Die Holländische Straße zieht sich vom Kasseler Cityrand bis zu den Randbezirken in den äußersten Norden der Stadt. In den sechziger und siebziger Jahren ist sie zu einer Ausfallstraße ausgebaut worden, die ihren früheren Alleencharakter zum Verschwinden gebracht hat. Als Wohngebiet ist alles, was an dieser Straße angrenzt, von härterer Qualität. Auch der stadtplanerisch begründete Einzug der Universität an den Holländischen Platz konnte das bislang nicht verändern.
Thomas Hirschhorn ist mit seinem »Bataille Monument« in diese Gegend eingedrungen. Er hat sich einen Ort ausgesucht, der von der Universität noch recht weit entfernt ist und zu den Gebieten der Stadt Kassel gehört, in denen Ghetto-Bildung sich ausbreitet. Die Friedrich-Wöhler-Siedlung liegt fast am Ende der Holländischen Straße parallel zu dieser, und sie ist für mich immer unheimlich gewesen. Vor allem wegen ihrer bedrückende Enge ausstrahlenden Gebäude.
Nicht weit davon, ca. 700 Meter entfernt, bin ich aufgewachsen. Wir hüteten uns als Kinder und Jugendliche davor, diese Gegend aufzusuchen, und waren wir mal zu leichtsinnig oder neugierig oder beides zugleich, gab es ziemlichen Stress. Damals schon - in den Sechzigern - war dies ein unwirtlicher Ort, diese nach einem Chemiker des 19. Jahrhunderts benannte Siedlung.
Thomas Hirschhorn hat diese Gegend nach eigenen Aussagen nicht wegen irgend einer Verbindung des französischen Autors Georges Bataille (1897-1962) zur Stadt Kassel gewählt, eine solche Verbindung gibt es nicht. Vielmehr ist die Einladung zur Documenta 11 und die damit verbundene Präsentation einer künstlerischen Arbeit der Grund für den Aufbau des Bataille-Monumentes in Kassel. Die Wahl der Friedrich-Wöhler-Siedlung hängt wohl damit zusammen, dass die Errichtung des Bataille-Monumentes eine Gegend benötigte, die einen angemessenen Verausgabungsfaktor hat. Hirschhorn hat eine Serie von insgesamt 4 Monumenten geplant, drei davon sind bereits realisiert: Das »Spinoza Monument« wurde 1999 und das »Deleuze Monument« 2000 in Avignon errichtet. Das vierte und letzte Monument soll Antonio Gramsci gewidmet werden. All diese Monumente widmen sich dem Gedächtnis bedeutender Philosophen, deren auch für die Kunst Auswirkungen hatte. Spinoza hatte zwar keine Ästhetik verfasst, dessen »Ethik« ist aber ohne Übertreibung als eines der wichtigsten und einflussreichsten Bücher der Philosophie-geschichte zu bezeichnen. Die hierin entwickelte Theorie der menschlichen Affekte kann einem heute noch vieles entwirren und klarer machen. Gilles Deleuze ist ein Spinoza-Verehrer gewesen, und er hat viele Texte zur Ästhetik geschrieben. Für Deleuze stellt die Kunst die Möglichkeit des einer anderen Dimension des Lebens dar, insofern sie radikale Experimente eingeht, die wiederum auf die Qualität des sonstigen Lebens einzuwirken können.
»Park Fiction« hat einen der zentralen Begriffe von Deleuze aufgegriffen, nämlich den Begriff »Wunschproduktion«. Nach Deleuze ist der Mensch ein Wesen, das ununterbrochen Wünsche produziert. Diese Wünsche sind aber nichts, was nur in der Phantasie existiert, sondern sie erzeugen »von sich aus« Realitäten. Das Park-Fiction-Kollektiv hat immer wieder betont, dass bereits der Wunsch nach einem Park im Hamburger Kiez-Stadtteil St. Pauli - der zwischen Reeperbahn und Elbe liegt - das Leben der daran Beteiligten verändert hat.
