TATblatt


Heinrich Gross, die zweite

Bereits in TATblatt +82 haben wir über das heraufdämmernde Licht im Dunkel um den hartnäckigen Schutz, den der bis heute tätige Gerichtspsychiater und frühere NS-Euthanasiearzt der Anstalt "Am Spiegelgrund" in Wien, Heinrich Gross, durch die österreichische Justiz seit nunmehr 50 Jahren genießt, berichtet. Zwei parlamentarische Anfragen des grünen Abgeordneten Karl Öllinger und die Antworten von Justizminster Michalek liegen nun vor. Die Vorgeschichte ist ausgehend von den Gehirnpräparaten getöteter Kinder in TATblatt +64 und TATblatt +79 nachzulesen. Im Artikel aus TATblatt +82 wurden infolge redaktioneller Unzulänglichkeiten die Vorgänge rund um die zweite parlamentarische Anfrage von Karl Öllinger, die Antworten des Justizministers und die sich daraus ergebenden Schlüsse bis zur Unverständlichkeit vermurkst [genauer: am PC sind längere Textpassagen rausgefalen]. Hier also der zweite Versuch.

TATblatt; Quelle: Dokumentenservice der Grünen im Parlament,

parlamentaische Materialien: Anfragen: 2143/J, 2612/J und Antworten von Justizminster Michalek: 2148/AB, 2597/AB

Begonnen hatte die parlamentarische Ebene der Affäre Gross mit der ersten Anfrage von Karl Öllinger vom 18.3., in der er u.a. nach den Einstellungen der Verfahren und Gründen für die oftmalige Zurücklegung von Anzeigen gegen Gross durch die Staatsanwaltschaft und zur Haltung des Justizministeriums dazu fragte. Außerdem wollte Öllinger wissen, warum die Taten von Gross nach dem Reichstrafgesetzbuch und nicht nach dem österreichischen Strafrecht beurteilt würden. Darauf folgte eine lebhafte Parlamentsdebatte, in der der ermittelnden Justiz allerhand vorgeworfen wurde, was einem normalen Menschen schlicht eine Klage einbringen würde.

Wahrscheinlich waren manche überrascht, daß mit den Bekenntnissen des guten Willens von Seiten des Justizministers nach der ersten Anfrage die Sache nicht ausgestanden war. Karl Öllinger stellte eine zweite Anfrage am 20. Juni.

Die Anfrage

(gekürzt, Anfragen kursiv und eingerückt, Antworten unter Anführungszeichen original zitiert, sonst zusammengefaßt)

Darauf antwortet Michalek:

"Ob im vorliegenden Fall die Einholung der Sachverständigengutachten geboten ist, werden - zunächst - die staatsanwaltschaftlichen Behörden...zu beurteilen haben". Das "Zunächst" ist ein klarer Wink mit dem Zaunpfahl an die Staatsanwaltschaft, daß eine nochmalige Einstellung der Erhebungen nicht mehr hingenommen wird.

Außerdem ermittelt die Staatsanwaltschaft Wien, weil sie gemäß Stafprozeßordnung zuständig ist; Karesch ist nicht überfordert, meint der Leiter der Staatsanwaltschaft Wien (Korsche, Anm. Tb).

Michalek antwortet:

zu 2a und b): "Aufgrund der beim Rechnungsführer des Landesgerichts für Strafsachen Wien aufliegenden Listen kann - allerdings nur bis ins Jahr 1980 zurück - nachvollzogen werden, wie viele Geldanweisungen an Dr. Gross erfolgten: ...ab 1984 bewegt sich Anzahl der Anweisungen zwischen 100 und 300 jährlich."

zu 2c und d): "Dr. Gross war auch im Zeitraum zwischen 26.6.1995 und 29.11.1995 als Gutachter tätig...wurden ihm in den Monaten Juni bis November 1995 - aufgrund von 118 Anweisungen - insgesamt S 275.448,-an Sachverständigengebühren ausbezahlt. Dazu ist anzumerken, daß zwischen der Bestellung einer Person zum Sachverständigen und der Auszahlung der Sachverständigengebühr für die geleistete Arbeit in der Regel mehrere Monate vergehen."

zu 2e): Die Richterbesprechung hat mittlerweile stattgefunden.

zu 2f): Z. wurde wegen mehrfachen Diebstahls zu sechs Jahren Haft und aufgrund eines Gutachtens von Gross in eine "Anstalt für gefährliche Rückfallstäter" eingewiesen. Michalek: "Ein Anhaltspunkt dafür, daß die persönliche Vergangenheit von Dr. Gross einen Einfluß auf sein Gutachten in diesem Verfahren gehabt hat oder daß er dabei ein falsches Gutachten erstattet hätte, ergibt sich aus diesem Geschehen nicht."

