militante Staaten enden immer auf dieselbe Art. Sie
altern schnell. Denn sie erkranken an der tödlichen Krankheit des
Staatsversagens. Der Staat ist nicht legitim, da er die Menschen zu Sklaven
macht. (...)
Der Staat und jedermann muss dem Menschen Respekt zollen. Respekt gegenüber
dem Menschen, dem Menschen als Person, dem Menschen als Gruppe, den Dingen,
die ihm mehr wert sind als der Tod, der Kultur, der Sprache, der Identität.
Dieser Respekt ist eine der Komponenten der menschlichen Seele, seiner
Schöpfung. (...)
Pluralismus heißt Reichtum. Jeder Reichtum, jede Andersartigkeit,
die irgendeine Kultur der pluralistischen Kultur bringt, gibt den Anstoß
zu Entwicklung und Wandel. Darum auch verteidigen in pluralistischen Demokratien
die einen das Recht der anderen, ihre gegensätzlichen Meinungen zu
offenbaren so, als wären ihre eigenen Rechte betroffen. (...) Nur
wenn die Solidarität der Menschheit auf der Basis von Respekt gegenüber
kultureller Vielfalt realisiert wird, kann es Frieden geben. Wenn ermöglicht
wird, dass Menschen verschiedenster Kulturen und Identitäten miteinander
zusammenleben, gibt es Frieden. Denn ein pluralistisches Leben basiert
auf gegenseitiger Achtung. Was die Werte zwischen den Kulturen angeht,
herrscht unter der Souveränität eines neutralen Staates, eines
neutralen Rechtes Gleichberechtigung, und jede Kultur hat das Recht, ihren
Platz unter der Sonne einzunehmen. Kulturen dürfen einander nicht
verachten. Worte reichen nicht aus, den Schmerz wiederzugeben, den Kinder
auf dem Schulhof einem Kameraden zufügen, indem sie sagen: "Mit
dir spielen wir nicht", weil er angeblich anders ist. Dies ist ein
Verbrechen an der Menschlichkeit. (...)
Kulturelle
Identität
Eine
weitere Erscheinungsform der Pluralität ist die kulturelle Identität.
Gebräuche, Gewohnheiten, Sprachen, Meinungen, Glauben, ideelle Werte
und Schöpfungskraft bilden die Basis für das gemeinsame Bewusstsein,
die gemeinsame Identität als Grundbestandteil für Entscheidungen.
Der Begriff des Bürgers ist der rechtliche Code der kollektiven Identität,
die die Eigenarten in sich aufnimmt und legitimiert. Daher wurde auf der
Europäischen Konferenz für Kulturpolitik vom 19.-28. Juni 1972
auch gefordert, dass bereits mit der Schulbildung die Achtung vor kulturellen
Eigenarten vermittelt werden soll; und auf der Konferenz von Mexiko vom
26. Juli bis zum 6. August 1982 wurde betont, dass der Einsatz für
kulturelle Identitäten eine Gesellschaft nicht spalte, sondern sie
bereichere, und dass die Missachtung dieser Tatsache Krisen hervorrufe.
Wie man sieht, muss eine zeitgemäße Demokratie nicht die politische
Identität und politische Forderungen schützen, sondern die kulturelle
Identität, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe
wiederspiegelt, die den Menschen unter Beachtung seiner Besonderheiten
zu dem macht, was er ist. Dies ist die logische Konsequenz aus dem Pluralismus.
Die pluralistische Demokratie kennt keine Bevormundung und keine Vorherrschaft.
Denn sie duldet keine Dogmen, oder dass Dinge zu solchen gemacht werden.
(...)
Neutraler
Staat
Wenn
in einer Demokratie die Dimensionen der Freiheitlichkeit, Pluralität,
des kritischen Rationalismus und der Partizipation erst einmal verinnerlicht
wurden, dann etablieren sich alle Grundsätze, Begriffe und Institutionen
anschließend von selbst.
Dann wird der edukatorische, ideologisierende, der militante Staat, der
keine Andersartigkeiten duldet, der seine Anhänger begünstigt
und mit Privilegien ausstattet, seine Gegner hingegen verfolgt und maßregelt,
verschwinden und ein Staat kommen, der sich gegenüber Anschauungen
und Glaubensrichtungen neutral verhält. Ein Staat, der keinerlei
Anschauung, keinem Glauben mit Vorurteilen begegnet; ein Staat, der die
Meinungsfreiheit sichert, weil er weltanschaulich neutral ist und der
den Laizismus achtet, weil er religiösen Strömungen gegenüber
neutral ist. Es ist ein Staat, der das Schlechte sieht, aber es korrigiert,
ohne dabei seinen Grundprinzipien untreu zu werden, der nicht versucht,
alle Bereiche des Lebens zu kontrollieren, der sich nach Hegel'scher Manier
Uneinigkeiten gegenüber als neutraler Schiedsrichter verhält,
der nicht zulässt, dass soziale Schichten gegenseitig Druck aufeinander
ausüben; der berücksichtigt, dass der Reichtum, die Variabilität,
die Vielfalt, die Unvorhersehbarkeit des Lebens in kein festes Denkschema
hineinzuzwingen sind, der den Wettbewerb der einen mit den anderen fördert,
ohne sie gegeneinander aufzuhetzen, der dafür auch den rechtlichen
Rahmen schafft, der als Katalysator und "Garant" (Jean-Marie
Benoist) fungiert.
