Bereits in TATblatt +82 haben wir über das heraufdämmernde Licht im Dunkel um den hartnäckigen Schutz, den der bis heute tätige Gerichtspsychiater und frühere NS-Euthanasiearzt der Anstalt "Am Spiegelgrund" in Wien, Heinrich Gross, durch die österreichische Justiz seit nunmehr 50 Jahren genießt, berichtet. Zwei parlamentarische Anfragen des grünen Abgeordneten Karl Öllinger und die Antworten von Justizminster Michalek liegen nun vor. Die Vorgeschichte ist ausgehend von den Gehirnpräparaten getöteter Kinder in TATblatt +64 und TATblatt +79 nachzulesen. Im Artikel aus TATblatt +82 wurden infolge redaktioneller Unzulänglichkeiten die Vorgänge rund um die zweite parlamentarische Anfrage von Karl Öllinger, die Antworten des Justizministers und die sich daraus ergebenden Schlüsse bis zur Unverständlichkeit vermurkst [genauer: am PC sind längere Textpassagen rausgefalen]. Hier also der zweite Versuch.
TATblatt; Quelle: Dokumentenservice der Grünen im Parlament,
parlamentaische Materialien: Anfragen: 2143/J, 2612/J und Antworten von Justizminster Michalek: 2148/AB, 2597/AB
Begonnen hatte die parlamentarische Ebene der Affäre Gross mit der ersten Anfrage von Karl Öllinger vom 18.3., in der er u.a. nach den Einstellungen der Verfahren und Gründen für die oftmalige Zurücklegung von Anzeigen gegen Gross durch die Staatsanwaltschaft und zur Haltung des Justizministeriums dazu fragte. Außerdem wollte Öllinger wissen, warum die Taten von Gross nach dem Reichstrafgesetzbuch und nicht nach dem österreichischen Strafrecht beurteilt würden. Darauf folgte eine lebhafte Parlamentsdebatte, in der der ermittelnden Justiz allerhand vorgeworfen wurde, was einem normalen Menschen schlicht eine Klage einbringen würde.
Wahrscheinlich waren manche überrascht, daß mit den Bekenntnissen des guten Willens von Seiten des Justizministers nach der ersten Anfrage die Sache nicht ausgestanden war. Karl Öllinger stellte eine zweite Anfrage am 20. Juni.
(gekürzt, Anfragen kursiv und eingerückt, Antworten unter Anführungszeichen original zitiert, sonst zusammengefaßt)
1. (Anfrage)
In der Anfragebeantwortung heißt es, daß das Vorhaben der Staatsanwaltschaft, die Anzeige des Dokumentationsarchivs vom 10.3.1997 zurückzulegen, nicht zur Kenntnis genommen, sondern "zwecks Schaffung einer umfassenden Beurteilungsgrundlage um die Vornahme weiterer Erhebungen (vor allem die Beischaffung und Auswertung weiterer Unterlagen und Akten) ersucht" wird.
a. Werden im Rahmen dieser Ermittlungen erstmalig auch Gutachten von Sachverständigen (Historiker, Mediziner) beigezogen werden?
b. Wird die Staatsanwaltschaft Wien, die bisher nie einen Grund zur Strafverfolgung gesehen hat, diese Ermittlungen leiten?
c. Staatsanwalt Dr. Karesch, der den Fall Gross bearbeitet, ist auch für die Ermittlungen bei den Kurdenmorden zuständig. Entspricht es Ihrer Ansicht nach dem gebotenen Interesse an rascher und umfassender Aufklärung, wenn angesichts der langen Säumigkeit der Justiz im Fall Dr. Gross und Kurdenmorde ein Staatsanwalt zwei so brisante und umfangreiche Fälle bearbeiten soll?
Darauf antwortet Michalek:
"Ob im vorliegenden Fall die Einholung der Sachverständigengutachten geboten ist, werden - zunächst - die staatsanwaltschaftlichen Behörden...zu beurteilen haben". Das "Zunächst" ist ein klarer Wink mit dem Zaunpfahl an die Staatsanwaltschaft, daß eine nochmalige Einstellung der Erhebungen nicht mehr hingenommen wird.
Außerdem ermittelt die Staatsanwaltschaft Wien, weil sie gemäß Stafprozeßordnung zuständig ist; Karesch ist nicht überfordert, meint der Leiter der Staatsanwaltschaft Wien (Korsche, Anm. Tb).