Georges Bataille hat sein Werk der Verschränkung von Erotik, Ökonomie, Kunst, Politik und Literatur gewidmet und einzigartige Texte hierzu verfasst, von theoretischen Arbeiten bis hin zu Romanen. Diesem Autor ist das Kasseler Monument gewidmet. In eigenen Worten äußert sich Thomas Hirschhorn über seine Arbeit z.B. so: »Ich bin kein Sozialarbeiter, ich bin kein Quartier-Animator, für mich ist Kunst ein Werkzeug, um die Welt kennen zu lernen; Kunst ist ein Werkzeug, um mich mit der Realität zu konfrontieren; Kunst ist ein Werkzeug, um die Zeit in der ich lebe zu erfahren. Das ›Bataille-Monument‹ soll Wissen und Information vermitteln, das ›Bataille-Monument‹ soll Verbindungen ermöglichen und Bezüge schaffen, das ›Bataille-Monument‹ soll Menschen einschließen, es ist für ein nicht-exklusives Publikum gemacht.«
Park Fiction kommt anders daher. Das seit 1993 arbeitende Projekt hat einen außerordentlich langen Atem bewahrt. Es ist auf der D11 in einer die Bildungsversprechen der sechziger Jahre ironisch zitierenden Infotainment/ Sprachlabor-Installation präsentiert gewesen, die die gesamte Geschichte von Park Fiction dokumentiert, und vor allem auch die Dinge, die in der langen Projekt-Zeit hervorgebracht worden sind. Im Wesentlichen geht es dabei um den Wunsch, im Hamburger Stadtteil St. Pauli, der nicht gerade üppig mit Grün bewachsen ist, einen Park für die dortigen Anwohner zu errichten. Dieses aus einer Art Bürgerinitiative entstandene Projekt ist mithilfe von KünstlerInnen auf den Weg gebracht worden, und auf diesem Weg sind Formen, Debatten, Spiele, Zeichnungen, Parties, Verhandlungen, Filme, Zeitungsartikel und vieles mehr entwickelt worden. Dementsprechend arbeitet Park Fiction als Kollektiv und nicht unter der Leitung einer einzelnen Künstlerpersönlichkeit. Dass die Namen Christoph Schäfer und Margit Czenki (von ihr stammt der Film »Park Fiction ... die Wünsche werden die Wohnung verlassen und auf die Straße gehen«) gelegentlich durchscheinen, liegt auch an den Kunstmedien, die auf identifizierbare Persönlichkeiten fixiert sind.
Park Fiction hat mich seit ich von dem Projekt zum ersten Mal gehört habe - irgendwann Mitte der Neunziger - sehr interessiert, weil die Arbeitsweise dieses Projektes eine deutliche Erweiterung des Kunstbegriffs darstellt. Zumindest wird einiges, was für ein gewöhnlicheres Kunstverständnis als selbstverständlich gilt, bei Park Fiction in Frage gestellt oder umgewertet. Das wird in den Worten Christoph Schäfers deutlich, die er mir auf die Frage, was Park Fiction denn nicht mit dem Hirschhorn-Projekt gemeinsam habe, gemailt hat. Aus dieser Mail die folgenden Auszüge:
»Die Kunstbegriffe scheinen mir sehr unterschiedlich zu sein:
Park Fiction erweitert den Kunstbegriff und die künstlerische Autonomie auf alle TeilnehmerInnen des Planungsprozesses, während Hirschhorn als ungebrochenes Künstlersubjekt die alleinige Sprecherposition beansprucht und übernimmt.
Park Fiction wurde im Stadtteil erfunden, die Künstlerinnen kamen dazu, um sich in den Prozess mit ihrer Arbeit zu integrieren. Bei BM ist das umgekehrt.
Der Ort, der allen anderen TeilnehmerInnen am Bataille Monument zugewiesen wird ist: Arbeitskraft, Ausführung, authentische Hintergrundkulisse, Teilnahme im Rahmen, den der Künstler vorgegeben hat: als Randgruppe (also doppelte Diskriminierung auf allen Vermittlungsebenen des Projekts).