Das freie Volk
Die materielle
Stütze für den neutralen Staat ist das freie Volk, seine institutionelle
Stütze das Recht.
Ein Volk, das aus informierten und freien Bürgern, aus Individuen
besteht, erlaubt es weder eine Gruppe noch dem Staat, paternalistisch
zu sein. In einer freiheitlichen Demokratie besteht das Volk nicht aus
einem Haufen von Menschen, die mit zahlreichen anti-demokratischen Kräften
nach rechts und links schwanken, sondern aus einer Gemeinschaft, die sich
aus unabhängigen, freien und gleichberechtigten Subjekten zusammensetzt.
Sie sind die einzigen und wahren Machthaber. In einer Demokratie werden
Köpfe nicht zerschlagen, sie werden geachtet und gewürdigt.
Daher basiert die Regierung, die Macht auch auf dem Einverständnis
der Bevölkerung. Die Macht und die Legitimität der Entscheidung
wie des Staates beruhen auf dieser Achtung. (...)
Dabei hat niemand das Recht, an der Intelligenz eines Wählervolkes
zu zweifeln. "Die Unterscheidung des 19. Jahrhunderts, welche Gesellschaft
geeignet sei für die Demokratie und welche nicht, ist beendet. Im
20. Jahrhundert wurde der Maßstab, ob eine Gesellschaft demokratisch
regierbar sei durch das Postulat ersetzt, ob eine Gesellschaft nur dank
der Demokratie für diese reif werden und sie erreichen könne"
(Amartya Sen, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften
1998). (...)
In einer Demokratie ist nicht das Volk für den Staat, sondern der
Staat für das Volk da.
Recht
(...)
In einer Demokratie wird das Recht durch das Sieb der Gerechtigkeit, der
Staat hingegen durch das Sieb des gerechten Rechtes gefiltert, und was
dabei herauskommt, ist ein Staat, der das Primat des Rechts verinnerlicht
hat. Ziel des Rechts ist es, Ungerechtigkeiten zu verhindern. Das Recht
ist die organisierte Gerechtigkeit. Ein Gesetzestext muss gerecht sein.
Ein ungerechtes Recht ist nicht nur ein "falsches Recht", sondern
eine Anhäufung von Vorschriften, die der Natur des Rechtes fremd
sind (Radbruch), ein Etatismus im Recht. (...)
Gesetze müssen allgemeingültig und ohne Unterschied für
jeden, einschließlich diejenigen, die sie gemacht haben, anwendbar
sein, statt verdeckter Rechte bedarf es eines klaren Rechts, der Staat
muss transparent werden. Wo kein Recht herrscht, da wird das Volk zur
"Herde" (Goyard-Fabre) und der Mensch zum "Sklaven"
(Mauchaussat). (...)
In einem Staat, der auf dem Primat des Rechts basiert, steht niemand über,
aber auch niemand unter dem Recht, nur im Recht selbst. Jeder genießt
Gleichheit vor dem Gesetz; jede Anschauung, jeder Glaube lebt, wetteifert
und entwickelt sich gemeinsam unter der Souveränität des Rechtes.
Wird das Primat des Rechts ausgeschlossen, verwandelt sich selbst das
gerechteste Recht in ein Manipulationsfeld, in dem Willkür herrscht.
Statt Recht herrscht dort Gewalt, statt Freiheit Knechtschaft.
Gewaltenteilung
(...)
Macht darf sich nicht in einer einzigen Hand konzentrieren. In dem Moment,
wo Macht sich in einer einzigen Hand konzentriert, beginnt die Manipulation.
Nach Montesquieu wird das Recht zur brutalen Gewalt, wenn Legislative
und Exekutive sich in einer Hand vereinen, denn dann werden barbarische
Gesetze erlassen. Wenn die Legislative und die Judikative oder die Exekutive
und die Judikative sich in einer Hand vereinen, beginnt die Judikative
Gesetze zu erlassen und driftet in Willkür ab, oder die Exekutive
wird gewalttätig. In allen drei Fällen gibt es keine Freiheit.
Das schlimmste ist, wenn alle drei Gewalten sich in einer Hand vereinen.
Dann geht alles verloren. Ein Beispiel hierfür ist das Osmanische
Sultanat, das alle drei Gewalten in Händen hielt und eine ungeheuerliche
Unterdrückung ausgeübt hat. Außerdem muss die Armee der
Exekutive und nicht der Legislative angehören. Gehört sie der
Legislative an, so bedeutet das Militärherrschaft. (...)
Das Prinzip der Gewaltenteilung ist auch heute eine der Grundlagen der
Demokratie, und sie findet sich in vielen Verfassungen wieder. Saint-Just
sagt: "Diktatoren spalten das Volk, um ihre Herrschaft fortzusetzen.
Also spaltet auch Ihr die Macht, wenn Ihr die Herrschaft der Freiheit
fortsetzen wollt". In der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte
von 1789 wurde betont, dass Verfassungen, die keine Gewaltenteilung vorsehen,
nicht als Verfassungen zu werten sind (Art. 16). (...)
