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Vorbemerkung: Der folgende Text gibt nicht die Positionen der Gruppe
f.e.l.s. wieder.
Tendenzen kapitalistischer Entwicklung
In dieser AG soll versucht werden, die Rahmenbedingungen für
ein politisches Projekt Grundsicherung zu diskutieren,
um damit vielleicht ansatzweise eine strategische Diskussion zu
eröffnen.
Die Analyse ist weitgehend auf den engeren Reproduktionszyklus der
kapitalistischen Ökonomie beschränkt. Daraus resultieren
natürlich eine einseitige Betrachtungsweise und die Tatsache,
dass andere entscheidende Aspekte gesellschaftlicher Entwicklung
unter die Tischkante fallen. Aber es erleichtert nun mal das Verständnis,
wenn einzelne Aspekte des gesellschaftlichen Lebens weitgehend isoliert
betrachtet werden. Aus dieser Vorbetrachtung folgt dann einfach,
dass die gezogenen Schlußfolgerungen keine Wahrheiten sind,
sondern Tendenzen in gesellschaftlichen Teilbereichen beschreiben
sollen.
Ich werde erst die Voraussetzungen anführen, die den Ausgangspunkt
der Diskussion bilden, um daran anschließend zu versuchen,
den Status Quo der kapitalistischen Verwertung zu beschreiben. Darauf
aufbauend werden Thesen zur Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft
und des bürgerlichen Individuums aufgestellt, um abschließend
einige denkbare Möglichkeiten politischen Handelns zu skizzieren.
Auch ist der Schwerpunkt auf die europäische Entwicklung gelegt,
aus dem einfachen Grund, weil die EU unser regionaler Handlungsrahmen
sein soll und eine Bewertung nichteuropäischer Gesellschaften
an mangelndem Wissen scheitert.
1. Grundlagen der Diskussion
- Der Kapitalismus ist als weltweit einzig relevantes
gesellschaftliches System durchgesetzt. Es existieren keine Räume
mehr, die von den Verwertungsbedingungen des Weltmarkts ausgenommen
sind.
- Die Produktion ist zu einem großen Teil internationalisiert.
- Der freie Kapitalverkehr ist weltweit weitgehend
gewährleistet.
- Der Verkauf der Arbeitskraft erfolgt zunehmend im
weltweiten Maßstab.
- Es existiert keine relevante antikapitalistische
Opposition.
- Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die für
ihr Funktionieren notwendigen Güter produziert und verteilt,
bestimmt zumindest längerfristig allgemeine Entwicklungtendenzen
des kulturellen und politischen Lebens.
2. Die Ökonomie
A. Überakkumulation
Es existiert im weltweiten Maßstab eine historische Überakkumulationskrise.
Das Phänomen der Überakkumulation äußert sich
in Form einer gleichzeitigen Verwertungs- und Realisierungskrise.
Die Funktion einer Überakkumulationskrise besteht in der Anpassung
der Kapitalbewertung an den Stand der Produktivkraftentwicklung.
Die Verwertungskrise
Bisher nicht gekannte Mengen von Kapital können nicht mehr
auf eine Weise investiert werden, die eine angemessene Verwertung
garantiert. Das Ausmaß der Überakkumulation erzwingt
und ermöglicht die Anlage von Kapital in allen denkbaren gesellschaftlichen
Bereichen. Daraus folgt der Zwang zur Privatisierung
von staatlichen Leistungen, deren Rendite bisher zu gering war,
wie z.B. Bildung oder Gesundheitsfürsorge, oder für deren
Kapitalisierung das Ausmaß der Akkumulation noch zu gering
war, wie z.B. Raumfahrt. Weitere Erscheinungsformen dieser Verwertungsschwierigkeiten
ist die extrem risikoreiche Kapitalanlage in den Aufbau von Industriegebieten
ohne angemessene Absatzmärkte (Asien-, Lateinamerikakrise)
oder die groteske Aufblähung des Immobilienmarktes (der Bereich
von 1 km2 um den Tokioter Kaiserpalast war Mitte der 90er Jahre
so viel wert wie ganz Kalifornien).
