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Vorsicht Ambivalenz

Politische Gebrauchsanweisung zur Existenzgeldforderung

Es gibt genug Zustandsbeschreibungen. Um weitere Wiederholungen zu überspringen, hier nur eine stenographische Kurzversion: im Zuge neuer Verwertungsbedingungen und -anforderungen verändert sich der kapitalistische Weltmarkt. Neue Formen internationaler Ausbeutung und Konkurrenz, nationaler und internationaler Regulierung entstehen. Gleichzeitig haben sich mit den Auseinandersetzungen, Kämpfen und Reformversuchen rund um das fordistisch regulierte Zuhause, mit dem Mai ’68, den neuen sozialen Bewegungen die Lebensweisen und -vorstellungen verändert. Mit »Globalisierung« oder »Postfordismus« wird versucht, einen Begriff für diese Veränderungen zu finden. Ein praktischer Zweck dieser Benennungen kann darin bestehen, die Transformationen des Kapitalismus nicht nur zu beschreiben, sondern auf der Höhe der Zeit zu kritisieren – darauf spekulierend, daß theoretische Kritik produktiver Teil einer antikapitalistischen Politik ist.

»Existenzgeld für alle!« kann dabei eine antikapitalistische Forderung sein, die auf den Abbau des sogenannten Sozialstaats reagiert, muß es aber nicht. Sie ist eine ambivalente Forderung in einer widersprüchlichen Gesellschaft. Ein antikapitalistischer Politik-Automatismus ist nicht vorhanden. Wie die Begriffe Postfordismus oder Globalisierung kann auch die Existenzgeldforderung zum Vokabular eines kapitalistischen Modernisierungsprogramms zählen. Sie liegt mitten im umkämpften Terrain.

Die verschiedenen Diskurse zum Existenzgeld, zur sozialen Grundsicherung, zum Bürgergeld oder wie die verschiedenen Modelle sonst noch so heißen, gehen fast alle von ähnlichen Beobachtungen aus: hohe Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzungen, Krise der sozialen Sicherungssysteme. Doch während z.B. die wirtschaftsliberale Seite eine neue, flexibilisierte Billigarbeitskraft schaffen will, die der Staat mit 400, 500 Mark Zuzahlung im Monat vor absoluter Verarmung schützen soll, geht es beim Existenzgeld-Arbeitstreffen im Frühjahr darum, die Forderung nach Existenzgeld in den Kontext linker Debatten zu stellen. Die politische Frage beginnt also beim Abstand zwischen Neoliberalismus bzw. sozialdemokratischer Sozialtechnologie und antikapitalistischen Praktiken.

Die bürgerlichen Grundsicherungsmodelle beziehen sich alle auf die Erosion eines bestimmten historischen Verhältnisses von Lohnarbeit und Existenzsicherung. Sie suchen nach einer neuen Figur für das Verhältnis von Kapital-Lohnarbeit / soziale Existenz. Die Debatte dreht sich dabei um das sogenannte Normalarbeitsverhältnis, das prekären Beschäftigungen weicht; um die Wirtschaftseinheit Kleinfamilie, die allmählich von unterschiedlichen Individualisierungen oder Zusammenschlüssen ersetzt wird; um Frauen, die nicht mehr Teil einer »Ernährerehe« sind, sondern sich auf dem Arbeitsmarkt befinden; um zu starre Arbeitsschutzregelungen, die flexibilisiert werden müssen usw. Dieser bunte Argumente-Reigen, der oft unter dem soziologischen Slogan vom »Ende der Arbeitsgesellschaft« gefaßt wird, gehört zur Verabschiedung des sogenannten keynesianischen Wohlfahrtsstaats. Bei erhöhter internationaler Konkurrenz-und Verwertungsvielfalt begrenzt er zu sehr die Akkumulationsmöglichkeiten des Kapitals. Die bürgerlichen Sozialstaatsvisionen doktorn an den oben genannten Phänomenen herum und wollen dabei alle irgendwie die kapitalistische Regulierung reformieren. Ziellinie: weniger Bürokratie, Verbilligung und Flexibilisierung der Lohnarbeit, Modernisierung der Sozialversicherungen und Abwendung einer potentiell nicht sozialverträglichen Verarmung. Soziale Grundsicherung und Bürgergeld werden dabei als Lösungen verhandelt.

Grundsätzlich bleiben Arbeitszwang, patriarchale Codierung von Produktions- und Reproduktionsarbeiten, von Gegenstands- und Gefühlsarbeiten, bleiben rassistische Ausschlüsse von Flüchtlingen und die Selbstverständlichkeit arbeitsintensiver Billigarbeit, die vielfach MigrantInnen vorbehalten ist, bestehen.

Die Existenzgeldforderung wird von Arbeitslosen-, JobberInnen-Inis und linken Gruppen meist mit »1 500 Mark für alle plus Miete!« veranschlagt (ist das zu wenig?). Mit ihr wird versucht, kapitalistische Modernisierung von innen anzugreifen, indem sie mit verschiedenen existierenden politischen Praktiken verbunden wird – die Tatsache voraussetzend, daß es kein Außen gibt, kein Außerhalb-Sein von kapitalistischen Suchbewegungen nach neuen Regulationsformen. Es geht also darum, politische Verbindungen zu konstruieren und sich wechselseitig überformende Herrschaftsverhältnisse sichtbar zu machen und zu verändern. Dabei können – wenn alles gut läuft – verschiedene Praktiken wie feministische Politik, JobberInnen-Inis, Antirassismus-Arbeit usw. aneinander anknüpfen und sich gegenseitig verstärken.