2. (Anfrage)
Dr. Gross ist über Jahrzehnte hinweg als gerichtlich beeideter Sachverständiger tätig gewesen und hat sogar im hohen Alter von 80 Jahren in über 300 Fällen in den Jahren 1995 und 1996 als Sachverständiger gewirkt.
In der Ausgabe 23/97 der Zeitschrift "NEWS" wird eine Aussage von Friedrich Z. wiedergegeben. Herr Z. war offensichtlich während der NS-Zeit in der Klinik "Am Spiegelgrund" behandelt worden und hatte dort Dr. Gross kennengelernt. Als Z. 1975 wegen kleinkrimineller Delikte vor Gericht stand, traf er dort Dr. Gross wieder, der als Gutachter fungierte:
"Z. erkannte den Arzt aus der Todesklinik wieder. Darauf angesprochen, meinte der Arzt laut Z.: "Schauen S', tua ma net in diesen alten Geschichten herumdoktern, das liegt fast vierzig Jahre z'ruck. Wenn S' über diese Zeit ruhig san, kann ich Ihnen versprechen, daß ich mich für Sie bei Gericht einsetzen werd' und Ihnen helf'."
a. Seit wann und in wievielen Fällen war Dr. Gross als gerichtlich beeideter Sachverständiger tätig?
b. Wie hoch ist die von ihm bezogene Honorarsumme während seiner Tätigkeit für die Justizbehörden?
c. War Dr. Gross auch zwischen 26.6.95 und 29.11.95, also jenem Zeitraum, in dem die Staatsanwaltschaft laut Anfragebeantwortung "weiterführende Erhebungen" erwog, als Gutachter tätig?
d. In wievielen Fällen war Dr. Gross innerhalb dieses Zeitraums als Gutachter tätig?
e. Entspricht es unserer Rechtsordnung, daß ein Sachverständiger, gegen den strafrechtlich ermittelt wird, gleichzeitig von den Justizbehörden als Gutachter eingesetzt wird?
f. Zumindest im Falle des Herrn Z. liegt der Verdacht nahe, daß das Gutachten durch das Wissen des Friedrich Z. um die Euthanasie-Tätigkeit von Dr. Gross beeinflußt wurde. Welche Konsequenzen hatte das Gutachten von Dr. Gross auf das Urteil gegen Friedrich Z.?
g. Wurde die Berichterstattung in NEWS 23/97 zum Anlaß genommen, gegen Dr. Gross im Hinblick auf Par. 288 (1) StGB (Erstattung eines falschen Gutachtens als Sachverständiger) zu ermitteln? Wenn ja, mit welchem Ergebnis? Wenn nein, warum nicht?
h. Sind Ihnen bzw. den Justizbehörden weitere Fälle bekannt, in denen die Gutachtertätigkeit des Dr. Gross durch seine eigene Vergangenheit als Euthanasie-Arzt beeinflußt worden ist?
i. Wurde Dr. Gross auch in Strafverfahren, in denen Verbrechen aus der NS-Zeit oder Delikte nach dem NS-Wiederbetätigungsgesetz abgehandelt wurden, als Gutachter herangezogen bzw. werden Sie eine entsprechende Prüfung veranlassen?
j. Ist Dr. Gross auch im Jahr 1997 als Gutachter für die Justizbehörden tätig geworden? Wenn ja, in wievielen Fällen?
Michalek antwortet:
zu 2a und b): "Aufgrund der beim Rechnungsführer des Landesgerichts für Strafsachen Wien aufliegenden Listen kann - allerdings nur bis ins Jahr 1980 zurück - nachvollzogen werden, wie viele Geldanweisungen an Dr. Gross erfolgten: ...ab 1984 bewegt sich Anzahl der Anweisungen zwischen 100 und 300 jährlich."
zu 2c und d): "Dr. Gross war auch im Zeitraum zwischen 26.6.1995 und 29.11.1995 als Gutachter tätig...wurden ihm in den Monaten Juni bis November 1995 - aufgrund von 118 Anweisungen - insgesamt S 275.448,-an Sachverständigengebühren ausbezahlt. Dazu ist anzumerken, daß zwischen der Bestellung einer Person zum Sachverständigen und der Auszahlung der Sachverständigengebühr für die geleistete Arbeit in der Regel mehrere Monate vergehen."
zu 2e): Die Richterbesprechung hat mittlerweile stattgefunden.