Dieser Verwertungskrise könnte entgegengewirkt werden über
eine Erhöhung der Profitrate. Das wäre denkbar über
die Verbilligung des konstanten fixen Kapitals Cf (Maschinen etc.),
des konstanten zirkulierenden Kapitals Cz (Rohstoffe etc.) und des
variablen Kapitals Cv (Lohnkosten). Um eine Erhöhung der Profitrate
zu ermöglichen, wäre eine drastische Reduzierung der Kosten
für eines dieser drei Kapitalteile oder eine vergleichbare
Verbilligung von zwei oder drei dieser Teile nötig.
Die Realisierungskrise
Der in der Produktionssphäre erzeugte Mehrwert läßt
sich immer schwerer realisieren, d.h. die erzeugten Waren können
immer schwerer verkauft werden, weil die KonsumentInnen, relativ
zum gesellschaftlichen Reichtum, immer weniger Geld zur Verfügung
haben (Lohnsenkungen) oder weil die produzierten Waren einfach mengenmäßig
nicht konsumiert werden können (z.B. die Agrarüberschüsse
der EU).
Diese Realisierungsschwierigkeiten haben einmal eine immer stärkere
Konkurrenz um die KonsumentInnen zur Folge. Zum anderen wird ein
immer größerer Anteil der gesellschaftlichen Arbeit für
unproduktive Tätigkeiten in der Zirkulationsspäre verausgabt.
Die Bedeutung unproduktiver Arbeit in den Bereichen Werbung, Marketing,
Einzelhandel etc. hat einen Anteil erreicht, der inzwischen den
Anteil produktiver Arbeit übersteigt.
Der Realisierungskrise könnte über eine Erhöhung
des Konsums entgegengewirkt werden. Die Erhöhung des Konsums
könnte über Lohnerhöhungen oder über Kredit
erfolgen (Neokeynesianismus).
B. Tendenzieller Fall der Profitrate und Extraprofit
Der Anteil der Kapitalausgaben für Maschinen (Cf) und Rohstoffe
(Cz) tendiert dazu, relativ zu den Ausgaben für Löhne
(Cv) einen immer größeren Anteil des eingesetzten Kapitals
darzustellen. Das bedeutet, dass die organische Zusammensetzung
des Kapitals tendenziell zunimmt. Im wirklichen Leben heißt
das, dass die maschinelle Ausstattung eines Arbeitsplatzes in der
Industrie heute ungefähr eine Million Mark kostet, und die
Verwertung des eingesetzten Kapitals allgemein immer schwieriger
wird, weil die lebendige Arbeit im Produktionsprozess relativ zum
Maschinenanteil geringer wird.
Eine Erhöhung der Profitrate ist wie gesagt über die Verbilligung
von Cf, Cz und Cv zu erreichen.
- Eine Verbilligung von Cz (Rohstoffen) ist schwer vorstellbar,
weil die Grundstoff- und Energieindustrien weitgehend ohne menschliche
Arbeitskraft arbeiten und ein genereller Produktivitätsschub
und damit eine Preisreduzierung in diesem Bereich nicht absehbar
ist. Auch eine Reduzierung der Lagerhaltung ist kaum möglich,
wenn die Lagerreserven in den großen Industrien bereits nur
noch für einige Tage Produktion ausreichen.
- Eine Verbilligung von Cf (Maschinen) findet permanent statt, aber
die Produktivitätsgewinne werden fast ohne Verzögerung
weltweit umgesetzt, da infolge der Überakkumulation und des
freien Kapitalverkehrs, jedem Unternehmen auf der Welt jederzeit
genug Kapital zur Verfügung gestellt werden kann, um modernste
Maschinen im benötigten Umfang anzuschaffen.
- Eine Erhöhung der Profitmasse über eine Beschleunigung
der Umschlagzeiten des Kapitals, verspricht ebenfalls nur einen
extrem kurzfristigen Extraprofit, da auch die Erhöhung der
Umschlagzeiten weltweit wirksam ist.
Daraus folgt, dass über eine Reduzierung der Kosten für
Cf und Cz keine stabilen Extraprofite mehr möglich
sind.