Die Existenzgeldforderung hat einen gewundenen Frontverlauf, an den politische Forderungen anschließen können. Durchs Fernglas betrachtet, wird ungefähr folgendes sichtbar: keine Billigarbeit (wer 1 500 plus Miete bekommt, geht nicht putzen); kein Lohnarbeitszwang, dafür Lohnarbeitszeitverkürzung; kein Sinnterrorismus des Berufs; kein Leistungsfetischismus; keine Arbeitsteilung entlang von Fabrik / Firma / Freelancing auf der einen und Zuhause / Soziales auf der anderen Seite; kein Ausschluß bzw. keine Deklassierung von ImmigrantInnen und Flüchtlingen oder – wenn auch anders gelagert und tradiert – von (Haus)Frauen oder Frauen mit sog. Nebenjobs beim Bezug von Sozialleistungen; Ende einer langen Tradition kapitalistischer Armenfürsorge, deren moderne Gestalt die heutige Sozialhilfe mit all ihren individualisierenden Disziplinierungen und Kontrollen darstellt. Diese Anschlüsse sind weder automatisch noch utopisch, sondern Linien einer politischen Auseinandersetzung, die darauf setzen will, daß es keine Revolution gibt, sondern nur ein Revolutionär-Werden, also die Ausweitung und Intensivierung des Politischen an vielen Orten gleichzeitig. Deshalb ist der Sonntag, zweiter Tag des März-Treffens, für eine Debatte reserviert, ob und, wenn ja, wie Leute die Existenzgeldforderung politisch-praktisch stellen wollen.

In diesem Sinne zielt sie nicht auf einen Gesetzesantrag, der in der laufenden oder übernächsten Legislaturperiode realisiert werden soll, sondern auf die Einlösung des Versprechens nach einem »guten Leben für alle« (aber was ist ein gutes, ein glückliches Leben?). Die Existenzgeldforderung tritt in der Gestalt einer Geldforderung auf und von da aus stellt sich die politische Frage, mit welchen Politiken die genannte vierstellige Summe aufgeladen werden soll, wie diese Transformation von Geld in Leben gelingen, wie das Integrations-, Selektions- und Verwertungsmonster Kapitalismus angegriffen werden soll.

Deshalb gibt es die Kritik, daß bei der Abgrenzung von den bürgerlichen Grundsicherungs- bzw. Bürgergeldmodellen der Bezug auf die Geschichte der Existenzgeldforderung nicht ausreiche. Als Anfang der 80er Jahre die Arbeitsloseninitiativen ein Existenzgeld für alle forderten, standen zwar die ausbeuterischen Lohnarbeitsverhältnisse im Mittelpunkt der Kritik, aber auch damals gab es einen blinden Fleck rund um die Funktion eines umverteilenden Staat. Das, was Sozialstaat ist, und wie mit seinen Zuwendungen und Restriktionen umzugehen sei, blieb unklar. Damals wurde die politische Perspektive von Staatskritik auf Aneignungspolitiken umgestellt. Damit wurden nicht mehr die staatlichen Institutionen, sondern die Aneignungssubjekte angerufen, die in den 70er Jahren vor allem in Italien und Frankreich gezeigt hatten, wie sich auch mit Strom-, Telefon- und Mietforderung umgehen läßt – »autoriduzione«, selbständig reduzieren. Marxistische Kritiken weisen meist auf die Lücke zwischen dem hin, was angeeignet werden soll, nämlich gesellschaftlichem Reichtum, und der Art und Weise, wie dieser Reichtum dar- und hergestellt wird, nämlich als Geld und durch eine bestimmte Anordnung von Kapital-Lohnarbeit-privatsozialer Existenz, die ja eigentlich verändert werden soll. Im Kontext der momentan abflauenden sozialen Bewegungen und politischen Praktiken stellt sich die Frage nach dieser Lücke in aller Deutlichkeit. Wobei die Lücke niemals im Singular auftaucht. Es handelt sich um Lücken, die – was die marxistische Kritik schon mal übersieht – nicht allein von werttheoretischer oder ökonomischer Art sind. Kein patriarchales Machtverhältnis, keine einzige rassistische Struktur, kein Wunsch nach Unterdrückung oder Haß auf Anderes wird durch die staatliche Zahlung von 1 500 Mark angerührt. Es wird auf die politischen Anschlüsse und Verbindungen ankommen, die Begegnungen von verschiedenen Praktiken und ihre Ausweitung, in denen – nur zum Beispiel – linksradikale TheoretikerInnen und aneignungsbewegte EinklauerInnen ihre jeweilige relatie Isolation verlassen würden.

Anknüpfungspunkte lassen sich jeder linken Zeitung entnehmen. Das Verhältnis von Lohnarbeit und Existenzsicherung taucht in vielen Facetten auf, ob es nun die Pflicht- und Zwangsarbeitsdiskussion der Erwerbslosen- und Sozialhilfe-Initiativen ist, der Kampf gegen rassistische Migrations- und Arbeitspolitik, die feministische Kritik an immer neuen Trennungen zwischen Produktions- und Reproduktionsarbeit, zwischen staatlicher Arbeits- und Armenpolitik, die Kritik an der geschlechtlichen Codierung von personennahen und Low-Budget-Services oder die Diskussion um die allmähliche Annäherung von Lohnarbeit und Freizeit zwischen Verwertungsterror und kapitalismusimmanentem Mini-Glück (nicht Aufstehen, kein Streß, Projekte machen).

Im Rahmen der Arbeitskonferenz tauchen diese Fragen in unterschiedlichen AGs auf. Wie sie diskutiert und beantwortet werden, liegt an den TeilnehmerInnen.

 
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