zu 2f): Z. wurde wegen mehrfachen Diebstahls zu sechs Jahren Haft und aufgrund eines Gutachtens von Gross in eine "Anstalt für gefährliche Rückfallstäter" eingewiesen. Michalek: "Ein Anhaltspunkt dafür, daß die persönliche Vergangenheit von Dr. Gross einen Einfluß auf sein Gutachten in diesem Verfahren gehabt hat oder daß er dabei ein falsches Gutachten erstattet hätte, ergibt sich aus diesem Geschehen nicht."
zu 2g): Kein Hinweis auf eine Straftat.
zu 2h und i): "...kann geschlosen werden, daß Dr. Gross ...in einigen tausend Gerichtsverfahren als Sachverständiger herangezogen wurde."
zu 2j): Im Zeitraum zwischen 1.1. und 14.7.1997 erfolgten beim Landesgericht für Strafsachen Wien 47 Anweisungen von Sachverständigengebühren an Dr. Gross. Daraus kann geschlossen werden, daß Dr. Gross auch noch im Jahr 1997 in mehreren Fällen von Richtern des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Sachverständiger herangezogen wurde."
3. (Anfrage) (bringt keine Neuigkeiten, Anm. TATblatt)
4. (Anfrage)
Die Staatsanwaltschaft Wien hat sich 47 Jahre lang in ihrer Argumentation, daß keine strafrechtlichen Verfolgungsgründe gegenüber Dr. Gross gegeben seien, auf das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Volksgericht vom 29.3.1950 gestützt, mit dem Dr. Gross wegen des Verbrechens der Mitschuld am Totschlag nach Par. 5 StG und Par. 212 RStG zu zwei Jahren Haft verurteilt worden war. Dieses Urteil wurde vom Obersten Gerichtshof aufgehoben und zur Neuverhandlung an die Erstinstanz zurückverwiesen. Die Staatsanwaltschaft Wien trat daraufhin am 25.5.1951 von der Anklage gegen Dr. Gross wegen des Verbrechens des Totschlags als Mord Mitschuldiger zurück und begründete dies im Tagebuch 15 St 12091/51 damit, daß eine neuerliche Hauptverhandlung"unweigerlich zu einem Freispruch des Dr. Gross führen" würde.
Im deutlichen Unterschied dazu stellte das Oberlandesgericht Wien als Berufungsinstanz in der Strafsache Dr. Gross gegen Dr. Vogt fest, daß das Urteil des Volksgerichtes vom 29.3.1950 "an inneren Widersprüchen und Feststellungsmängeln" gelitten hatte, das Oberlandesgericht allerdings "zu einer anderen Urteilsgrundlage" kam, weil Dr. Gross seine leugnende Verantwortung aufgab bzw. ihm mehrere Unwahrheiten nachgewiesen werden konnten.
Es erscheint auch merkwürdig, daß die Anzeigen bzw. Sachverhaltsdarstellungen gegen Dr. Gross von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf ein aufgehobenes Urteil des Volksgerichtes Wien und mit der Begründung, bei dem Dr. Gross zur Last gelegten Straftatbestand handle es sich um (verjährten) Totschlag und nicht um Mord, zurückgelegt worden sind.
In der Anfragebeantwortung (2148/ AB) vertreten Sie die Auffassung, "eine allenfalls erweisbare Mitwirkung von Dr. Gross an Euthanasiehandlungen im Jahr 1944 sei rechtlich ebenfalls nach Par. 212 RStGB zu beurteilen und damit verjährt".
Diese Ansicht kontrastiert mit der Anklage bzw. dem Urteil gegen Dr. Illing, den Primar und Leiter der Klinik "Am Spiegelgrund", der in einem Verfahren vor dem Volksgericht Wien 1946 wegen des Verbrechens des vollbrachten Meuchelmordes nach Par. 134, 135 Z.1 StG angeklagt und schließlich zum Tode verurteilt worden ist.
a. Warum wurde Dr. Illing 1946 wegen des Verbrechens des vollbrachten Meuchelmordes nach dem alten österreichischen Strafgesetz angeklagt und verurteilt, Dr. Gross im Jahre 1950 aber nach dem NS-Strafrecht?