Die einzige effektive Maßnahme gegen den tendenziellen Fall
der Profitrate und für einen Extraprofit ist dann die Steigerung
der Profitrate über die Senkung des Preises der Arbeitskraft.
Diese Lohnsenkung kann über eine Reduzierung der Reallöhne
oder auch über eine Erhöhung der Arbeitsintensität
erfolgen.
Das ist auch die Erklärung dafür, warum transnationale
Konzerne mit modernster Maschinenausstattung und hoher Profitrate
versuchen, die Löhne der Beschäftigten immer weiter zu
drücken.
C. Historischer Bruch in der Produktivkraftentwicklung
Die Produktivkraftentwicklung der kapitalistischen Gesellschaft
scheint Ende der 80er Jahre in eine historisch neue Phase getreten
zu sein. Die Ausweitung der Produktion scheint bei absolut abnehmender
Zahl der ProduzentInnen möglich geworden zu sein.
Durch diese Entwicklung werden immer größere Teile der
Bevölkerung schlichtweg überflüssig. Gleichzeitig
ermöglicht diese tendenziell immer größer werdende
industrielle Reservearmee dem Kapital eine in bürgerlich-demokratisch
verfassten Gesellschaften bisher nicht für möglich gehaltene
Senkung der Löhne der ProduzentInnen. In Teilbereichen der
gesellschaftlichen Produktion hatte diese extreme Verbilligung der
Ware Arbeitskraft bereits zur Folge, dass Maschineneinsatz wieder
durch Handarbeit ersetzt wurde. Dieses Regressionsstadium des Kapitalismus
ist z.B. auf Berliner Bahnhöfen zu beobachten, zu deren Säuberung
keine Putzmaschinen mehr eingesetzt werden, sondern, wie vor hundert
Jahren, Menschen mit Eimer und Wischlappen.
D. Die Melange aus A, B und C
Die Verwertungskrise ließe sich über eine generelle
Erhöhung der Profitrate lösen. Wie oben dargelegt, ist
eine generelle Steigerung der Profitrate beim Stand der Produktivkraftentwicklung
und der weltweiten Vergesellschaftung der Produktion nur über
die Senkung von Cv, den Löhnen, möglich. Diese Senkung
der Löhne hat aber zwangsläufig eine Verringerung des
Konsums und damit eine Verschärfung der Realisierungskrise
zur Folge.
Die Realisierungskrise könnte kurzfristig über eine kreditfinanzierte
Erhöhung des Konsums entschärft werden. Ein solcher Großversuch
läuft gerade in Japan, wo der Staat versucht, mit 330 Milliarden
Mark die Konjunktur in Schwung zu bringen. In Japan wird auch ein
bisher beispielloses kommunistisches Experiment durchgeführt:
Teile der Bevölkerung erhalten Gutscheine geschenkt, mit denen
sie sich einfach nur etwas kaufen sollen. Das keynesianische Modell
des deficit-spendig hat jedoch bereits seine historische Unbrauchbarkeit
zur mittelfristigen Entschärfung von Überakkumulationskrisen
bewiesen.
Für diese Kombination aus historischer Überakkumulationskrise
und tendenziellem Fall der Profitrate ist erstmal keine Lösung
absehbar. Die Entwicklung der Produktivkräfte scheint ziemlich
manifest an die Grenzen der Produktionsverhältnisse gestossen
zu sein; die bestehende Gesellschaftsordnung ist anscheinend nicht
mehr in der Lage, den produzierten gesellschaftlichen Reichtum funktional
sinnvoll zu verteilen.
Weil die organische Intelligenz des Kapitals das auch verstanden
hat, ist jeder große Kapitalverband nur noch an der Rettung
der eigenen Haut und damit an einer Flucht in den Extraprofit um
jeden Preis interessiert.
Diese Fluchtbewegung resultiert in:
- dem Zwang zur Produktivitätssteigerung um jeden Preis;
- dem Versuch, die Umschlagszeiten des Kapitals noch weiter zu
steigern;
- einem rücksichtslosen Angriff auf die Löhne der ProduzentInnen;
- einem bisher nicht gekannten Ausmaß an Konkurrenz, das
alle Bereiche der Gesellschaft erfaßt.
