Lange hat es gedauert, aber nun kommt tatsächlich Licht ins Dunkel um den hartnäckigen Schutz, den der bis heute tätige Gerichtspsychiater und frühere NS-Euthanasiearzt "Am Spiegelgrund" in Wien, Heinrich Gross, durch die österreichische Justiz seit nunmehr 50 Jahren genießt. Zwei parlamentarische Anfragen des grünen Abgeordneten Karl Öllinger (parlamentaische Materialien 2143/J, 2612/J) und die Antworten des Justizminsters Michalek (2148/AB, 2597/AB), liegen nun vor . Zur Vorgeschichte ausgehend von den Gehirnpräparaten getöteter Kinder lest bitte in TATblatt plus 64 und plus 79 nach.
Quellen: Dokumentenservice der Grünen im Parlament, Stenografisches Protokoll des Nationalrates vom 5.6.1997
Begonnen hatte die parlamentarische Ebene der Affäre Gross mit der ersten Anfrage von Karl Öllinger vom 18.3., wo er u.a. nach den Einstellungen der Verfahren und Gründen für die oftmalige Zurücklegung von Anzeigen gegen Gross durch die Staatsanwaltschaft und zur Haltung des Justizministeriums dazu fragte. Außerdem wollte Öllinger wissen, warum die Taten von Gross nach dem Reichstrafgesetzbuch und nicht nach dem österreichischen Strafrecht beurteilt würden.
Diese erste Abfragebeantwortung brachte wiederum zahlreiche Neuigkeiten zutage. Justizminister Michalek erleuterte zunächst, daß Gross vom Volksgericht (dem Vorläufer des Landesgerichts für Strafsachen in Wien) wegen Mitschuld am Totschlag nach dem Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) verurteilt worden war. Gross hat demnach durch die Herbeischaffung von Mitteln (Luminal, Veronal, Morphium) zur Tötung von Kindern in der Anstalt "Am Spiegelgrund" die Vollstreckung der Tat durch die später verurteilte Krankenschwester Anna Katschenka ermöglicht. Gross nahm damals für sich in Anspruch, strikt gegen Euthanasierungen gewesen zu sein und Medikamente nur zur Linderung der Leiden eingesetzt zu haben.
Der Oberste Gerichtshof (OGH) hob das Urteil 1951 auf, die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. Der OGH behauptete u.a., daß Gross zur "Reichsausschußarbeit", d.h. zur Meldung von Kindern für das Euthanasieprogramm (T4), verpflichtet war, was eine glatte Lüge ist. Der Leiter des Spiegelgrunds, Illing, wurde übrigens nicht nach dem RStGB verurteilt, sondern nach dem Kriegsverbrechergesetz und hingerichtet. In der Berufungsverhandlung von Gross vor dem OGH wurden nur 18 von insgesamt 772 vor- handenen Akten über Kinder verwendet, wobei der OGH damit sein Auslangen fand, um das Urteil aufzuheben.
1981 prozessierte Gross gegen den Arzt Vogt von der Gruppe "Kritische Medizin" wegen Verleumdung und verlor.Die Staatsanwaltschaft Wien mußte pro forma wieder gegen Gross ermitteln, erhob aber wieder keine Anklage. Der Grund war diesesmal, daß "Totschlag" nach dem RStGB schon verjährt wäre. Mord nach dem RStGB, der nicht verjährt, setze "Niedrigkeit der Beweggründe" voraus, was im Falle von Gross verneint wurde.
Die Anzeige des DÖW gegen Gross aus dem Jahr 1995 wurde zurückgelegt, weil "auch weitere Erhebungen nicht geeignet wären, die früher leugnende Verantwortung des Beschuldigten zu widerlegen".