b. Der sogenannte "Anschluß" im Jahr 1938 war sowohl völkerrechts- als auch verfassungswidrig (vgl. dazu etwa Wiederin: März 1938 -staatsrechtlich betrachtet, In: Nationalsozialismus und Recht, Davy u.a. (Hrsg.)). Die österreichische Rechtsordnung von vor 1938 galt daher auch in der Okkupation Österreichs fort. Sie war lediglich vorübergehend nicht effektiv. Die gegenteilige Ansicht würde im übrigen zum unerträglichen Ergebnis führen, daß verbrecherische Handlungen in der Zeit der Naziokkupation ausschließlich nach dem damals geltenden Strafrecht zu beurteilen wären. Welche Auffassung teilen Sie als Justizminister bzw. die Justizbehörden?
c. Selbst wenn man die unter b) dargelegte Rechtsauffassung nicht teilt, ist das Verhalten von Dr. Gross nicht am Reichsstrafgesetzbuch, sondern am österreichischen Strafgesetz zu messen. Die Nationalsozialisten haben nämlich die Geltung des Strafgesetzes in Österreich nicht beseitigt. Es galten sowohl in Österreich als auch im "Altreich" die jeweils früheren Gesetze auf dem Gebiet des Strafrechts (vgl. Loebenstein, Strafrecht und Strafenpraxis im nationalsozialistischen Staat, 201). Teilen Sie bzw. die Justizbehörden diese Auffassung?
d. Darüber hinaus ist völlig unverständlich, warum von den österreichischen Justizbehörden das Verhalten von Dr. Gross nach Par. 212 RStGB und nicht nach Par. 211 RStGB beurteilt wird. Par. 211 erfordert neben dem Tötungsvorsatz die Begehung der Tat aus "niedrigen" Beweggründen. Dr. Gross hat die Ermordung von wehrlosen Kindern veranlaßt, die ihm als Arzt anvertraut waren, hat offensichtlich ohne äußere Veranlassung in zumindest einem Fall ein Kind in einem Kinderheim für die Euthanasie selektioniert (vgl. Urteilsbegründung des Oberlandesgerichts Wien, Prozeß Dr. Gross gegen Dr. Vogt) und hat in der Zeit einer von ihm verschwiegenen Beurlaubung vom Kriegsdienst "reichlich einen Monat lang...einen guten Teil der Reichsausschußarbeit", also des Ansuchens um Mordbewilligung, geleistet. Ein niederträchtigeres Verhalten ist kaum vorstellbar. Das Verhalten von Dr. Gross wäre demnach zweifellos selbst nach dem NS-Recht nach Par. 211 RStGB zu beurteilen. Warum haben die Justizbehörden diese Beurteilung nicht vorgenommen bzw. wie ist aus heutiger Sicht Ihre Auffassung dazu?
Die Antworten
zu 4a): Michalek: "...Dr. Heinrich Gross wurde angeklagt, die Tötung von zumindest zwei Pflegebefohlenen durch Anna Katschenka veranlaßt zu haben. Im Hinblick darauf, daß die unmittelbare Täterin Anna Katschenka des Totschlags nach Par. 212 RStGB rechtskräftig schuldig erkannt wurde, subsumierte die Staatsanwaltschaft Wien das Dr. Gross vorgeorfene Verhaten ebenfalls unter dieser Strafbestimmung..."
zu 4b und c): kurz gesagt, das RStGB hat laut Michalek in Österreich gegolten, in Deutschland sind die beiden Paragrafen noch heute geltendes Recht.
zu 4d): "Hiezu sei einleitend richtiggestellt, daß ich in der in der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage Zl. 2143/J-NR/1997 (gemeint ist die erste von Öllinger, Anm. Tb) keineswegs die Auffassung vertreten habe, daß eine allenfalls erweisbare Mitwirkung von Dr. Gross an Euthanasiehandlungen rechtlich nach Par. 212 RStGB (Totschlag, Anm. TATblatt) zu beurteilen und damit verjährt sei...Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, daß die Überlegungen über die rechtliche Qualifikation einer Teilnahme an Euthanasiehandlungen während des Nationalsozialismus mittlerweile im Bundesministerium für Justiz...vertieft und verfeinert wurden. So werden beispielsweise...nicht nur das Tatbestandsmerkmal der 'niedrigen Beweggründe', sondern auch die anderen Qualifikationsmerkmale dieser Bestimmung, wie etwa jenes der 'Heimtücke', zu untersuchen sein."