Die Auswirkungen der ökonomischen Veränderungen auf die
gesamte Gesellschaft sind grundlegend und umfassend. In den folgenden
zwei Abschnitten sollen nur einige mögliche Auswirkungen angesprochen
und thesenartig charakterisiert werden.
3. Auswirkungen auf die Verfasstheit des bürgerlichen Individuums
Der weiter zunehmende Druck, die Arbeitsintensität zu erhöhen
und das Anwachsen der industriellen Reservearmee erfordern von den
Menschen, die in den Prozeß kapitalistischer Reproduktion
eingebunden bleiben möchten oder auch nur hineingelangen wollen
eine immer weitergehende Identifikation mit der zu tätigenden
Arbeit. Ein immer größerer Teil der Arbeit erfordert
immer mehr das Einbringen von technischen, künstlerischen und
sozialen Fähigkeiten - eben des ganzen Menschen - zum Verkauf
der Arbeitskraft. Diese Intensivierung der Arbeit, zusammen mit
der alle Bereiche des Lebens durchdringenden Warenförmigkeit
menschlicher Beziehungen, wird der Verdinglichung der Bewußtseinsformen
weiteren Vortrieb leisten.
Diejenigen Menschen, die versuchen müssen, ihren Anteil am
gesellschaftlichen Reichtum im Reproduktionssektor in Form von Selbstausbeutung
sicherzustellen, müssen besondere Leistungen in der Konkurrenz
aller gegen alle und in der Identifizierung mit ihrer Tätigkeit
erbringen. Diese Entwicklung bewirkt, dass diejenigen, die vom Fortbestand
der kapitalistischen Ordnung am wenigsten profitieren, um den Preis
ihrer materiellen Existenz gezwungen sind, bürgerliches Bewußtsein
(Konkurrenzdenken, Arbeitsethos) in reinster Form auszubilden. Obwohl
ich zugegebenermaßen von Lateinamerika nicht viel Ahnung habe,
würde ich diese Entwicklung als Erklärungsansatz dafür
verstehen, daß in den sogenannten StraßenhändlerInnenökonomien,
bei Wahlen Parteien, die neoliberale Politikkonzepte
propagieren, gewinnen, obwohl diejenigen, die diese Parteien wählen,
zum größten Teil nichts Positives von diesen Parteien
zu erwarten haben.
Der positive Aspekt, der aus der zunehmenden Warenförmigkeit
der Beziehungen und des Bewußtseins resultiert, ist eine Stärkung
des kritischen und wählerischen KonsumentInnenbewußtseins
und damit eine Stärkung der materiellen Grundlagen der bürgerlichen
Demokratie. Das erscheint mir als ein Grund dafür, warum trotz
immer totalitärerer Produktionsmethoden, die bürgerliche
Demokratie weiterhin im Ausbreiten begriffen ist und viele Länder
Lateinamerikas, Afrikas und Asiens heute als politisches Herrschaftsmodell
eine parlamentarische Demokrarie praktizieren, während Anfang
der 80er Jahre in diesen Ländern autoritäre Staatsformen
in Gebrauch waren. Bezeichnend ist hier auch, dass im vermeintlich
reaktionärsten Bundesland der BRD, in Bayern, die demokratischen
Mitbestimmungsmöglichkeiten mit Volksbegehren auf Landes- und
Kommunalebene am weitesten fortgeschritten sind.
Ein weiterer Punkt ist die Frage nach der individuellen Teilhabe
am gesellschaftlichen Reichtum. Während in den letzten hundert
Jahren für den größten Teil der Bevölkerungen
in den industrialisierten Ländern der absolute Reichtum an
Gebrauchswerten in der individuellen Lebenszeit zunahm, scheint
sich jetzt eine Entwicklung anzubahnen, die dazu führt, dass
der Wohlstand größerer Teile der Bevölkerung
längerfristig im Abnehmen begriffen sein wird und dadurch die
soziale Frage wieder zentrale Bedeutung erlangen könnte.