Laut Anfragebeantwortung scheint Gross schon seit 1984 nicht mehr in den offiziellen GutachterInnenlisten der Gerichte auf. Trotzdem wurde Gross - fast ausschließlich vom Landesgericht Eisenstadt und vom Langesgericht für Strafsachen in Wien - in jeweils weit über hundert Fällen pro Jahr als Sachverständiger bestellt. Allerdings kündigte Michalek damals (15. Mai) an, daß der Präsident des Oberlandesgerichts Wien in einer Richterbesprechung auf "die Problematik hinweisen" würde.
Karl Öllinger stellte fest, daß das Oberlandesgericht Wien im Prozeß Gross gegen Vogt im Jahr 1981 das erste Gericht überhaupt gewesen war, das eine vollständige Beweisaufnahme durchgeführt hatte. Folglich sah das OLG als erwiesen an, daß der Vorwurf von Vogt, Gross sei für die Tötung hunderter Kinder verantwortlich, zu Recht erhoben wurde.
Die Abgeordnete Elisabeth Pittermann - Ärztin, SPÖ - verwies auf die Grundlagen von Gross: "1932 als 17-jähriger HJ-Mitglied, anschließend SA, 1935 Bezirksschulungsführer, weiters Sturmbann-Schulungsführer, 1937 Oberscharführer, 1938 Antrag auf NSDAP-Mitgliedschaft, 1939 Obertruppenführer, 1944 Goldenes HJ-Abzeichen...Auch sein Verhalten nach 1945 sowie Aussagen von Mittätern, Patienten und Angehörigen sowie Opfern weisen ihn als Täter aus". Außerdem fordert Pittermann eine Verurteilung von Gross nach österreichischen und nicht nach NS-Gesetzen.
Der Abgeordnete Rasinger von der ÖVP: "Ich stehe nicht an, mich als Arzt bei den vielen Opfern und Hinterbliebenen des Dritten Reichs zu entschuldigen, da wir Ärzte sehr viel Mithilfe geleistet haben, daß im Rassenwahn und in falscher Pflichterfüllung Hunderttausende, Millionen von Menschen zu Tode kamen."
Abg. Krüger (F): "...wenn es...1995 von seiten der Staatsanwaltschaft geheißen hat, auch weitere Erhebungen wären nicht geeignet, die frühere leugnende Verantwortung des Beschuldigten zu widerlegen, so ist das für einen Juristen eine unerträglich Begründung. Es ist eine eindeutige Vorwegnahme der Beweiswürdigung, und es ist mir unverständlich, daß eine derartige Begründung damals, im Jahre 1995, akzeptiert wurde."
Abg. Kier (LIF): "Die Untersuchungsbehörden der Jahre 1951 und folgende haben also eine Art Entnazifizierung auf österreichisch betrieben. Sie waren der Meinung: Dr. Gross hat vor Gericht gestanden, er ist verurteilt worden, der Oberste Gerichtshof hat das Urteil aufgehoben, der Mann hat genug gelitten."
Wahrscheinlich waren manche überrascht, daß mit den Bekenntnissen des guten Willens von Seiten des Justizministers die Sache nicht ausgestanden war. Karl Öllinger stellte eine zweite Anfrage am 20. Juni, und die Antworten sind ergiebiger als je nach Standpunkt erhofft oder befürchtet.
(gekürzt, Antworten unter Anführungszeichen original zitiert, sonst zusammengefaßt))
1. In der Anfragebeantwortung heißt es, daß das Vorhaben der Staatsanwaltschaft, die Anzeige des Dokumentationsarchivs vom 10.3.1997 zurückzulegen, nicht zur Kenntnis genommen, sondern "zwecks Schaffung einer umfassenden Beurteilungsgrundlage um die Vornahme weiterer Erhebungen (vor allem die Beischaffung und Auswertung weiterer Unterlagen und Akten) ersucht" wird.
a. Werden im Rahmen dieser Ermittlungen erstmalig auch Gutachten von Sachverständigen (Historiker, Mediziner) beigezogen werden?
