Christian Busold
Die Schengener Abkommen: Pilotprojekt für Europas Innenpolitik

Im Juni 1985 vereinbarten die Regierungen der Benelux-Staaten, Frankreichs und der Bundesrepublik im luxemburgischen Örtchen Schengen, ihre gemeinsamen Binnengrenzen "möglichst bis zum 1. 1. 1990" zu öffnen" (1). Um die beim Abbau der Grenzkontrollen angeblich drohenden "negativen Folgen ... auf dem Gebiet der Einreise und der Inneren Sicherheit zu vermeiden" (Art. 7 I Schengen I), die jedoch real nicht drohen, wie selbst die Jahresberichte des Bundesgrenzschutzes ausweisen, handelten seitdem Arbeitsgruppen aus Innen- und Justizverwaltungen der fünf Staaten sogenannte Ausgleichsmassnahmen aus und formten daraus den Entwurf eines Staatsvertrages. Dieser sieht folgende Massnahmen vor:

Ausländer-/Asylrecht: Grenzkontrollen von EG-Ausländern und sogenannten Drittausländern werden an die gemeinsamen Aussengrenzen verlagert. Für knapp 100 Länder gilt zukünftig eine Visumpflicht. Asylentscheidungen sollen schengenweit bindende Wirkung haben (s. Yurttagül), und nur noch das Einreiseland soll für das Asylverfahren des jeweiligen Flüchtlings zuständig sein.

Rechtsangleichung ("Harmonisierung"): die aus der BRD bekannte allgemeine Hotelmeldepflicht wird von den anderen Schengen-Staaten übernommen (Art. 45, Schengen 11, alle nachfolgenden Artikel-Angaben beziehen sich auf diesen Vertragsentwurf).

Ein dem deutschen Vorbild angenähertes strengeres Waffenrecht soll die in Frankreich und Belgien teils noch liberaleren Regelungen ersetzen (Art. 78-92). Im Drogenbereich wollen die Vertragspartner Sicherstellung und Verfall von Handelsgewinnen regeln (Art. 72 VI). Alle übrigen Vereinbarungen zielen nicht auf eine "Harmonisierung" der Rechtslage, welche auch in den Niederlanden den Konsum illegaler Drogen verbietet. sondern auf eine Angleichung der Verfolgungspraxis. Die Niederlande müssen damit ihr "Opportunitätsprinzip", nach dem die Polizei unterhalb bestimmter Mengen nicht einzugreifen braucht, zugunsten des bundesdeutschen "Legalitätsprinzips" aufgeben. das Ermittlungen in jedem Fall vorschreibt. Danach werden insbesondere die Holländer verpflichtet, Verkauf und Besitz auch von Cannabis-Produkten unabhängig von der Menge mit strafrechtlichen Mitteln zu verfolgen und ihre "Coffee-shops" etc. daraufhin zu überwachen (Art. 72 I, 11, IV). Diese Verpflichtung trifft nicht nur Ausländer!

Rechtshilfe/Auslieferung: Der bisher geltende Grundsatz, dass das zugrundeliegende Delikt in beiden beteiligten Staaten strafbar sein muss, wird nicht nur im Bereich der Fiskaldelikte ausgeschlossen (Art. 51, 64), sondern auch i.ü. eingeschränkt (Art. 52), was sich z.B. bei politischen Delikten auswirken kann. Durchsuchungen und Beschlagnahmen in anderen Vertragsstaaten unterliegen ebensowenig wie SIS-Fahndungsausschreibungen (Art. 52, 64, 96) ersichtlichen materiellen Beschränkungen. Entsprechend der polizeilichen Kritik des als zu umständlich empfundenen Verfahrens (2) kann eine Auslieferung nun statt über den diplomatischen oder justitiellen Weg, auch direkt über die nationalen IKPO-Zentralen (BKA) (Art. 54 II) abgewickelt werden. Nach Belehrung eines Verfolgten soll auch ein formloses Auslieferungsverfahren unter Wegfall von Schutzrechten zulässig sein (Art. 67). Insgesamt geben die Vereinbarungen ebenso wie diejenigen über die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden (Art. 39-48) deren Forderung (2) nach, die von justitiellen Instanzen und Förmlichkeiten zunehmend losgelöste Polizeitätigkeit auch im Vorfeld eines konkreten Deliktverdachtes nunmehr grenzüberschreitend zu legitimieren (vgl. z.B. Art. 39 1, 46 1, 47 Ila).