4. Die postfordistische und neoliberale
Gesellschaft
Supranationale Regulation
Die Konkurrenz supranationalen Kapitals erfordert supranationale
Regulation der Rahmenbedingungen, unter denen die Konkurrenz stattfinden
soll, d.h. die politische Konstituierung des Marktes. Die neuen
Formen supranationaler Regulation haben die Funktion, das transnationale
Kapital von den Beschränktheiten nationalstaatlicher Regulation
zu befreien, und ein Klima der Investitionssicherheit (z.B. das
inzwischen gescheiterte MAI-Abkommen) zu schaffen. Die supranationale
Regulation läuft im Moment darauf hinaus, dass der freie Kapitalverkehr
und der zunehmend freie Verkehr der Arbeitskraft gewährleistet
wird. Die ganze Regulation bewirkt also, dass nicht die Gesellschaft
die Kapitalverwertung reguliert, sondern der Prozeß der Kapitalverwertung
die Gesellschaft. Die Begrenzung der Kapitalverwertung durch die
Produktionsverhältnisse (das Privateigentum) wird innerhalb
des Kapitalismus ein weiteres Mal aufgehoben, indem die Formen der
Vergesellschaftung der Produktion auf eine neue Stufe, die der Weltvergesellschaftung,
gehoben werden.
Ein Beispiel für die aktuellen Formen supranationaler Regulation
ist die permanente Erweiterung der EU. Da die Erweiterung der Währungsunion
schneller vonstatten geht als eine eh nur noch theoretisch denkbare
Organisation der Lohnabhängigen, wird über eine Vergrößerung
der industriellen Reservearmee eine immer weitergehende Senkung
der Löhne ermöglicht.
Die Tatsache, dass IWF und Weltbank anscheinend so etwas wie supranationale
Regulationsinstanzen darstellen, die das Kapital regulieren, ist
dem Umstand geschuldet, dass diese Institutionen einfach Relikte
einer vergangenen Epoche darstellen, die der Tradition halber noch
in Betrieb gehalten werden. Ihre völlige Wirkungslosigkeit
und Überflüssigkeit haben IWF und Weltbank im laufenden
Jahr unter Beweis gestellt. Weder in der Asienkrise noch in der
Rußlandkrise waren diese beiden Institutionen in der Lage,
den Ablauf der Ereignisse entscheidend zu beeinflussen. Auch in
der anstehenden Brasilienkrise, die darin bestehen wird, dass Brasilien
zwischen November `98 und März `99 250 Milliarden Dollar Auslandsschulden
begleichen muß, sind die diesen Institutionen zur Verfügung
stehenden Mittel lediglich ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Nationalstaatliche Regulation
Das erreichte Maß an Konkurrenz zur Erlangung eines Extraprofits
macht es für die einzelnen Kapitalverbände existentiell
notwendig, von unvorhergesehenen Verzögerungen in der Produktions-
und Zirkulationssphäre verschont zu bleiben. Durch ihre schiere
Größe sind einzelne Kapitalverbände dann auch in
der Lage, ehemals nationalstaatliche Regulationsinstanzen zu instrumentalisieren,
zu neutralisieren oder auch einfach zu ignorieren. Der auffälligste
Beleg für diese Tendenz, nationalstaatliche Regulationsinstanzen
zu ignorieren, sind die fast im Wochenrythmus stattfindenden Fusionen
transnationaler Konzerne, die unter völliger Nichtbeachtung
nationalstaatlicher Kartellrechtsbestimmungen ablaufen. Dass diese
Entwicklung auch im mächtigsten Nationalstaat abläuft,
ist ein eindrucksvoller Beleg für die dynamischen Entwicklungskapazitäten
des Kapitalismus. In den USA z.B. kündigen die Ölkonzerne
Exxon und MobilOil ihre Verschmelzung zum größten Konzern
der Welt an, obwohl ein gültiger Urteilsspruch des höchsten
Gerichts der USA existiert, der Anfang des Jahrhunderts eine Aufspaltung
der Standard Oil Company in diese zwei genannten Konzerne verfügte,
um die marktbeherrschende Position dieses Trusts zu beenden.