Die Justiz muss unabhängig sein. Denn im Recht darf niemand sein
eigener Richter sein. Wenn diejenigen, die die Gesetze erlassen und diejenigen,
die sie anwenden, ihre eigenen Richter werden, dann herrscht keine Freiheit
und Gerechtigkeit, sondern die nackte Gewalt, die Barbarei. Macht ist
der gnadenloseste Feind des Rechts. Und die gefährlichste Erscheinung
von Macht ist, wenn sie in roher Gewalt ausartet. Ein Staat, der nur noch
seine Macht ausübt, versklavt seine Bürger und beutet sie aus.
In einem solchen Staat gibt es die Justiz und Richter nur pro forma, aber
nicht in der Realität. Dort bleibt dem Volk keine andere Wahl, als
Schutz bei Gott zu suchen. (...)
Unabhängige
Justiz
(...)
Um die Position der Demokratie zu sichern, muss sie über eine Gewalt
verfügen, die das Recht ausübt und mit neutraler Logik im Namen
des Rechts in jedem einzelnen Fall sagt, was das Recht dazu sagt: und
ist die unabhängige Justiz. Wenn die Ausübung des Rechts nicht
in der Hand einer unabhängigen, autonomen Justiz ist, dann ist alles
umsonst. Eine Justiz, die das von der Gesellschaft anerkannte Recht nicht
objektiv anwendet, weil sie nicht unabhängig ist, wäre eine
Enttäuschung für die Gerechtigkeit und die Demokratie. Eine
Justiz, die politisch tendenziös ist oder bei der eine solche Tendenz
wahrscheinlich ist, die den Anschein erweckt, sie wiege das Recht auf
der Waage der Politik auf, mag noch so feinfühlig sein, es wird immer
eine schmutzige Gerechtigkeit dabei herauskommen. Und ein "Artikel,
der die Ungerechtigkeit" und den Schmutz in der Justiz "säubern
kann, ist bis heute noch nicht gefunden worden" (Connolly).
Im Verhältnis der politischen Macht zur Justiz wird immer der Stärkere
Einfluss auf den anderen nehmen. Ist die politische Macht stärker,
wird die Justiz politisiert, ist die Justiz stärker, wird sie die
politische Macht ins Recht einbinden und legitimieren.
Lasst uns nicht vergessen. Die Politik ist ständig mobil, sie hält
nie still, sie wartet nicht ab. In dem Moment, da das Recht beginnt, die
Politik in ihrer Ruhe zu stören, beginnt die politische Macht mit
dem Recht und der Justiz zu spielen.
Nur eine unabhängige Justiz, nur ein unabhängiger Richter kann
nach dem Prinzip der objektiven Logik, frei von jeglichen Einflüssen,
unparteiisch als dritte Autorität Recht sprechen. (...)
Die Unabhängigkeit der Justiz ist eine Notwendigkeit, damit der Richter
gegenüber der Legislative, der Exekutive, einem anderen Rechtsorgan,
der öffentlichen Meinung und gegenüber seinem eigenen Glauben,
seiner Weltanschauung neutral urteilen kann, damit die Grundsätze
"Gleichheit vor dem Gesetz" und "gleiches Recht für
alle" realisiert werden können. Weder staatliche Organe noch
die hitzige Logik der Straße dürfen Einfluss auf den Richter
nehmen. Der Richter ist jemand, der während der Rechtsprechung, während
der Entscheidung seinen eigenen Glauben, seine Ansichten auf der Schwelle
zum Gerichtssaal zurücklassen muss.
Selbst wenn alle Mitarbeiter staatlicher Organe Engel wären, müssten
alle staatlichen Handlungen durch das Recht bzw. durch die Justiz überprüft
werden bzw. wenigstens überprüfbar sein. (...)
UND
DIE TÜRKEI
(...)
Die Menschheit hat sich in dem gemeinsamen Nenner Rechte und Freiheiten
vereint; Menschenrechte und -freiheiten sind nicht länger die innere
Rechtsangelegenheit eines Staates, die Kontrolle darüber, wie ein
Staat seine eigenen und die übrigen Bürger behandelt, durch
andere Staaten oder ehrenamtlich tätige Institutionen, also die Einmischung
von außen, ist legitimiert worden, nationale Grenzen sind brüchig
geworden. Internationale Menschenrechtserklärungen bzw. -abkommen
sind zu einem universellen Ethikcode und zur gemeinsamen Verfassung der
Menschheit geworden. (...)
Die Demokratie der 50er Jahre ist vorbei, sie reicht der Welt nicht. Daher
versucht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, das
Europäische Abkommen über Menschenrechte und -freiheiten durch
umfassende und weitreichende Kommentare dem neuen Verständnis anzupassen.
Die Türkei ist einer der Baumeister dieses Abkommens, und sie hat
es in sein internes Recht aufgenommen. Genau so wie einst das Schweizer
Zivilrecht und das Italienische Strafrecht aufgenommen wurden. Doch ihre
Demokratie hat sie nicht einmal auf den Stand des Abkommens von 1950 gebracht.
Sie wird immer wieder aufs Neue verurteilt.
