Brief aus Leipzig
Kritik am diesjährigen Aufruf zur Demo
gegen den größten deutschen Abschiebeknast in Büren
Anders als im letzten Jahr haben wir uns in diesem Jahr entschieden,
nicht zur bundesweiten Demo gegen Abschiebeknäste zu mobilisieren.
Da das nicht (nur) aus Zeitgründen, der Notwendigkeit, Prioritäten
zu setzen oder mangelndem Engagement geschieht, haben wir unsere
Kritik an der diesjährigen Vorbereitung und dem Aufruf formuliert
und dem Vorbereitungskollektiv als Brief zugeschickt.
Auch in diesem Jahr hätten Themen wie frauenspezifische Flucht-
und Migrationsgründe, Verknüpfung von Rassismus und Sexismus
(u.a. in der BRD/EU-„Asyl-“ und Abschiebepolitik) und
deren Ignoranz innerhalb der linken/linksradikalen Szenen Teil der
Vorbereitung und des Aufrufs sein können und sollen. Warum
in diesem Jahr wieder nach Büren und nicht nach Neuss gefahren
werden soll, wird nicht erwähnt. Gab es dazu eine Diskussion,
ist das eine Reaktion auf die geringe TeilnehmerInnenzahl des letzten
Jahres, kickt Büren mehr, weil größer? Wenigstens
in Neuss, 16.5k den Anschreiben an die einzelnen Gruppen hätte
das thematisiert werden sollen. Wir denken, daß u.a. Neuss
gezeigt hat, daß eine Auseinandersetzung mit sexistischen
Handlungs- und Denkmustern in linken/linksradikalen Gruppen (weiter)
geführt werden muß. Diese hätte durch einen Anstoß
der breiteren Diskussion und ein Festhalten an Neuss als Demoort
passieren können.
Zusätzlich zum Übergehen von Sexismus ist
der zweite große Kritikpunkt von uns der Aufruf. Wir finden,
es wird zu oberflächlich, kurz und unpolitisch argumentiert.
Zum Beispiel wird nach wie vor eine Hoffnung auf Rot/Grün (sowohl
im zweiten Absatz als auch im letzten Satz) impliziert, die schon
seit Jahren nicht mehr gerechtfertigt ist. Daß SPD und Grüne
eine rassistische und hetzerische Politik betreiben, sollte inzwischen
keiner Erwähnung mehr bedürfen. SPD oder Grüne haben
diese Politik nicht „nahtlos übernommen“, sondern
von vornherein aktiv betrieben, sowohl in der vermeintlichen Opposition
in Bonn, als auch in den Bundesländern (gerade NRW ist knastmäßig
ganz vorne dabei).
Zwar wird die rassistische Abschottungspolitik der EU genannt. Warum
diese betrieben wird, z.B. deren kausale Verknüpfung mit dem
kapitalistischen System, findet keine Erwähnung.
Der Aufruf kritisiert indirekt die Sprache der PolitikerInnen, in
dem Anführungsstriche verwendet werden, daß Worte wie
„Zuwanderungsströme“, „terroristische Banden“
etc. aber direkt den Boden bereiten für den nationalistischen,
rassistischen Mob und die öffentliche Meinung noch weiter nach
rechts schieben, wird nicht benannt. Worte wie „geströmt“
und „überschwemmen“ oder der versächlichende
Begriff „Flüchtling“ stehen ohne Anführungszeichen,
die klare Abgrenzung zu diesem rassistischen Sprachgebrauch fehlt.
Viele Themenbereiche werden nur kurz angerissen (z.B.
Sachleistungen statt Kohle, Abschiebepraxis, Fluchtursachen und
-gründe), dabei wird eine Kritik nicht wirklich deutlich. Eigene
Forderungen und Argumentationen fehlen leider. So sind „Art
und Qualität“ von Lebensmittelpaketen unserer Meinung
nach vollkommen irrelevant, da die Forderung nach deren Abschaffung
unabhängig von ihrer Güte besteht.