Beispiele für die Instrumentalisierung nationalstaatlicher
Regulation dürften die Einschränkung des Streikrechts
und der Abbau demokratischer Mitbestimungsrechte sein.
Während die Forderung von Gesamtmetall-Chef Werner Stumpfe,
das Streikrecht einzuschränken, im Dezember 96 noch entschlossenen
Widerspruch durch die Regierung Kohl zur Folge hatte, hat der Europäische
Gerichtshof inzwischen Fakten geschaffen: die nationalen Regierungen
sind z.B. dazu verpflichtet den freien Warenverkehr in der EU durchzusetzen
und gegen Streiks im Transportgewerbe die nötigen Maßnahmen
zu ergreifen. Allerdings wäre eine staatliche Abschaffung des
Streikrechts in Deutschland z.B. gar nicht nötig, da die Lohnabhängigen
den Zwang zum Streikverzicht offensichtlich weitgehend verinnerlicht
haben und eine autoritärere Gesellschaftsform ohne staatliche
Repression verwirklichbar scheint. Die faktische Abschaffung des
Streikrechts bedeutet in der Folge die endgültige Abwicklung
der traditionellen ArbeiterInnenbewegung, da der Streik das einzige
Kampfmittel der Lohnabhängigen ist.
In der EU ist der Abbau demokratischer Entscheidungsstrukturen in
einem Ausmaß verwirklicht, das die Forderung von BDI-Chef
Henkel nach einem politischen System, das die Wettbewerbsfähgkeit
Deutschlands erhöhen soll (Juli 97), als Makulatur erscheinen
läßt.
Von demokratischer Mitbestimmung befreit worden sind so die Zulassung
neuer Produkte innerhalb der EU (z.B. gentechnisch veränderte
Nahrungsmittel) und die Genehmigung neuartiger Produktionsprozesse
(z.B. standortunabhängige Genehmigungsverfahren für AKWs).
Ausbau struktureller Gewaltverhältnisse
Für die kapitalistische Gesellschaft ist das Problem, wie
der gesellschaftliche Reichtum verteilt werden soll, d.h. wie die
ProduzentInnen vom Produkt ihrer Arbeit getrennt werden können,
in den letzten hundert Jahren in den fortschrittlichsten kapitalistischen
Ländern zum größten Teil über die verinnerlichte
Anerkennung von strukturellen Gewaltverhältnissen erreicht
worden. Dieses bürgerliche Modell vermittelter Herrschaft scheint
immer mehr der Ergänzung durch erweiterte Formen struktureller
Gewalt und der Ausweitung von Formen unvermittelter Herrschaft über
Teilbereiche der Gesellschaft zu bedürfen, um weiterhin die
Verwertung garantieren zu können.
Die strukturelle Gewalt erfährt eine Verstärkung z.B.
in einer zunehmenden Privatisierung des öffentlichen Raumes.
Ob es nun shopping-malls sind oder Wohngebiete und Bürostandorte,
die von paramilitärischem Wachschutz kontrolliert werden, der
freie Zugang zu gesellschaftlichen Räumen wird für immer
größere Teile der Bevölkerung immer weiter eingeschränkt,
als es ohnehin der Fall war.
Für immer mehr Mitglieder der Gesellschaft werden fundamentale
Rechte des bürgerlichen Individuums, wie Unverletzlichkeit
der Privatsphäre und freier Verkauf der Arbeitskraft bei formalem
Fortbestand der bürgerlichen Demokratie ausgesetzt. Immer mehr
Mitglieder der Gesellschaft müssen ihre Wohnungen für
Mitarbeiter von staatlichen Versorgungsstellen öffnen, bevor
sie überhaupt die Möglichkeit von gesellschaftlichen Versorgungsleistungen
in Anspruch nehmen können. Immer mehr Menschen werden von staatlicher
Seite gezwungen, ihre Arbeitskraft zu einem Preis zu verkaufen,
der deutlich unter dem in Westeuropa üblichen kulturellen Reproduktionsniveau
liegt.