b. Wird die Staatsanwaltschaft Wien, die bisher nie einen Grund zur Strafverfolgung gesehen hat, diese Ermittlungen leiten?
c. Staatsanwalt Dr. Karesch, der den Fall Gross bearbeitet, ist auch für die Ermittlungen bei den Kurdenmorden zuständig. Entspricht es Ihrer Ansicht nach dem gebotenen Interesse an rascher und umfassender Aufklärung, wenn angesichts der langen Säumigkeit der Justiz im Fall Dr. Gross und Kurdenmorde ein Staatsanwalt zwei so brisante und umfangreiche Fälle bearbeiten soll?
Darauf antwortet Michalek: "Ob im vorliegenden Fall die Einholung der Sachverständigengutachten geboten ist, werden - zunächst - die staatsanwaltschaftlichen Behörden...zu beurteilen haben". (Das "Zunächst" ist ein klarer Wink mit dem Zaunpfahl an die Staatsanwaltschaft.)
Außerdem ermittelt die Staatsanwaltschaft Wien, weil sie gemäß Stafprozeßordnung zuständig ist und Karesch ist nicht überfordert, meint der Leiter der Staatsanwaltschaft (Korsche, Anm. Tb) Wien.
2. Dr. Gross ist über Jahrzehnte hinweg als gerichtlich beeideter Sachverständiger tätig gewesen und hat sogar im hohen Alter von 80 Jahren in über 300 Fällen in den Jahren 1995 und 1996 als Sachverständiger gewirkt.
In der Ausgabe 23/97 der Zeitschrift "NEWS" wird eine Aussage von Friedrich Z. wiedergegeben. Herr Z. war offensichtlich während der NS-Zeit in der Klinik "Am Spiegelgrund" behandelt worden und hatte dort Dr. Gross kennengelernt. Als Z. 1975 wegen kleinkrimineller Delikte vor Gericht stand, traf er dort Dr. Gross wieder, der als Gutachter fungierte:
"Z. erkannte den Arzt aus der Todesklinik wieder. Darauf angesprochen, meinte der Arzt laut Z.: "Schauen S', tua ma net in diesen alten Geschichten herumdoktern, das liegt fast vierzig Jahre z'ruck. Wenn S' über diese Zeit ruhig san, kann ich Ihnen versprechen, daß ich mich für Sie bei Gericht einsetzen werd' und Ihnen helf'."
a. Seit wann und in wievielen Fällen war Dr. Gross als gerichtlich beeideter Sachverständiger tätig?
b. Wie hoch ist die von ihm bezogene Honorarsumme während seiner Tätigkeit für die Justizbehörden?
c. War Dr. Gross auch zwischen 26.6.95 und 29.11.95, also jenem Zeitraum, in dem die Staatsanwaltschaft laut Anfragebeantwortung "weiterführende Erhebungen" erwog, als Gutachter tätig?
d. In wievielen Fällen war Dr. Gross innerhalb dieses Zeitraums als Gutachter tätig?
e. Entspricht es unserer Rechtsordnung, daß ein Sachverständiger, gegen den strafrechtlich ermittelt wird, gleichzeitig von den Justizbehörden als Gutachter eingesetzt wird?
f. Zumindest im Falle des Herrn Zawrel liegt der Verdacht nahe, daß das Gutachten durch das Wissen des Friedrich Zawrel um die Euthanasie-Tätigkeit von Dr. Gross beeinflußt wurde. Welche Konsequenzen hatte das Gutachten von Dr. Gross auf das Urteil gegen Friedrich Zawrel?
g. Wurde die Berichterstattung in NEWS 23/97 zum Anlaß genommen, gegen Dr. Gross im Hinblick auf Par. 288 (1) StGB (Erstattung eines falschen Gutachtens als Sachverständiger) zu ermitteln? Wenn ja, mit welchem Ergebnis? Wenn nein, warum nicht?