Büren, 13.0k Daß die Macht- und Ressourcenverteilung
Folge und Ziel der jahre- und jahrhundertelangen westeuropäischen
und deutschen Politik war und ist, arbeitet die Vorbereitungsgruppe
nicht heraus. Kolonialismus und aggressiver rassistischer Kapitalismus,
der genau diese vorhandene Aufteilung der Welt benötigt, werden
nicht in die Verantwortung genommen. Statt dessen wird nur von einer
„Mitschuld“ an „Armut und Zerstörung des
Lebensraumes“ geschrieben. Eine genauere politische Analyse
wäre angebracht.
Bei der Beschreibung des bürokratischen Vorgangs bei Abschiebungen
bleibt die Kritik ebenfalls an der Oberfläche. Egal, ob irgendwelche
Einschätzungen „die tatsächlichen Verhältnisse“
in einem Land beschreiben, eine politische Forderungen ist doch,
daß die Grenzen weg müssen und jede Person ohne irgendeine
Einschränkung leben kann, wo sie will. Verinnerlichter Rassismus
wird unserer Meinung nach noch befördert, in dem explizit darauf
hingewiesen wird, daß in Büren „ca. 90% der Inhaftierten
... nicht straffällig“ geworden sind. Wahrscheinlich
denken die meisten Menschen bei Knast an Kriminalität. Und
auf die Normalität einer Inhaftierung ohne dem System einen
Grund geliefert zu haben, muß durchaus immer wieder hingewiesen
werden. Aber in dieser verkürzten Version bleibt die Argumentation
rein bürgerlich. Nach dem Motto: Sogar „unschuldige“
Menschen werden in den Abschiebeknast gesteckt. Als wäre es
bei nach BRD-gängiger „Rechtspraxis“ Kriminellen
noch zu verstehen, daß sie weggesperrt werden. Diese unterschwellige
Meinung wird verfestigt, in dem der Text nicht die Forderung nach
der Schließung aller Abschiebeknäste aufstellt. Der brutal
rassistische Alltag wird nicht angeprangert und dessen Beendigung
nicht gefordert.
In dem abgesetzten und fett gedruckten Statement auf der Vorderseite
wird lediglich um Verständnis für MigrantInnen gebeten,
da „niemand“ „ohne Grund und... psychische Belastung“
in die BRD komme. Wir denken, daß die Forderung „Grenzen
auf für alle“ nach wie vor Bestand hat und niemand einen
Grund benötigt oder dem deutschen System Rechenschaft schuldig
ist, warum sie oder er entschieden hat, hier zu leben. Gerade in
einer Zeit der rechten Hegemonie und offen rassistischer Hetze ist
es wichtig, sich nicht in einen vermeintlichen Dialog zu begeben,
sondern an radikaler Kritik festzuhalten.
Ein Aufruf kann selbstverständlich nie ein Thema vollkommen
und umfassend behandeln. Deshalb ist es nötig, einzelne Punkte
zu betonen und einer politischen Analyse zu unterziehen. In dem
diesjährigen Aufruf werden viele Themen kurz angesprochen,
ohne sie jedoch auszubauen, so daß von einer linken/linksradikalen
Kritik kaum etwas zu bemerken ist. Dies ist besonders verwunderlich,
weil gerade zu Büren bereits seit mehren Jahren gearbeitet
wird.
AFBL (Antifaschistischer Frauenblock Leipzig) CEE
IEH #66 Mai 2000
weiter links:
Zum
Frauenabschiebeknast in Neuss (cee ieh Juli/August 1998)
Kampf
dem rassistischen und sexistischen Normalzustand! Widerstand ist
nötig!- Aufruf zur bundesweiten Demonstration gegen den Frauenabschiebeknast
in Neuss (cee ieh#53 1999)
Frauenspezifische
Migrations- und Fluchtursachen (cee ieh #54 April 1999)
Versuch,
Euch zu einer etwas anderen Kaffe-Fahrt nach Neuss zu überreden.
Teil 1. (cee ieh#54 April 1999)
Versuch,
Euch zu einer etwas anderen Kaffee-Fahrt nach Neuss zu überreden.
Teil 2 (cee ieh#55 Mai 1999)
power
durch die mauer! weg mit allen abschiebeknästen! bundesweite
Demonstration, Büren, 21.05.00, 12.00 Uhr (cee ieh #66
Mai 2000)
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