Wir wissen, dass die Türkei das Land ist, das dem Westen am nächsten
steht. Doch die Loslösung vom Feudalsystem, die Renaissance, die
Reformation, die Aufklärung, die industrielle Revolution, diese bindende
gemeinsame Kultur hat sie nicht mit durchgemacht. Für ihre Individuen
waren Begriffe wie Freiheitlichkeit, Pluralismus, Gleichheit, Demokratie,
Säkularisation und Laizismus fremd. Diese universellen / theoretischen
Begriffe, die sie nur 'geliehen' hat, hat sie inhaltlich entleert und
dann mit eigenen Werten gefüllt. (...)
Anstatt die Republik auf der Demokratie als die Regierungsform, die ihr
am nächsten steht, aufzubauen, sie für sie zu gewinnen, wird
so getan, als wären Republik und Demokratie Gegensätze zueinander.
Anstatt dass die Demokratie die Republik lenkt, regiert die Republik die
Demokratie. (...)
Beziehung
Religion und Staat: Theokratie, Laizismus, Laizität, Säkularisierung
Die Türkei,
die sich bezüglich der Beziehung von Religion und Staat Frankreich
zum Vorbild genommen hat, leidet darunter, sich von den Krankheiten, die
Frankreich erlebt hat, nicht befreien zu können; nach wie vor ist
die Laizität die Schwachstelle der Republik Türkei.
Die Haltungen, die der Staat gegenüber Religionen haben sollte, sind
eindeutig.
Im ersten Falle sind religiöse und politische Autoritäten in
nicht klar voneinander abzugrenzender Weise miteinander verwoben. So war
das in den Staaten des Altertums und des Mittelalters.
Im zweiten bestimmt die Religion das gesamte private und das öffentliche
Leben. Der Staat ist theozentrisch und wird von unveränderlichen
und unantastbaren Dogmen regiert. Der Staat hat nur eine Religion, die
übrigen sind ausgeschlossen. Eine solche Regierungsform nennt sich
Theokratie und hat überall stets nur zu Ungleichheit, Privilegien
und Konflikten geführt.
Im dritten Fall geht man von einer Trennung von Religion und Staat aus.
Da jedoch der Staat die Dimension und den Grad bestimmt, inwieweit diese
Trennung vollzogen wird, hält der Staat meistens die Religion aus
der Gesellschaft fern oder er lenkt sie. Ein solches System, das die Religion
verstaatlicht, ist nicht Laizität, sondern Laizismus. So wie der
Chauvinismus die entartete, krankhafte Form des Nationalismus ist, so
ist der Laizismus in gewissem Sinne die entartete, krankhafte Form der
Laizität. Die Wiege des Laizismus, der darauf gerichtet war, sich
von der Religion zu befreien, war das Frankreich der Französischen
Revolution.
Tatsächlich war die Laizität im Frankreich der Jakobiner ein
Produkt des Hasses, der Reaktion, ein Produkt der Revolution gegen den
Klerus, um die Einflüsse, die der Klerus auf das Leben ausgeübt
hat, zu verwischen. Ein theozentrisches Verständnis ging, stattdessen
kam ein militant ratiozentrisches Verständnis. Das aber ist keine
Laizität, das ist Laizismus. Es handelt sich um eine starre Ideologie.
(...) Heute dagegen herrscht in Frankreich ein zunehmend mäßiger
werdender Laizismus; also keine starre und feindselige Trennung von Kirche
und Staat, sondern eine gemäßigte und freundschaftliche Trennung.
Michelet sagt: "Die Französische Revolution hat keine Kirche
anerkannt. Denn sie selbst war die Kirche".
Auch wenn der Laizismus ein Verständnis ist, das vom Prinzip der
Trennung von Religion und Staat ausgeht, so ist es Holland und Irland,
die von demselben Prinzip ausgegangen sind, gelungen, den Laizismus zu
überwinden und auf friedvolle Weise die Laizität zu erreichen.
Die vierte Haltung ist die Laizität. Unter der Laizität sind
Religion und Staat voneinander unabhängig. Ausgehend von dieser Unabhängigkeit
dürfen religiöse Vorschriften nicht den Staat beeinflussen und
der Staat darf keine religiösen Vorschriften festlegen. Der Staat
verhält sich gegenüber sämtlichen Glaubensrichtungen neutral
und gleichermaßen distanziert.
In einer pluralistischen Demokratie ist dies die wahre und zeitgemäße
Bedeutung der Laizität. Denn der Pluralismus zwingt ohnehin zu dieser
Einstellung. Laizität und Verweltlichung (Säkularisation) sind
im Schoße pluralistischer Demokratien gewachsen. Sie ist zwangsläufig
das Spiegelbild der pluralistischen Dimension der Demokratie im Bezug
auf Religionen / Glaubensrichtungen. Ist eine Regierung demokratisch,
so muss sie pluralistisch sein; ist sie pluralistisch, so muss sie säkulär
sein. Daher ist die Laizität / Säkularisation in den angelsächsischen
Demokratien, die auf dem Primat des Rechts basieren, keine Folge einer
Revolution, sondern die einer natürlichen Entwicklung, ein soziologischer
Fakt. Denn in einer pluralistischen Demokratie darf keine geistige oder
religiöse Eigenart vernichtet, missachtet, monopolisiert oder anderen
aufgezwungen werden. Jede Religion, jeder Glaube hat das Recht, sein Schicksal
selbst zu bestimmen. Das sieht auch Art. 128 des EU-Abkommens so vor.