Bei Park Fiction ist das umgekehrt: es geht darum, Zugänge zu den wesentlichen Entscheidungspunkten offen zu halten, PLANUNGSPROZESS als Spiel, der zentrale Begriff ist Wunschproduktion [...]
Das sind Sätze, die unterschiedliche Arbeitsweisen und Vorstellungen darüber, was Kunst ist bzw. sein könnte, zum Ausdruck bringen. Thomas Hirschhorn beantwortete die selbe obige Frage wie folgt und nicht weniger abgrenzend: »Das ›Bataille Monument‹ ist nicht in einem Park, es ist da wo Menschen wohnen, Arbeiter, Arbeitslose, Ausländer, das »Bataille Monument« ist keine Fiktion, es setzt sich mit der Realität auseinander, mit Missverständnis, mit Unmöglichkeit, mit Diebstahl...«
Die Gemeinsamkeiten der Projekte werden gerade durch diese abgrenzenden Positionierungen deutlich: Beide gehen ganz anders vor als Kunst, die einfach nur an der Wand hängt oder als Objekt in einem Raum steht. Es ist weder bei »Park Fiction«, noch beim »Bataille Monument« ganz klar, an welcher Stelle, diese Arbeiten Kunst sind oder welches »Ding« Kunst sein soll. Deutlich ist vielmehr, dass bei beiden einiges produziert und kommuniziert wird: Konflikte, Reaktionen, Verteidigungen, gemeinsame Freude, merkwürdige Gegenstände, Positionen, Informationen etc. Dass diese Projekte heute auf der bedeutendsten internationalen Kunstausstellung zu sehen sind, bezeugt einen erheblichen Wandel der Vorstellung dessen, was Kunst sein kann bzw. sein könnte. Gleichzeitig sind solche Arbeiten wie das Bataille Monument oder Park Fiction außerordentlich komplex, weil eben nicht nur eine Auseinandersetzung eines Künstlers mit einem Gegenstand stattgefunden, sondern weil Kommunikationen und Konstruktionen anderer Menschen, deren Rollen und Erwartungen mit hinein spielen und es kein zentrales Subjekt mehr gibt, dass die völlige Kontrolle über eine solche Arbeit hätte. Das wird oft vergessen. Und deshalb wirken solche Projekte oft sehr widersprüchlich, unfertig und chaotisch. Sie sind oft auch gar nicht eindeutig beschreibbar, sondern haben - sozusagen von jeder Seite der Betrachtung her - einen besonderen Charakter. Das ist diesen beiden Projekten jedenfalls gemeinsam. Beide erweitern den Kunstbegriff. Was sie nicht gemeinsam haben, ist, dass ihnen offensichtlich unterschiedliche Kunstkonzepte zu Grunde liegen, und auch, dass sie innerhalb des Kunstsystems anders behandelt werden und jeweils anders in das Kunstsystem passen. Thomas Hirschhorn wird seit Jahren von einer Galerie vertreten und international vermarktet. Er ist ein Künstler, der mit einer bestimmten Arbeitsweise identifiziert wird - Entwicklung von Formen aus zum Teil gefundenen Materialien/ Klebeband/ Einbau aussagekräftiger Kultur-Objekte. Bei Park Fiction dagegen steht keine Galerie hinter und die Arbeitsweise ist kollektiv organisiert, und die Gruppe versteht sich auch als Teil einer sozialen Bewegung. Park Fiction kippt deshalb an einigen Stellen immer wieder außerhalb des Kunstsystems, während Hirschhorn immer drin bleibt. Manches ist sehr unähnlich an diesen beiden Projekten. Warum dann überhaupt dieser Vergleich? Weil beide Projekte in Richtungen weisen, die für die Fortsetzung von Kunst bedeutsam sind. Und weil deren Unterschiede entscheidende Indizien für die Diskussion um die Möglichkeit und Unmöglichkeit gesellschaftlicher Eingriffe mittels