h. Sind Ihnen bzw. den Justizbehörden weitere Fälle bekannt, in denen die Gutachtertätigkeit des Dr. Gross durch seine eigene Vergangenheit als Euthanasie-Arzt beeinflußt worden ist?
i. Wurde Dr. Gross auch in Strafverfahren, in denen Verbrechen aus der NS-Zeit oder Delikte nach dem NS-Wiederbetätigungsgesetz abgehandelt wurden, als Gutachter herangezogen bzw. werden Sie eine entsprechende Prüfung veranlassen?
j. Ist Dr. Gross auch im Jahr 1997 als Gutachter für die Justizbehörden tätig geworden? Wenn ja, in wievielen Fällen?
zu 2a und b): "Aufgrund der beim Rechnungsführer des Landesgerichts für Strafsachen Wien aufliegenden Listen kann - allerdings nur bis ins Jahr 1980 zurück - nachvollzogen werden, wie viele Geldanweisungen an Dr. Gross erfolgten: ...ab 1984 bewegt sich Anzahl der Anweisungen zwischen 100 und 300 jährlich."
zu 2c und d): "Dr. Gross war auch im Zeitraum zwischen 26.6.1995 und 29.11.1995 als Gutachter tätig...wurden ihm in den Monaten Juni bis November 1995 - aufgrund von 118 Anweisudiese Auffassung?
d. Darüber hinaus ist völlig unverständlich, warum von den österreichischen Justizbehörden das Verhalten von Dr. Gross nach Par. 212 RStGB und nicht nach Par. 211 RStGB beurteilt wird. Par. 211 erfordert neben dem Tötungsvorsatz die Begehung der Tat aus "niedrigen" Beweggründen. Dr. Gross hat die Ermordung von wehrlosen Kindern veranlaßt, die ihm als Arzt anvertraut waren, hat offensichtlich ohne äußere Veranlassung in zumindest einem Fall ein Kind in einem Kinderheim für die Euthanasie selektioniert (vg. Urteilsbegründung des Oberlandesgerichts Wien, Prozeß Dr. Gross gegen Dr. Vogt) und hat in der Zeit einer von ihm verschwiegenen Beurlaubung vom Kriegsdienst "reichlich einen Monat lang...einen guten Teil der Reichsauschußarbeit", also des Ansuchens um Mordbewilligung, geleistet. Ein niederträchtigeres Verhalten ist kaum vorstellbar. Das Verhalten von Dr. Gross wäre demnach zweifellos selbst nach dem NS-Recht nach Par. 211 RStGB zu beurteilen. Warum haben die Justizbehörden diese Beurteilung nicht vorgenommen bzw. wie ist aus heutiger Sicht Ihre Auffassung dazu?
zu 4a): Michalek: "...Dr. Heinrich Gross wurde angeklagt, die Tötung von zumindest zwei Pflegebefohlenen durch Ann Katschenka veranlaßt zu haben. Im Hinblick darauf, daß die un*)mirst die "Benachrichtigung des Anzeigers", ein Formblatt, ist von Staatsanwaltschaft Karesch unterzeichnet.
Korsche verweist im Schreiben vom Jänner auch auf die Beschlagnahmung der Gehirnpräparate, die mit der Zurücklegung der Anzeige freigegeben wurden. Allerdings wurden diese, mit Ausnahme jener zehn nach Hamburg überführten und mittlerweile dort beerdigten Präparaten, von der Staatsanwaltschaft mittlerweile wegen des laufenden Verfahrens erneut beschlagnahmt.
*) Aus nicht geklärten Gründen ist an dieser Stelle - auch in der TATblatt-Papierausgabe - eine längere Textpassage hinausgefallen, ohne dass wir dies bemärkt hätten. Aus diesem Grund wird das Thema in TATblatt +85 erneut aufgegriffen: Heinrich Gross, die zweite.
aus: TATblatt Nr. plus 82 (,15/97) vom 11. September 1997
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