5. (Anfrage)
Zum Zeitpunkt des Volksgerichtsprozesses gegen Dr. Illing waren noch 772 Krankengeschichten gestorbener Kinder vorhanden, das gerichtsärztliche Gutachten im Prozeß Dr. Illing überprüfte aber nur exemplarische 18. Aus der Dissertation von Matthias Dahl, Endstation Spiegelgrund, Göttingen 1996, geht hervor, daß heute Aktenbestände, Krankengeschichten und Gehirnpräparate fehlen.
Nach uns vorliegenden Informationen ist es denkbar, daß Dr. Gross auch in anderen Abteilungen der Klinik "Am Spiegelgrund" tätig geworden ist. So soll ein Johann Jädige, der die Einberufung zum Volkssturm verweigert hat, in die Klinik "Am Spiegelgrund" eingeliefert worden sein und kurz darauf an Lungenentzündung verstorben sein. Dr. Gross soll in diesem Fall die Totenbescheinigung ausgestellt haben.
Im Zuge der von der Stadt Wien vorgesehenen Bestattung der Gehirnpräparate der ermordeten Kinder haben sich verschiedene Angehörige gemeldet, deren Verwandte am Spiegelgrund ermordet worden sind. Einige von ihnen haben Dr. Gross offensichtlich belastet.
Dr. Gross hat offensichtlich in seiner eigenen Erinnerung große Lücken, die durch die Herbeischaffung der Personalakten der Stadt Wien bzw. aus dem Kriegsarchiv bzw. von deutschen Archiven und einschlägigen Gerichtsverfahren beseitigt werden könnten.
a. Wieviele Krankengeschichten existieren noch?
b. Wieviele Krankengeschichten existieren noch, in denen Dr. Gross aufscheint?
c. Sind Aktenbestände bzw. Gehirnpräparate verschwunden?
d. War Dr. Gross auch in anderen Abteilungen der Klinik "Am Spiegelgrund" tätig bzw. hat er beim Tod des Johann Jädige eine wie auch immer geartete Rolle gespielt?
e. Werden die Personen, die sich bei der Gemeinde Wien bzw. bei verschiedenen Medien ("profil", "News") gemeldet haben, zeugenschaftlich befragt?
f. Werden im Rahmen der von Ihnen angekündigten "Schaffung einer umfassenden Beurteilungsgrundlage" Unterlagen zur Kindereuthanasie aus deutschen Archiven bzw. die oben erwähnten Akten angefordert?
Michaleks Antworten
zu 5a): es gibt noch 309 Krankengschichten, davon 51 aus dem Jahr 1994.
zu 5b, c, d, e): Beantwortung noch nicht möglich.
zu 5f): die Staatsanwaltschaft Wien hat am 2.6. Ersuchen abgeschickt.
6. (Anfrage)
Zu den Aufgaben der Justiz zählt auch, Opfern von Verbrechen und ihren Angehörigen zu ihrem Recht auf Entschädigung zu verhelfen. Welche Anstrengungen werden Sie diesbezüglich unternehmen?
Antwort zu 6): Michalek verweist auf den Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus.
An der Person Gross ist der Komplex an Begünstigung der Justiz und politischer Parteien für NS-Täter, das System des repressiven Umgangs der Psychiatrie mit "Abweichenden", das Vertuschen von in der Nazizeit begangenen Verbrechen und die Leugung derselben bis in die Gegenwart, sowie die Ignoranz gegenüber den Opfern exemplarisch verdeutlicht. Und genau darum wollten die Beteiligten lieber die Gehirnpräparate der "Am Spiegelgrund" ermordeten Kinder - denn am Anfang der Debatte standen die Gehirnpräparate im Städtischen Krankenhaus Baumgartner Höhe in Wien - in einer öffentlich nicht zugänglichen Kammer - euphemistisch "Gedenkraum" genannt - noch weitere Jahre verstauen, oder im schlimmsten Fall ohne großes Tamtam unter einem Stein am Zentralfriedhof verscharren.