(...)
In einem säkulären Staat darf der Staat keine Religion, keinen
Glauben ausgrenzen oder begünstigen, da er zu allen Religionen die
gleiche Distanz wahrt; er darf sie auch nicht mit Geld o.a. unterstützen.
Er darf keine religiösen Schulen eröffnen. Er darf aber auch
nicht verhindern, wenn Gemeinden Religionsschulen eröffnen wollen.
Er darf Religionsunterricht nicht verhindern, er muss ihn ermöglichen.
Doch dieser Religionsunterricht darf keine Gehirnwäsche betreiben,
er muss auf pluralistischer, agnostischer und hinterfragender Basis stattfinden,
das Individuum muss frei zwischen den Religionen entscheiden können.
Religionsunterricht darf kein Pflichtfach sein, er muss jedoch jederzeit
für den Interessenten verfügbar sein. Der Staat muss diese Schulen
hinsichtlich der öffentlichen Ordnung, öffentlichen Sicherheit,
guten Sitten und öffentlichen Gesundheit kontrollieren, und im Falle
von Unstimmigkeiten muss ein unabhängiges Gericht das Problem lösen.
(...)
Lasst uns nun einmal unter Berücksichtigung der klaren Bedeutung
von Theokratie, Laizismus und Laizität die Büchse der Pandora
öffnen und die Diagnose stellen.
In der Republik Türkei stützt sich die Macht auf die Wahl des
Volkes. Von daher gesehen ist die Republik Türkei säkulär.
Das ist das Eine.
In der Republik Türkei ist das Kalifat abgeschafft. Die Scharia und
die Frommen Stiftungen sind dem Namen nach aufgehoben, tatsächlich
aber wurden sie dadurch, dass sie einem Minister unter dem Namen 'Präsidium
für Religionsangelegenheiten' unterstellt wurden, staatlich eingebunden.
Die Religion dieser Organisation ist der Islam, die Konfession sunnitisch.
Der Staat hat für diese Religion und Konfession offizielle Schulen
errichtet. Die Organisation und die Schulen werden staatlich finanziert.
Und in den staatlichen Schulen ist der Religionsunterricht Pflichtfach.
Lasst uns unter diesen Bedingungen einmal die Fakten würdigen.
Nach ontologischem Ansatz ist ein Staat, der eine religiöse, konfessionelle
Organisation in sich einbindet und verfassungsmäßig schützt
(Art. 136), der die Realisierung der Laizität erschwert (Parteiengesetz
Nr. 2820, Art. 89), der Schulen für diese Religion und diese Konfession
eröffnet und finanziert, ein religiöser und konfessioneller
Staat; er begünstigt eine bestimmte Religion und Konfession, er bekennt
sich gewissermaßen zu ihr. Ein solcher Staat ist theokratisch. Das
wäre das Zweite.
Betrachten wir die Sache jedoch teleologisch, sieht es völlig anders
aus. Der Staat gibt auf diese Weise Menschen, die ihre Religion nicht
preisgeben oder solchen, die einer durch das internationale Recht nicht
anerkannten Religion angehören, keinen Personalausweis, er kontrolliert
und beeinflusst die Religion durch das Präsidium für Religionsangelegenheiten,
das ihm untersteht, und durch die Religionsschulen, die er errichtet hat.
Dies wäre aber mit Laizismus zu bezeichnen. (...)
Die Diagnose ist klar: Die Republik Türkei ist hinsichtlich des Ursprungs
ihrer Souveränität ein säkulärer; von der staatlichen
Organisationsform her ein theokratischer und hinsichtlich des Einflusses
auf die Religion ein laizistischer Staat.
Nehmen wir die säkulären, die theokratischen und die laizistischen
Eigenschaften und Schwerpunkte einmal unter die Lupe, dann ist die Regierung
der Republik Türkei in mancher Hinsicht eine halbsäkuläre
Theokratie, in mancher Hinsicht wiederum ein halbsäkulärer Laizismus
unter der Tarnkappe der Demokratie. Sie ist jedoch nie ganz säkulär.
Und darum geht auch der unglückselige Streit weiter.
Ich meine, es ist genau der richtige Zeitpunkt, um den ideologischen Laizismus
und die Theokratie zu verlassen und sich wieder der Laizität zuzuwenden.
(...)
Gesinnungsdelikte
(...)
In der Türkei wurden 1993 60, 1994 102, 1995 83 und 1996 91 Journalisten
verhaftet; der Menschenrechtsstiftung der Türkei zufolge wurden 1993
18, 1994 45, 1995 46 und 1996 31 Schriftsteller als Gesinnungsdelinquenten
inhaftiert. Dem Menschenrechtsverein zufolge waren es 1997 sogar 153.
Einer anderen Aussage zufolge befanden sich 1997 in den Gefängnissen
von 22 Ländern insgesamt 180 Journalisten, davon allein 78 in der
Türkei, womit wir an erster Stelle stehen. Die Zahl liegt in Sambia
bei 1, im Sudan bei 2 und in Nigeria bei 8.