Kapitalismus und demokratische Entwicklung
Beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der bürgerlichen
Gesellschaft ist der Großteil der Bevölkerung nicht mehr
in der eigentlichen Produktionssphäre tätig. Der Großteil
der Bevölkerung lohnarbeitet in der Zirkulationssphäre
und in der Reproduktionssphäre. Damit ist für den überwiegenden
Teil der Bevölkerung die vollkommene Zweckrationalität
und Autorität der Produktionssphäre nicht mehr bestimmendes
Moment.
Vielmehr erlangt der Formwechsel des Tauschwerts, W - G, aufgrund
der Realisierungsschwierigkeit des Mehrwerts für das Kapital
eine immer zentralere Bedeutung für die Konstitution der Gesellschaft.
Das irrationale Moment des Formwechsels des Tauschwerts wird bestimmendes
Moment des gesellschaftlichen Lebens.
Da ja der Äquivalententausch zwischen freien und gleichen Rechtssubjekten
die materielle Grundlage der bürgerlichen Demokratie ist, könnte
mit dieser gesellschaftlichen Schwerpunktverlagerung auf die Mehrwertrealisierung
ein Erklärungsmodell für die immer noch zunehmende Ausbreitung
der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie in der ganzen Welt
entworfen werden. (Da ich das auch schon beim bürgerlichen
Bewußtsein behauptet habe, möchte ich als Entschuldigung
anführen, dass diese Trennung von individuellem Bewußtsein
und gesellschaftlicher Entwicklung, wie sie hier praktiziert wird,
ein schändliches Konstrukt ist, das darauf beruht, dass der
Versuch einer gedanklichen Rekonstruktion der Wirklichkeit das Wesen
und die Erscheinungsformen von Wirklichkeit nur annäherungsweise
beschreiben kann).
Wenn das Modell der Zivilgesellschaft vor allem auf
diesem Moment der Irrationalität beruht, scheint aber jede
übertriebene Zuversicht hinsichtlich demokratischer Gesellschaftsentwicklung
mehr als fraglich. Eher wird die immer mehr zunehmende Irrationalität
des Gesamtprozesses kapitalistischer Reproduktion die Attraktivität
berechenbarer, autoritärer Gesellschaftsmodelle erhöhen.
Ob nun die für die Produktion des Mehrwerts benötigte
absolute UntertanIn oder die für die Realisierung des produzierten
Mehrwerts erforderliche wählerische, kritische KonsumentIn
für die weitere gesellschaftliche Entwicklung bestimmend sein
werden, bleibt abzuwarten.
Die zunehmenden Verwertungsschwierigkeiten für das Kapital
aufgrund immer kleinerer Profitraten macht auch den Übergang
zu tendenziell statischen Gesellschaftsmodellen wahrscheinlicher.
Damit sollen jetzt keine spektakulären Zusammenbruchszenarios
entworfen werden, aber wenn die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse
sich nicht verändern, nicht ein großer Krieg ausbricht
oder eine neuerliche, vollständige Umwälzung der Produktionstechnik
stattfindet, steht mittelfristig wohl ein Modell einfacher Reproduktion
ins Haus. Und eine einfache Reproduktion des gesellschaftlichen
Reichtums ist nun mal kein Kapitalismus mehr.
Es erscheint mir dann unwahrscheinlich, dass die ungleiche Verteilung
des gesellschaftlichen Reichtums in einer statischen Gesellschaft
überwiegend durch verinnerlichte Zwänge aufrechterhalten
werden kann. Von den zwei Momenten von Gesellschaft, Herrschaft
und Ökonomie, könnte dann das Moment der Herrschaft wieder
eine größere Bedeutung gegenüber dem Moment der
Ökonomie erlangen und die bürgerlichen Formen vermittelter
Herrschaftsstrukturen durch Gesellschaftsformen abgelöst werden,
die durch zunehmend unvermittelte Gewaltverhältnisse strukturiert
werden. Mit dieser Entwicklung würde ich auch versuchen, die
wieder zunehmende Bedeutung patriarchaler und rassistischer Formierung
gesellschaftlicher Verwertung zu erklären.