Polizeiliche und nachrichtendienstliche Zusammenarbeit: Mit der vereinbarten Entsendung von Verbindungsbeamten (Art. 47), mehr noch mit der Zulassung polizeilicher "Nacheile" (Art. 41) über die (ehemaligen) Grenzen wird exekutive Tätigkeit auf fremdem Hoheitsgebiet legitimiert, deren heimliche Ausübung der deutschen Polizei in der Vergangenheit manchen Ärger eintrug. In der Hoffnung, auf eine Erweiterung dieser lange umstrittenen Befugnisse will die Bundesregierung den Vertragspartnern einseitig ein unbeschränktes Nacheile- und Festnahmerecht einräumen.(3)

Auch verdeckte Ermittlungsmethoden wie grenzüberschreitende Observationen, kontrollierte Drogenlieferungen im Rahmen von Scheingeschäften, "polizeiliche Beobachtung" (Art. 40, 75, 100) sowie Datenaustausch zu "präventiven Zwecken (Art. 46, der auch eine Durchbrechung der Zweckbindung vorsieht) sind vorgesehen. Ferner wurde die nachrichtendienstliche Amtshilfe zu Zwecken der .,Staatssicherheit" in den Entwurf integriert (Art. 48).

Das Schengener Informationssystem (SIS): ein gemeinsames Sach- und Personenfahndungssystem im Rechner-Rechner-Verbund soll in Strassburg errichtet und für Kontrollen im Inland, an den Aussengrenzen sowie für die Visumvergabe zur Verfügung stehen (Art. 93ff, s. Weichert). Das System, das als "Pilotprojekt" für ein "Europäisches Informationssystem" (EIS) aller EG-Staaten dienen soll (4), ist zwar bereits im Aufbau (5)-. ein Ende 1988 beschlossener" Probebetrieb" des Sachfahndungsbereiches (6) wird jedoch nicht vorab realisiert werden können.

Der Aufbau des SIS-Projekts zeigt beispielhaft, welche Sogwirkung von den Schengener Vereinbarungen bereits jetzt auch ohne deren formelle Unterzeichnung ausgeht (7). Innerstaatlich werden dadurch die Handlungsspielräume nicht nur für eine liberalere Praxis (z.B. niederländische Drogenpolitik) verengt, sondern auch für eine offene rechtspolitische Debatte (z.B. über die höchst strittigen Pläne zur Novellierung von Strafprozessordnung und Polizeigesetzen). Mit dem Vertragsentwurf werden nationale Bürgerrechtsstandards (z.B. Asylgrundrecht und Datenschutz der BRD) ausgehöhlt und Überwachungs-Modelle (z.B. Hotelmeldepflicht BRD) ausgedehnt. Als Korrektiv zu dieser Europäisierung der Exekutive ist kein entsprechender Ausbau grenzüberschreitender Schutz-, Kontroll- oder Kooperationsmöglichkeiten durch Parlamente, Gerichte, Rechtsanwälte (8), Datenschutzbeauftragte o.ä. vorgesehen. Vielmehr gibt der Vertragsentwurf einem "Exekutivausschuss" quasi parlamentarische Rechtsetzungsbefugnisse (Art. 8, 12. 17, 77, 90, 122. 127129, 135).

Obwohl die nationalen Parlamente das Schengener Vertragswerk formal in Kraft setzen müssten, wurden sie an der Erarbeitung ebensowenig beteiligt wie das Europäische Parlament und erst auf Drängen auszugsweise über den Stand informiert. Somit verkürzt sich die Mitwirkung der Volksvertretungen faktisch auf ein Ja/ Nein- Votum zu dein von der Exekutive ausgehandelten Vertrag.

