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Positionspapier zur
Sozialen Grundsicherung
erstellt vom AK f.e.l.S.-Konferenz des Bündnis linker und radikaldemokratischer
Hochschulgruppen LiRa
Vorabbemerkung: Wir begrüßen die Absicht der Gruppe
f.e.l.S. (für eine linke Strömung), mit einer Konferenz zu Existenzgeld
und Sozialer Grundsicherung vom 18.-21.03.1999 ver-stärkt die sozialen
Frage von einer linken, antikapitalistischen Perspektive aus zu
stellen. Mit diesem Positionspapier wollen wir in diese Debatte
eingreifen. Wir wollen dabei die Risiken, aber gerade auch die Chancen
der emanzipatorischen Forderung nach einer Sozialen Grundsicherung
versuchen aufzuzeigen.
A. Grundsicherung im Spannungsfeld von Emanzipation und Fallstricken
I. Grundsicherung als bürgerliches Sozialverwaltungsmodell Der
Diskurs um eine allgemeine soziale Grundsicherung ist mittlerweile
nicht mehr nur ein linkes Monopol. Auch jenseits der radikalen Linken
wird eine Grundsicherung als neues realpolitisches Sozialverwaltungsmodell
entworfen.
a. So findet sich ein grüne Grundsicherung genanntes
Modell im Programm von Bündnis 90/Die Grünen, mit der der soziokulturelle
Mindestbedarf sichergestellt werden soll. Diese Grundsicherung
soll aus 800,-DM Pauschale bestehen, zu der noch die Höhe der Vorjahresmiete
hinzukommt. Die PDS schlägt mit 1.425,-DM als Pauschale sogar noch
ein paar D-Märkers drauf. Und selbst die ausge-wiesenen Neoliberalen
der FDP fordern ein steuerfinanziertes Bürgergeld.
b. Die Motivationslage für eine solche Forderung
benennt sowohl die FDP von morgen als auch die heutige FDP: Durch
die Einbeziehung von Grundsicherungs-empfängerInnen in Arbeitsförderungsmaßnahmen
sowie durch die Veränderung der Zuverdienstmöglichkeiten werden
die LeistungsempfängerInnen unterstützt, wieder auf eigenen Beinen
zu stehen , wird als grünes Ziel einer Grundsicherung formuliert.
Deshalb müssen künftig für alle sozialen Leistungsarten das Prinzip
´Hilfe zur Selbsthilfe´ und der Grundsatz ´Keine Leistung ohne Gegenlei-stung´
gelten.... Das Bürgergeldsystem der F.D.P. ist der Lösungsansatz
für die Überwindung der hohen Arbeitslosigkeit im Niedriglohnbereich
und für ein durch-schaubares Sozialsystem. Es führt Einkommensbesteuerung
und steuerfinan-zierte Sozialleistungen zu einer einfachen Gesamtordnung
zusammen und ist der beste Weg, Anreize zur Aufnahme von Arbeit
zu schaffen. werden die (Neo-)Liberalen noch etwas deutlicher.
Tatsächlich beinhaltet die Vereinfachung der bürokratisierten
Sozialversicherungssysteme gerade für jene Kräfte, die die Lohnarbeitszentriertheit
der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft um kei-nen Preis
abzuschaffen geneigt sind, einigen Charme. Die Grundsicherung
wird dabei als Möglichkeit gesehen, das gesellschaftliche Problem
zunehmender Pre-karisierung weiter Teile der Lohnabhängigen aufzufangen.