Diese Behauptungen muss man einmal würdigen. Die Türkei sollte
ins 21. Jahrhundert nicht als das Land derer eintreten, denen man per
Gesetz versucht, den Verstand zu verbieten und den Mund zu stopfen. Alles
was zu tun ist, ist die Rechtsvorschriften abzuschaffen, in denen es um
Gesinnungsdelikte geht, und die Vorschriften, in denen es um den Aufruf
und die Anstachelung zu strafbaren Handlungen geht, klar und eindeutig
zu formulieren.
In einer zeitgemäßen Demokratie ist der Staat Meinungen gegenüber
neutral. Er gebraucht das Recht, um Meinungen friedlich miteinander wetteifern
zu lassen, und nicht, um sie zu verbieten.
Unabhängigkeit
der Justiz und Gleichheit zwischen den Gewalten
(...)
Eine Justiz, bei deren Wahl der Ratsmitglieder (gemeint ist der Hohe Rat
der Richter und Staatsanwälte) Einfluss seitens der Exekutive, der
politischen Organe genommen werden kann, einem Rat, dessen Initiativkraft
dem Justizministerium untersteht, in dem Minister und Staatssekretäre
als natürliche Mitglieder zählen, der kein gesondertes Budget,
keine Einheiten und keinen Arbeitsbereich hat, dessen Sitzungen im Geheimen
stattfinden und dessen Verwaltungsbeschlüsse unanfechtbar sind und
der vom Ministerium kontrolliert wird, kann gegenüber der Exekutive
und der Legislative nicht unabhängig sein. (...)
Ein hochgeschätzter Justizminister kann in seiner Abschiedsrede selbstlobend
von sich sagen, er habe sich nicht in die Justiz eingemischt, er kann
dies als Tugend darbieten. Aus diesem Geständnis erkennen Sie, dass
in der Judikative Tür und Tor für politische Interventionen
offen stehen. Aber niemand sagt etwas dazu.
Nach meiner Auffassung müsste es einen Hohen Justizrat (Yüksek
Yargi Kurulu) geben, der mit allen Aufgaben der Justiz, beginnend bei
ihrem Wesen an sich bis hin zur Kontrolle betraut ist, der Unterabteilungen
wie Zivil- und Verwaltungsräte haben sollte, der bei Wahlen keine
Anteile an die Legislative und die Exekutive abtreten sollte und gegen
dessen Beschlüsse der Rechtsweg offen stehen muss.
Länder, die erst im letzten Viertel des Jahrhunderts unabhängig
geworden und zur Demokratie gelangt sind, bauen ihr System auf, indem
sie von den Fehlern der entwickelten Staaten lernen. So ist z.B. in Spanien,
Kroatien, Polen, Portugal und Slowenien der Justizminister kein Ratsmitglied,
in Bulgarien und Makedonien dagegen hat er nur kein Stimmrecht. (...)
Eine selbstherrliche Rechtsauffassung, die Rechtsverordnung mit Gesetzeskraft
und Gesetz miteinander vermischt und Richter und Staatsanwälte zu
"Beamten" machen will, hat um den Preis des Verfassungsbruchs
seit Jahren diese Gleichheit (der Legislative, Exekutive und Judikative)
missachtet, und dadurch, dass der Haushaltsanteil der Justiz unter ein
Prozent gedrückt wurde, wurde diese Ungleichheit noch weiter konkretisiert.
Während die Judikative im Glanz der Legislative und Exekutive untergeht,
wird eigentlich nicht nur die Achtung und die Würde der Justiz zerstört,
sondern auch die des Staates.
Das hat unsere Justiz, das hat unser Volk zu beklagen.
Legitimität
und die Verfassung von 1982
Ich muss
eine nackte Warnung aussprechen: Die Türkei kann, sie darf ins neue
Jahrhundert nicht mit einer Verfassung gehen, deren Legitimität beinahe
gegen Null geht.
Legitimität ist einer der bedeutendsten Begriffe der Sozial- und
Politikwissenschaften, und er darf nicht beschädigt werden. (...)
Es gibt zwei Formen von Legitimität. Die formelle und die materielle
Legitimität.
Wenn die Mehrheit nicht nach den Regeln erreicht wurde, so gibt es keine
formelle Legitimität. Wird aber die Zustimmung der Mehrheit, die
nach den Regeln erreicht wurde, später zurückgenommen, so gibt
es keine materielle Legitimität.
Ist also die Verfassung von 1982 formell und materiell legitim?
Nehmen wir einmal die formelle Legitimität, so zeichnet sich folgendes
Bild ab: Die Verfassung wurde nicht von einer konstitutionellen Macht,
einem Parlament, das durch das Volk bzw. den freien Willen des Volkes
gewählt wurde, geschaffen, sondern durch Personen, die auf die Ränge
des aufgelösten Parlamentes gesetzt, die dazu berufen wurden.
Zweitens hängt Legitimität davon ab, dass jeder sich an einer
Entscheidung, einem Vorgang in gleichberechtigter Form und so, dass er
die Ergebnisse hinterfragen kann, ohne Zwang und Verbote beteiligen kann.
Solange der Wille nicht zur Diskussion gestanden hat, kann von Legitimität
nicht die Rede sein. Denn wenn es eine Diskussion gibt, dann werden die
Probleme transparent und zwar in dem Maße, wie offen die Diskussion
geführt werden kann; es besteht die Möglichkeit der Information
und die Gefahr, Fehler zu machen, verringert sich. (...)