Das Europäische Parlament forderte deshalb im November 1989 die Regierungen der Schengen-Staaten auf, die für den 15. Dezember geplante Unterzeichnung auszusetzen (9). So geschah es tatsächlich, jedoch aus anderen Gründen: angesichts der jüngsten Ereignisse in der DDR konnten sich die Delegationen nicht über deren Status einigen. Gegen den Widerstand der BRD hatten die anderen Schengen-Länder aus Furcht vor illegaler Einwanderung über die DDR - gefordert, deren Bürger sonstigen "Drittausländern" gleichzustellen (10). Nach der DDR-Wahl kann nun zu Ende verhandelt werden, die Unterzeichnung ist jetzt für Juni geplant.

Die Erarbeitung dieser "sogenannten Schengener Errungenschaften" (4) wirkt aber nicht nur "standardbildend" für beitrittswillige westeuropäische Staaten (11) oder als ."Labor für die EG insgesamt" (12) im Hinblick auf deren Binnen-Freizügigkeit ab 1993. Vielmehr denken Innenpolitiker nach den ersten bilateralen Absprachen mit osteuropäischen Staaten, insbesondere angesichts der "Schrittmacherdienste" der Kooperationen gegen Drogenhandel (13) und "Terrorismus" (14), schon laut über ein "Schengen-Ost" nach.(15)

Darüber hinaus hofft man, die Schengener Vereinbarungen auch qualitativ noch erweitern zu können: über ein Europäisches Kriminalamt - "zunächst nicht zwingend..." (16) "mit exekutiven Befugnissen" (17) bis hin zu "einer Art Weltpolizei" (18) zur Gestaltung einer ."Weltinnenpolitik".(19)

Christian Busold, 34 Jahre, Jurist. Derzeit tätig als Referent der Grünen Bundestagsfraktion.
Diverse Veröffentlichungen zu Drogen-, (innere) Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Quellen

  1. GMBI. 1986. S.79-81:
  2. vgl. stellv. Boge in "Kriminalistik" 1985, S.40:
  3. Die Welt, 5.1.1990;
  4. BMI-STS Neusel in 67. Sitzung d. BT-Innenausschusses am 10.11.1989, Prot. S.17, mit d. Hinweis, Grossbritannien, Irland, Dänemark u. Griechenland hätten bereits Bedenken angemeldet:
  5. in der BRD sind z.B. Personal- und Sachmittel bereits mit d. Bundeshaushalt 1990 bewilligt worden;
  6. Beschluss d. Schengener Minister Lind Staatssekretäre v. 12.12.1988; vgl. Rosenbauer in "Terrorismus", 4/1989, S.2;
  7. als sich d. ersten Schwierigkeiten mit d. Einhaltung d. vorgesehenen Unterzeichnungstermins andeuteten, wurde z.B. eine AG eingesetzt zur Prüfung, welche Vereinbarungen schon vorab umsetzbar seien (FR, 15.11.1989);
  8. vgl. Protest-Resolution d. EG-weiten Anwaltsorganisation CCBE v. 28.10.1989;
  9. BT-Drs. 11/6119;
  10. Die Tageszeitung, 15.12.1989;
  11. Italien, Spanien u. Portugal haben schon beantragt, noch vor 1993 beitreten zu können:
  12. StS Stavenhagen (Bundeskanzleramt), HB 13.11.1989;
  13. StS Rosenbauer (LMJ Bayern) in "Terrorismus", 4/1989, S.2;
  14. z.B. zw. USA u. UdSSR, vgl. Horchem in "Terrorismus" 3/1990, S.6;
  15. z.B. FDP-MDB B. Hirsch;
  16. so einschränkend BMI Schäuble; Inn. Sich. 3,89, S.12;
  17. z.B. Boge (Welt, 3.2.1989), Kohl (SZ, 8.2.1989), Lut7, (SZ, 9.9.1989);
  18. Schlee, dpa (lsw), 24.6.1989;
  19. EX-BMI Zimmermann, FAZ, 28.7.1987