Mit dem Ende des for-distischen Ideals lebenslanger Vollerwerbstätigkeit
und der Veränderung der Sozialstruktur (Ablösung des Mehrgenerationenhaushaltes,
größtmögliche Flexibilität der Lohnabhängigen) soll eine den neuen
Bedingungen postfordistischer Lohnabhängigkeit prekäre, häufig
wechselnde, relativ ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse, die
sich mit Arbeitslosigkeit abwechseln angepaßte Sozial-verwaltungsstruktur
geschaffen werden. Heute werden nach unterschiedlichen Kriterien
insgesamt 153 Sozialleistungen von 37 verschiedenen Sozialbürokratien
gewährt. Nach dem Bürgergeldkonzept der F.D.P. werden zukünftig
die steuerfi-nanzierten sozialen Hilfeleistungsarten so weit wie
möglich auf eine Hilfelei-stungsform gebündelt. Nur noch eine Behörde
- das Finanzamt - verrechnet die-se mit der Einkommensbesteuerung
und zahlt zielgenau an die sozial Schwachen ein Bürgergeld oder
zieht die Steuer nach der Leistungsfähigkeit des Bürgers ein ,
faßt die F.D.P. das neoliberale Sozialstaatskonzept zusammen. -
Die bürokratischen Sozialversicherungssysteme des Bonner Nachkriegswohlfahrtsstaates
erscheinen den BefürworterInnen eines schlanken, aber effizienten
starken Staates tatsächlich als Mangel, den es abzubauen gilt. Und
noch ein weiterer Punkt erscheint den kapitalistischen SystemmodernisiererInnen
an ihrem Modell einer Grundsicherung attraktiv: Indem ein fester
Einkommenssockel besteht, sind weitere Schleusen für einen faktisch
staatlich subventionierten Niedriglohn-sektor geöffnet. So lohnt
sich Arbeit dann auch im Niedriglohnbereich, wo pro-duktivitätsorientierte
Entlohnung nicht einmal das Existenzminimum sichern wür-de , beschreiben
die Liberalen ihre Motivation für die Forderung nach einem Bürgergeld.
Warum also sollte die radikale Linke überhaupt eine Soziale Grundsicherung
for-dern?
II. Trotzdem emanzipatorisch! Die Soziale Grundsicherung als
über den Kapitalismus hinausweisende Chance der Linken
Die derzeitigen sozialen Sicherungssysteme sind
in der Krise, und das liegt im Ende der fordistischen Ära begründet.
Immer deutlicher wird, dass mit der Entwicklung der Produktivkräfte
stetig mehr Menschen aus dem klassischen Lohnarbeitsverhältnis herausgeworfen
werden. Ebenso wie dieser Entwicklung die Tendenz zur perfektionierten
Barbarei des täglichen Kampfes um ein Auskommen innewohnt, bietet
sie auch Chancen: Immer deutlicher wird nämlich auch die aus dem
immens hohen Stand der Produktivkräfte erwachsene Möglichkeit, gesellschaftliche
Arbeit und Einkommen voneinander abzukoppeln ein Prinzip, dass
damit über die gegenwärtig herrschende Produktionsweise hinausweist.
Tatsächlich wird dieses Prinzip in den bürgerlichen Sozialverwaltungsmodellen
namens Grundsicherung in seiner perver-tierten Form manifestiert.
Denn in der Anerkennung der Realität, das fordistische Normalarbeitsverhältnis
über den Vollerwerb nicht (mehr) herstellen zu können, muß kapitalistische
Funktionalität die zeitweilige arbeitslose Überbrückung zulassen,
will sie die aus dem Produktionsprozess ausgeschlossenen Menschen
aus sozialbefrie-denden Gründen nicht einfach verhungern lassen.
Um dagegen das Heer dieser Menschen sich als industrielle Reservearmee
zu erhalten, muss der postfordistische Kapitalismus die Gewährung
dieser Grundsicherung mit anderen repressiven Ele-menten verbinden.
So finden sich in allen bürgerlichen Grundsicherungsmodellen die
Kopplung der Gewährung dieser Leistung mit einem Zwang zur Annahme
von Arbeit: Die Rechte und Pflichten erwerbsloser GrundsicherungsempfängerInnen
orien-tieren sich soweit wie möglich an den Regelungen für die BezieherInnen
von Ar-beitslosengeld: Erwerbsfähige Personen müssen sich beim Arbeitsamt
arbeitslos melden, um Grundsicherung erhalten zu können. Für die
Beurteilung der Zumutbar-keit einer Beschäftigung und der Verfügbarkeit
für den Arbeitsmarkt gelten die jewei-ligen Regelungen des Arbeitsförderungsgesetzes
schreiben Bündnis 90/Die Grünen, und die Liberalen sind wieder einmal
deutlicher: Die Verpflichtung zur Gegen-leistung (meint Arbeitszwang,
red.) entfällt nur bei denen, die sie aufgrund eigener gesundheitlicher,
persönlicher oder familiärer Situation nicht erbringen können....