Mittlerweile ist daraus eine Angelegenheit mit internationaler Dimension geworden. Am 24. Juli berichtete die Neue Zürcher Zeitung über weitere Details, so aus dem Urteil gegen Gross aus dem Jahr 1951. Gross war demnach laut Aussage des 1946 hingerichteten Kriegsverbrechers Illing (der Leiter des "Spiegelgrunds" und direkter Vorgesetzter von Gross war), zu dessen "wesentlicher Entlastung" tätig. Im NZZ-Artikel wird auch der Inhalt jenes Dokuments genannt, das aus DDR-Archiven stammt und 1995 auftauchte. Darin ersuchte Illing seine vorgesetzte Stelle um eine Sonderzuwendung für "den früheren Mitarbeiter des Reichsausschusses Gross". Die Reichsausschußarbeit war aber in der Praxis nichts anderes als die bürokratische Selektion mittels Ermittlungsbögen für die Ermordung von "Minderwertigen" und deren praktische Durchführung. Gross nahm zudem laut seiner Personalakte bereits 1942 an einer Sitzung des "Reichsausschusses" (auch unter T4 bekannt, durch den die NS-Euthanasie geplant und durchgeführt wurde) teil, was er jedoch leugnet.
Mit jeder Veröffentlichung werden neue Fragen aufgeworfen. Da ist zunächst die Frage der Beweise in Form von Akten in der Anstalt selbst und Erfassungs- bzw. Meldebögen an die damalige Zentrale (T4) in Berlin. In dieser Frage hat sich der derzeitige Leiter der Baumgartner Höhe (dort lagern die Gehirnpräparate), Prof. Gabriel, zumindest in einem Fall, nämlich der 1944 "Am Spiegelgrund" getöteten Irma Sperling, als Geheimniskrämer ersten Ranges erwiesen. "Gerne übermittle ich Ihnen beiliegend eine Kopie der einzigen Krankengeschichtsunterlage, die in unserem Krankenhaus besteht...", schrieb Gabriel am 2.3.1995 an die Angehörige von Irma Sperling. Irma Sperling war aus Hamburg nach Wien deportiert worden, sodaß Gabriel ein Jahr lang keine Notwendigkeit gesehen hatte, die Wiener Unterlagen herauszurücken, was aus dem folgenden Satz des Schreibens hervorgeht: "Die Krankengeschichte von dort (gemeint ist Hamburg, Anm. TATblatt) lag ja schon seinerzeit anläßlich ihrer ersten Korrespondenz mit mir nicht vor. Zur Sicherheit übermittle ich Ihnen auch noch einmal eine Kopie meines Briefes vom 31.3.1994." Tatsächlich übergab Gabriel jedoch nicht die Krankengeschichte der Anstalt "Am Spiegelgrund", sondern den Aufnahmeakt anläßlich der Überstellung aus Hamburg-Alsterdorf, noch vor der Einlieferung in den Pavillion "Am Spiegelgrund". Der Akt ist handschriftlich geführt, zum Teil mit Unterschriften versehen und macht deutlich, warum diese Akten "verschwinden"; anhand der Handschriften wäre es ein leichtes, die TäterInnen ihren Opfern zuzuordnen.
Jedenfalls hat der Leiter der Baumgartner Höhe persönlich die Entscheidung darüber inne, ob und wie diese weitergegeben werden. Zudem wird zu fragen sein, was der zuständige Gesundheitsstadtrat Rieder, der für das Psychiatrische Krankenhaus als der MA17 unterstehend verantwortlich ist, in der Angelegenheit getan hat, oder auch nicht.
Weiters ist es mehr als zweifelhaft, ob der nach außen durch die Niederlegung der Anzeige des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes (DÖW) auftretende Staatsanwalt Karesch überhaupt der richtige Adressat für Fragen zu den Vorgängen in der Justiz ist. Während der Ermittlungen infolge der DÖW-Anzeige im Jahre 1995 wurden Schriftstücke nämlich nicht von Karesch, sondern direkt vom Leiter der Staatsanwaltschaft Wien, Adolf Korsche, unterzeichnet. Es sind dies eine Benachrichtigung, daß "die ha. Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind" aus dem November 1995 und eine Benachrichtigung, daß "die ha. Ermittlungen gegen Dr. Heinrich Gross nunmehr angeschlossen sind" vom Jänner 1996. Erst die "Benachrichtigung des Anzeigers", ein Formblatt, ist von Staatsanwaltschaft Karesch unterzeichnet.
Korsche verweist im Schreiben vom Jänner 1996 auch auf die Beschlagnahmung der Gehirnpräparate, die mit der Zurücklegung der Anzeige freigegeben wurden. Allerdings wurden diese, mit Ausnahme jener zehn nach Hamburg überführten und mittlerweile dort beerdigten Präparate, von der Staatsanwaltschaft mittlerweile wegen des laufenden Verfahrens erneut beschlagnahmt.
aus: TATblatt Nr. +85 (,18/97) vom 23. Oktober 1997
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