Die Verfassung von 1982 stand nie zur Diskussion.
Drittens wurde parallel zu dem Diskussionsverbot nach einem einseitigen
Gehirnwäschebombardement eine Abstimmung durchgeführt und das
Volk betrogen.
Viertens wurde die Ankündigung gemacht, dass im Falle einer Ablehnung
der Verfassung das prätorianische Diktat weitergehen würde,
und so blieb dem Volk, den Tod vor Augen - die Hand aufs Herz - keine
andere Wahl, als zur Malaria Ja zu sagen.
Fünftens wurde durch Umschläge, die das Innere durchscheinen
ließen, der Grundsatz der geheimen Wahl verletzt.
Sechstens wurde in einem einzigen Wahlgang sowohl über den Staatspräsidenten,
als auch über die Verfassung abgestimmt. Die Zahl und der Prozentsatz
derer, die beide unterstützten oder gegen beide waren, ist unbekannt.
In den Fällen, wo der Staatspräsident unterstützt wurde
und man sich mit der Verfassung nur arrangierte, fand die Verfassung keine
Zustimmung, in denen, wo die Verfassung unterstützt wurde und man
sich mit dem Staatspräsidenten nur arrangierte, der Präsident.
Welche/r von ihnen aber hat die Mehrheit bekommen? Das ist ein Rätsel.
Das einzige, was man weiß, ist, dass beide mit Zweifeln behaftet
sind. Außerdem stand eine Wahl für den Staatspräsidenten
ja ohnehin nicht zu Debatte, denn er war der einzige Kandidat. Ein Individuum,
das nicht die freie Wahl zwischen mehreren Alternativen hat, ist nicht
autonom. Denn Freiheit kommt vor Autonomie.
Wie man sieht, wurde dieser Gesellschaftsvertrag (Verfassung) unter Drohungen,
mit einem Willen, dem ein Komplott zugrundelag, geschlossen. Eine Scheinabstimmung
ist rechtlich äußerst bedenklich. Daher fehlt der Verfassung
die formelle Legitimität, und sie ist ungültig. Wir dürfen
nicht vergessen, dass die Mehrheiten, die Verfassungen auf derartigen
Wegen bei Volksabstimmungen erzielt haben, in jedem Land zwischen 97-100
% lagen und das ist offensichtlich (Duverger). Eine Mehrheit von 93 %
in der Türkei ist eine schändliche Mehrheit, die durch einen
Angriff auf die Würde des Volkes zustandegekommen ist. Die Verfassung
von 1982, die im Sinne "Stimmen statt Kugeln" (Duverger) unter
Druck angenommen wurde, ist sowohl für ihre Urheber als auch von
der Art her, wie sie erarbeitet wurde, eine Art "verordnete Verfassung".
(...)
Kommen wir nun zur materiellen Legitimität der Verfassung von 1982.
Die Verfassung von 1982 hat (...), anstatt die Macht des Staates zu beschneiden,
die Rechte und Freiheiten beschränkt und sie geradezu zu Ausnahmen
gemacht, sie hat bewirkt, dass die Unsicherheit in der Volksseele verinnerlicht
wurde, sie hat die Einheit der Justiz und ihre Unabhängigkeit verletzt
und keine demokratische Regierung, sondern eine republikanische Regierung
vorgesehen. (...)
Der Staat und seine Werte werden sicherlich in jedem Land geschützt,
und das müssen sie auch. Doch wenn der "Staat" für
heilig erklärt wird, dann ist er unantastbar, dann ist er tabu. Denn
Heilige sind unantastbar.
Man sieht, dass (...) die Verfassung von 1982 (...) die Willkür der
politischen Macht nicht verhindert und die Menschenrechte und -freiheiten
im Wesen nicht schützt. Da sie die Organisation des Staates bis hin
zur Position des Präsidiums für Religionsangelegenheiten detailliert
festlegt und dabei zum Ziel hat, den Staat zu schützen, da sie sich
nicht mit der Dynamik der Gesellschaft vereint, da sie die Rechte und
Freiheiten als Ausnahme betrachtet und sie zu einem toten Text macht,
in dem sie nur dem Namen nach existieren, ist sie nur von ihrer äußeren
Erscheinungsform her, nominal und semantisch, eine Verfassung, ein einfacher
Text. Sie ist wie ein Ballkleid, das im Kleiderschrank hängt, denn
sie hat nichts mit dem täglichen Leben, dem täglichen Recht
zu tun. Der Verfassung nach ist das Volk und das Individuum für den
Staat da, nicht umgekehrt. Das geht so weit, dass (...) in der Sorge um
die Belange des Staates für Prozesse gegen Beamte ein Genehmigungssystem
eingeführt wurde (Art. 129/letzter Abs.) Sie ist ein Text, der codiert
wurde, um repressive Gesetze wie das "Vorläufige Gesetz über
Beamtenverfahren" zu produzieren. Die Verfassung spricht von Laizität,
aber sie tritt sie mit Füßen, indem sie das Pflichtfach Religion
einführt und somit gegen Laizität ist. Daher auch ist die Türkei
heute, um es mit verfassungsrechtlichen Begriffen zu umschreiben, kein
"verfassungsmäßiger Staat", sondern nur ein "Staat
mit einer Verfassung".(...)