zu 2g): Kein Hinweis auf eine Straftat.

zu 2h und i): "...kann geschlosen werden, daß Dr. Gross ...in einigen tausend Gerichtsverfahren als Sachverständiger herangezogen wurde."

zu 2j): Im Zeitraum zwischen 1.1. und 14.7.1997 erfolgten beim Landesgericht für Strafsachen Wien 47 Anweisungen von Sachverständigengebühren an Dr. Gross. Daraus kann geschlossen werden, daß Dr. Gross auch noch im Jahr 1997 in mehreren Fällen von Richtern des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Sachverständiger herangezogen wurde."

Die Antworten

zu 4a): Michalek: "...Dr. Heinrich Gross wurde angeklagt, die Tötung von zumindest zwei Pflegebefohlenen durch Anna Katschenka veranlaßt zu haben. Im Hinblick darauf, daß die unmittelbare Täterin Anna Katschenka des Totschlags nach Par. 212 RStGB rechtskräftig schuldig erkannt wurde, subsumierte die Staatsanwaltschaft Wien das Dr. Gross vorgeorfene Verhaten ebenfalls unter dieser Strafbestimmung..."

zu 4b und c): kurz gesagt, das RStGB hat laut Michalek in Österreich gegolten, in Deutschland sind die beiden Paragrafen noch heute geltendes Recht.

zu 4d): "Hiezu sei einleitend richtiggestellt, daß ich in der in der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage Zl. 2143/J-NR/1997 (gemeint ist die erste von Öllinger, Anm. Tb) keineswegs die Auffassung vertreten habe, daß eine allenfalls erweisbare Mitwirkung von Dr. Gross an Euthanasiehandlungen rechtlich nach Par. 212 RStGB (Totschlag, Anm. TATblatt) zu beurteilen und damit verjährt sei...Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, daß die Überlegungen über die rechtliche Qualifikation einer Teilnahme an Euthanasiehandlungen während des Nationalsozialismus mittlerweile im Bundesministerium für Justiz...vertieft und verfeinert wurden. So werden beispielsweise...nicht nur das Tatbestandsmerkmal der 'niedrigen Beweggründe', sondern auch die anderen Qualifikationsmerkmale dieser Bestimmung, wie etwa jenes der 'Heimtücke', zu untersuchen sein."

Michaleks Antworten

zu 5a): es gibt noch 309 Krankengschichten, davon 51 aus dem Jahr 1994.

zu 5b, c, d, e): Beantwortung noch nicht möglich.

zu 5f): die Staatsanwaltschaft Wien hat am 2.6. Ersuchen abgeschickt.

Antwort zu 6): Michalek verweist auf den Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus.

Kommentar TATblatt:

Weiterführende Dimensionen

An der Person Gross ist der Komplex an Begünstigung der Justiz und politischer Parteien für NS-Täter, das System des repressiven Umgangs der Psychiatrie mit "Abweichenden", das Vertuschen von in der Nazizeit begangenen Verbrechen und die Leugung derselben bis in die Gegenwart, sowie die Ignoranz gegenüber den Opfern exemplarisch verdeutlicht. Und genau darum wollten die Beteiligten lieber die Gehirnpräparate der "Am Spiegelgrund" ermordeten Kinder - denn am Anfang der Debatte standen die Gehirnpräparate im Städtischen Krankenhaus Baumgartner Höhe in Wien - in einer öffentlich nicht zugänglichen Kammer - euphemistisch "Gedenkraum" genannt - noch weitere Jahre verstauen, oder im schlimmsten Fall ohne großes Tamtam unter einem Stein am Zentralfriedhof verscharren.

Mittlerweile ist daraus eine Angelegenheit mit internationaler Dimension geworden. Am 24. Juli berichtete die Neue Zürcher Zeitung über weitere Details, so aus dem Urteil gegen Gross aus dem Jahr 1951. Gross war demnach laut Aussage des 1946 hingerichteten Kriegsverbrechers Illing (der Leiter des "Spiegelgrunds" und direkter Vorgesetzter von Gross war), zu dessen "wesentlicher Entlastung" tätig. Im NZZ-Artikel wird auch der Inhalt jenes Dokuments genannt, das aus DDR-Archiven stammt und 1995 auftauchte. Darin ersuchte Illing seine vorgesetzte Stelle um eine Sonderzuwendung für "den früheren Mitarbeiter des Reichsausschusses Gross". Die Reichsausschußarbeit war aber in der Praxis nichts anderes als die bürokratische Selektion mittels Ermittlungsbögen für die Ermordung von "Minderwertigen" und deren praktische Durchführung. Gross nahm zudem laut seiner Personalakte bereits 1942 an einer Sitzung des "Reichsausschusses" (auch unter T4 bekannt, durch den die NS-Euthanasie geplant und durchgeführt wurde) teil, was er jedoch leugnet.