Wer es ohne sachliche Begründung ablehnt, eigenverantwortlich zur
Verbesserung seiner Lage beizutragen, z. B. Arbeit anzunehmen oder
Kurse zu besuchen, hat keinen An-spruch auf die volle solidarische
Hilfe der Gemeinschaft. Weiterhin soll nach diesen Modellen neben
dem Arbeitszwang die Höhe der Grundsicherung lediglich das blanke
Existenzminimum statt die längst ökonomisch mögliche weitgehende
Bedürf-nisbefriedigung sicherstellen. Die bürgerlichen Grundsicherungsmodelle
bewegen sich damit in dem Spannungsfeld, einerseits eine große Anzahl
von Menschen nicht mehr dauerhaft ökonomisch verfügbar machen zu
können, andererseits sie dauerhaft verfügbar halten zu müssen.
So verdeutlicht sich, dass die bürgerlichen sozialverwaltenden
Modelle einer Grund-sicherung stets zur repressiven Form der Lohnarbeitszentriertheit
der Gesellschaft kompatibel gemacht werden (müssen). Ihres eigentlichen
emanzipatorischen Gehalts (der Auflösung der Warenförmigkeit der
Arbeitskraft) beraubt, dienen sie in diesem Fall der Befestigung
der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Für die systemoppo-sitionelle
Linke kommt es also darauf an, ob es ihr gelingt, die Forderung
nach einer sozialen Grundsicherung in den Kontext der Abschaffung
der Lohnarbeitszentriert-heit der Gesellschaft zu stellen. Gerade
weil die Forderung nach einer Grundsiche-rung mit Mechanismen,
die EmpfängerInnen in den Niedriglohnsektor hineinzudrängen, gekoppelt
wird, muss die radikale Linke die Forderung nach einer sozialen
Grundsicherung zwingend in einen Zusammenhang mit verschiedenen
emanzipato-rischen Prämissen stellen, um den Antikapitalismus der
Forderung zu erhalten:
a. Die Forderung nach einer sozialen Grundsicherung
darf nicht mit der Überbrückung von zeitweiliger Arbeitslosigkeit
oder staatssubventionierter Ausgleich von Billigjobs begründet werden,
sondern mit der Bedürfnisbefriedigung der Empfän-gerInnen. Klar
werden muss: Wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Stand
der Produktivkräfte es ermöglicht, allen Menschen nicht nur ein
Überleben, sondern auch ein lebenswertes Leben zu sichern unabhängig
davon, dass Einzelne möglicherweise ein grösseres Scherflein dazu
beitragen als andere ,dann kann (auch grundgesichertes) Massenelend
keine Naturnotwendigkeit sein.
b. Nur eine radikale Arbeitszeitverkürzung kann
die Spaltung der Menschen in ruhiggestellte GrundsicherungsempfängerInnen
als neue industrielle Reservearmee einerseits und andererseits der
Arbeitshetze unterworfene Lohnabhängige verhindern. Alle Menschen
sollen die Chance bekommen, unabhängig von ihrer Kapitalverwertbarkeit
am gesellschaftlichen Prozess partizipieren zu können. Deshalb muss
die radikale Arbeitszeitverkürzung mit einem Recht auf Arbeit kor-respondieren.
Recht auf Arbeit bedeutet damit nicht etwa eine Fetischisierung
der (Lohn-)arbeit, sondern meint vielmehr eine wert-schaffende Praxis
als gesellschaftsanalytisches Konzept, das die Produktion von Wert
quer durch das ge-samte Spektrum des Sozialen sowohl ökonomisch
als auch kulturell zu erklären vermag .
c. Ein Mindestlohn sowie eine politischen Regulierung
von Arbeitsverhältnissen. Denn selbst bei Einführung einer sozialen
Grundsicherung ist das Strukturprinzip der kapitalistischen Gesellschaft,
Zwang zur Lohnarbeit für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung,
nicht abgeschafft, so dass (auch) dieser Forderung unbestreitbar
eine reformistische Komponente innewohnt. Doch es geht gegen-wärtig
darum, Gegenpole zum realen Drang der gegenwärtigen kapitalistischen
Epoche hin zur Hegemonie prekärer Beschäftigungsverhältnissen aufzubauen.
Denn die Änderung dieser Realität, darin ist der Gruppe f.e.l.s.
zuzustimmen, ist ganz wesentlich ein Kampf um die Unterordnung
der Ökonomie unter die Politik, ein Kampf um die Gestaltung von
Arbeit und Wirtschaft nach gesellschaftlichen Bedürfnissen. Es
ist nötig, die Sachzwänge des Marktes als gesellschaftliche Machtverhältnisse
zu entlarven. So bietet die Möglichkeit, für gemeinsame So-zialstandards
in Arbeitsverhältnissen, zu kämpfen, die Option, gegen ein transna-tional
agierendes Kapital die transnationale Solidarität all derjenigen
zu setzen, die nicht Kapital zu ihrem Eigentum zählen.