Die Türkei hat es verdient, mit einer Verfassung ins dritte Jahrtausend
einzutreten, die nicht auf dem Rechtsstaat, sondern auf dem Primat des
Rechts basiert, gewebt mit einheimischen Fäden auf dem Webstuhl universeller
Prinzipien, deren gemeinsamer Nenner Menschenrechte und ihre Freiheiten
sind.
Doch als Jurist muss ich folgendes betonen. Es ist etwas anderes, ob man
eine Verfassung kritisiert oder ob man sich nicht an sie hält. Es
ist unsere gesetzliche Pflicht als Staatsbürger, uns solange an diese
(...) Verfassung zu halten, bis sie durch eine neue Verfassung außer
Kraft gesetzt wird. Andererseits ist es aber auch die moralische Aufgabe
eines Juristen, ihre Legitimität zu diskutieren, die Öffentlichkeit
zu ermahnen und dem Volk die Wahrheit zu sagen. Ich werde sowohl meine
Pflichten, als auch meine Aufgaben weiterhin geflissentlich erfüllen.
WAS
TUN?
(...)
Ich wünsche mir eine Türkei, die in universellen Begriffen denkt,
die inhaltlich noch nicht ausgehöhlt, noch nicht aufgelöst sind;
die nicht irgendwo in einem Winkel der Welt, sondern im Zentrum steht;
die nicht der Geschichte unterliegt, sondern die Geschichte schreibt,
die mit dem Geist der Zeit Schritt hält. (...)
Ich wünsche mir eine Demokratie, die sich aus gleichberechtigten
Individuen zusammensetzt, bei der die Latte für eine Regierung von
einem Volk für ein freies Volk möglichst hoch liegt. (...)
Ich möchte eine demokratische Republik, in der freie und demokratische
Menschen leben, die über die Toleranz hinaus sagen "der andere
ist mir gleich" und sich gegenseitig herausfordern, aber dabei achten,
die, wenn die Rechte und Freiheiten des anderen verletzt werden, das gemeinsame
Bewusstsein haben, dass sie gegen die, die diese Verletzung begangen haben
vorgehen, als seien sie selbst davon betroffen, die es verstehen, die
Türen für kritisches Denken, Diskussionen, Hinterfragen und
persönliche Wahrnehmungen offenzuhalten. (...)
Ich möchte als natürliche Folge des Pluralismus wieder eine
friedliche und ungestörte Laizität (...), die auf der gegenseitigen
Unabhängigkeit von Religion und Staat beruht.
Ich möchte ein Recht, das Meinungen und Glauben nicht verbietet,
sondern sie friedlich miteinander diskutieren und wetteifern lässt,
das den Anforderungen der Gerechtigkeit standhält und den Menschen
frei sein lässt; und ich möchte einen starken Staat unter der
Souveränität eines solchen Rechts, der zu allen Meinungen und
Glauben die gleiche Distanz hält, der seinem Volk, das er in die
Entscheidungsprozesse mit einbezieht, vertraut, der neutral ist und seine
Legitimität aus dem Recht bezieht.
Und ich wünsche mir, dass solch ein Staat von einer Verfassung geregelt
wird, die zur Grundlage hat, dass Staaten für das freie Individuum
und das Volk da sind, in der der universelle Ethikcode der Menschen geachtet
wird, die darum besorgt ist, die Rechte und Freiheiten zu verwirklichen
und die von dem Rückgrat Primat des Rechts aufrecht gehalten wird,
das sie bis in ihre Poren verinnerlicht hat. (...)
Um die Voraussetzungen für eine Verwirklichung des Rechts, nach dem
sich alle sehnen, zu schaffen, wünsche ich mir, dass der einzige
Interpret und Sprecher des Rechts, die Judikative, von den anderen Gewalten
unabhängig wird und vor allem die Umzingelung durch die Exekutive
durchbricht; und ich möchte, dass die rechtsprechende Gewalt, die
den Staat und die Demokratie legitimiert, mit der gesetzgebenden und ausführenden
Gewalt in allen materiellen und ideellen Bereichen gleichgestellt wird.
Ich wünsche mir, dass die dringenden Bedürfnisse der Judikative
in kürzester Zeit erfüllt werden; dass die Anrufung eines Obergerichts
als Berufungsinstanz, wie es in dem New Yorker Abkommen für Zivile
und Politische Rechte von 1966 (Art. 14) als ein Menschenrecht betont
wird, zugelassen wird, und dass das Volk und die Türkei auf diese
Weise mit ihren Obergerichten, ihrer Rechtsprechung, ihren Akademien und
ihren Gebäuden, eine vorzügliche Justiz erhält, wie sie
ihrem Ansehen gebührt. (...)
* Mit
seiner Rede vor der Staatsführung am 6. September 1999 hat einer
der höchsten Richter der Türkei eine Diskussion über eine
demokratische Verfassung angestoßen, die in allen Schichten der
Gesellschaft Widerhall fand. Wegen ihrer großen Bedeutung werden
an dieser Stelle Auszüge daraus wiedergegeben.
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