Mit jeder Veröffentlichung werden neue Fragen aufgeworfen. Da ist zunächst die Frage der Beweise in Form von Akten in der Anstalt selbst und Erfassungs- bzw. Meldebögen an die damalige Zentrale (T4) in Berlin. In dieser Frage hat sich der derzeitige Leiter der Baumgartner Höhe (dort lagern die Gehirnpräparate), Prof. Gabriel, zumindest in einem Fall, nämlich der 1944 "Am Spiegelgrund" getöteten Irma Sperling, als Geheimniskrämer ersten Ranges erwiesen. "Gerne übermittle ich Ihnen beiliegend eine Kopie der einzigen Krankengeschichtsunterlage, die in unserem Krankenhaus besteht...", schrieb Gabriel am 2.3.1995 an die Angehörige von Irma Sperling. Irma Sperling war aus Hamburg nach Wien deportiert worden, sodaß Gabriel ein Jahr lang keine Notwendigkeit gesehen hatte, die Wiener Unterlagen herauszurücken, was aus dem folgenden Satz des Schreibens hervorgeht: "Die Krankengeschichte von dort (gemeint ist Hamburg, Anm. TATblatt) lag ja schon seinerzeit anläßlich ihrer ersten Korrespondenz mit mir nicht vor. Zur Sicherheit übermittle ich Ihnen auch noch einmal eine Kopie meines Briefes vom 31.3.1994." Tatsächlich übergab Gabriel jedoch nicht die Krankengeschichte der Anstalt "Am Spiegelgrund", sondern den Aufnahmeakt anläßlich der Überstellung aus Hamburg-Alsterdorf, noch vor der Einlieferung in den Pavillion "Am Spiegelgrund". Der Akt ist handschriftlich geführt, zum Teil mit Unterschriften versehen und macht deutlich, warum diese Akten "verschwinden"; anhand der Handschriften wäre es ein leichtes, die TäterInnen ihren Opfern zuzuordnen.

Jedenfalls hat der Leiter der Baumgartner Höhe persönlich die Entscheidung darüber inne, ob und wie diese weitergegeben werden. Zudem wird zu fragen sein, was der zuständige Gesundheitsstadtrat Rieder, der für das Psychiatrische Krankenhaus als der MA17 unterstehend verantwortlich ist, in der Angelegenheit getan hat, oder auch nicht.

Weiters ist es mehr als zweifelhaft, ob der nach außen durch die Niederlegung der Anzeige des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes (DÖW) auftretende Staatsanwalt Karesch überhaupt der richtige Adressat für Fragen zu den Vorgängen in der Justiz ist. Während der Ermittlungen infolge der DÖW-Anzeige im Jahre 1995 wurden Schriftstücke nämlich nicht von Karesch, sondern direkt vom Leiter der Staatsanwaltschaft Wien, Adolf Korsche, unterzeichnet. Es sind dies eine Benachrichtigung, daß "die ha. Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind" aus dem November 1995 und eine Benachrichtigung, daß "die ha. Ermittlungen gegen Dr. Heinrich Gross nunmehr angeschlossen sind" vom Jänner 1996. Erst die "Benachrichtigung des Anzeigers", ein Formblatt, ist von Staatsanwaltschaft Karesch unterzeichnet.

Korsche verweist im Schreiben vom Jänner 1996 auch auf die Beschlagnahmung der Gehirnpräparate, die mit der Zurücklegung der Anzeige freigegeben wurden. Allerdings wurden diese, mit Ausnahme jener zehn nach Hamburg überführten und mittlerweile dort beerdigten Präparate, von der Staatsanwaltschaft mittlerweile wegen des laufenden Verfahrens erneut beschlagnahmt.


aus: TATblatt Nr. +85 (,18/97) vom 23. Oktober 1997
(c)TATblatt
Alle Rechte vorbehalten
Nachdruck, auch auszugsweise, nur in linken, alternativen und ähnlichen Medien ohne weiteres gestattet (Belegexemplar erbeten)!
In allen anderen Fällen Nachdruck nur mit Genehmigung der Medieninhaberin (siehe Impressum)


[zum TATblatt-Inhaltsverzeichnis]