5. Möglichkeiten politischen Handelns
Als Zielvorgaben linker Politik würde ich zwei Punkte herausheben:
Eine gleichmäßigere Verteilung des gesellschaftlichen
Reichtums und die Verringerung des Ausmaßes von Herrschaft,
dem jedes Mitglied der Gesellschaft unterworfen ist.
Eingriffsmöglichkeiten auf ökonomischem Gebiet bieten
die Standorte der Warenproduktion und die Warenverteilung, sowie
der kulturelle Angriff auf bürgerliche Bewußtseinsformen.
Das Kommando über die Arbeit könnte über einen Ausbau
von Strukturen, die den Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft generell
verringern, in Frage gestellt werden. Die unten aufgeführten
Punkte sind selbstverständlich nicht als alleinseligmachend
gedacht, wie ja der Entwurf eines politischen Projektes überhaupt
erst einmal andiskutiert werden soll.
Streiks wären bei dem augenblicklichen Stand der Spezialisierung
und Vernetzung der Produktionssphäre von unvergleichlicher
Wirkung. Dummerweise besteht eine Tendenz, dass der Streik als Mittel
der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums wegen der oben angeführten
Gründe nicht mehr die Bedeutung hat, die er haben könnte,
wenn es anders wäre, als es ist.
Es bestände natürlich die Möglichkeit, entschlossene
Kader in die Schlüsselbetriebe der großen Industrien
zu schicken und zu versuchen, z.B. die Zulieferung von Zündanlagen
für die Autoindustrie zu blockieren. Zum Glück wurde aber
in den 70er Jahren schon der Beweis angetreten, dass dieser bittere
Weg der proletarisierten Revolutionskader nicht von Erfolg gekrönt
sein kann, und wir uns deshalb bis auf weiteres darauf beschränken
können, kritische Texte zu verfassen, anstatt anstrengende
Arbeiten in unfreundlichen Produktionshallen zu verrichten.
Eine erfolgversprechendere Möglichkeit, die Verteilung des
gesellschaftlichen Reichtums zu beeinflussen, könnte die immer
weitere Ausdehnung der Warentransportwege bieten. Diese Ausdehnung
der Transportwege hat eine immer größere, potentielle
Störanfälligkeit der Warenzirkulation zur Folge. Die Streikenden
in Frankreich haben vor einem Jahr mit der Blockade von ein paar
Grenzübergängen die Funktionsfähigkeit des europäischen
Wirtschaftsraumes in Frage stellen können. Die Vorteile, die
ein Eingreifen in der Phase der Warenzirkulation bietet, wären:
- die Transportwege lassen sich nicht, wie abgeschlossene
Produktionsstandorte, vollständig militärisch abschirmen.
- ein Eingreifen in den Warentransport würde
auch den Menschen, die bereits aus dem Zyklus kapitalistischer
Reproduktion herausgedrängt wurden, Handlungsmacht auf ökonomischem
Gebiet zurückgeben.
- es ist keine große zentralisierte Organisation
notwendig, um Störungen im Straßen- und Bahnverkehr
zu organisieren. Vielmehr bestände die Möglichkeit,
mit kleineren Gruppen entschlossen chaostheoretisch vorzugehen.
Jenseits dieser Räuber- und Gendarm-Phantasien besteht für
Diskursmemmen die Möglichkeit, zu versuchen, über eine
Beeinflussung der gesellschaftlichen Diskussion das garantierte
gesellschaftliche Reproduktionsniveau über den gültigen
Sozialhilfesatz als kulturellem Mindeststandard zu heben. Diese
Strategie verfolgen wir augenblicklich mit der Grundsicherungskonferenz
und der Teilnahme an der Diskussion über ein garantiertes Mindesteinkommen.
Der Angriff auf das Herrschaftsmoment der politischen Ökonomie
- des kapitalistischen Kommandos über die Arbeit - könnte,
unter teilweiser Beibehaltung linksradikaler Phraseologie, ebenfalls
auf kulturellem Gebiet in einer Kampagne gegen die immer mehr zunehmende
Zwangsarbeit stattfinden. Diese Möglichkeit haben wir in unserem
ursprünglichen Einladungspapier zu einem Kongress usw.
ja bereits angedeutet.
G., fels
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