III. reale Verbesserung im sozialen Kampf
a. (der Lohnabhängigen) Die soziale Grundsicherung
trifft nicht nur auf Seiten der Unternehmer auf Ablehnung, auch
weite Teile der lohnabhängig Beschäftigten stehen solchen Plänen
mit Skepsis und Ablehnung gegenüber. Die Motivation ist offensichtlich:
Wer ißt, der soll auch arbeiten" mag sich so mancher denken und
fühlt sich von denen, die ernten, ohne zu säen" selbst betrogen.
Eine solche Sicht der Dinge ist jedoch zumindest kurzsichtig; hier
kann linke Argumentation ansetzen. Die Etablierung eines starken
sozialen Sicherungssystems nutzt näm-lich in großem Maße gerade
den Lohnabhängigen. Eine soziale Grundsicherung, gerade auf hohem
finanziellen Niveau, markiert einen realen Mindestlohn, zumin-dest
dann, wenn von denen unter Punkt A.II.a.-c. benannten Maßnahmen
flan-kiert wird. Unterhalb eines so festgelegten Betrages wird niemand
mehr unter allen Umständen gezwungen sein, seine Arbeitskraft feil
zu bieten. Vor allem prekäre Arbeitsverhältnisse und Niedriglohnbereiche
könnten so stark zurückge-drängt werden. Aber auch die konkreten
Arbeitsbedingungen würden sich verän-dern müssen. Arbeiten, die
unter extrem belastenden Verhältnissen stattfinden, müßten entweder
besser entlohnt oder anders organisiert werden, um hinrei-chend
attraktiv zu bleiben. Vor allem aber stärkt die Soziale Grundsicherung
die Lohnabhängigen in der Auseinandersetzung mit dem Unternehmerlager,
sei es auf betrieblicher oder übergeordneter Ebene. Vor dem Hintergrund
einer starken sozialen Absicherung sinkt das individuelle Risiko,
durch deviantes Verhalten die materielle Existenz zu gefährden.
Eine so gestärkte Position könnte die Lohnab-hängigen endlich von
einer Situation befreien, in der sie weitestgehend darauf beschränkt
ist, den Status Quo zu verteidigen.
b. (antipatriarchal) Die Einführung des Existenzgeld
hätte übrigens noch einen weiteren emanzipatorischen Effekt. Frauen
würden finanziell abgesicherter. Die Ent-scheidung, repressive Ehen
oder Beziehungen zu beenden, würde ihnen er-leichtert, weil ihnen
zumindest kein finanzielles Fiasko droht.
c. (gegen autoritäre Kleinfamilienmuster) Auch wäre
die Einführung des Existenzgeld ein Angriff auf die Kleinfamilie.
Jugendliche wären in der Lage, ihr Elternhaus zu verlassen, wann
es ihnen gefällt. Statt faktischer Studienzeitbegrenzung durchs
BAföG-Amt oder elterlicher Missgunst können Studierende unabhängig
vom Einkommen und Willen der Eltern studieren, was sie möchten.
Auch der Druck, sich für den Arbeitsmarkt verwertbar auszubilden,
fiele weg bzw. würde deutlich reduziert.
d. (antirassistisch) Nur erwähnt sei, dass auch
die materielle Situation von Flüchtlin-gen deutlich verbessert würde.
B. Kein Elend dieser Welt schafft ein revolutionäres Subjekt
Politische Handlungsfähigkeit erfordert materielle Freiheiten
Das System der sozialen Sicherung, wie wir es kennen,
macht Lohnarbeit zum zen-tralen Anknüpfungspunkt für Sozialleistungen
und schreibt damit fest, wie man sich die Existenzberechtigung zu
erwerben hat. Es geht von der männlichen Normaler-werbsbiographie
aus und garantiert mit dem Subsidiaritätsprinzip die materielle
Ab-hängigkeit der nicht vollerwerbstätigen Familienmitglieder. Es
regelt, wer Mensch erster oder zweiter Klasse ist, indem es allen,
die nicht über die Vorzüge eines staat-lichen anerkannten Aufenthaltsrechts
verfügen, das Recht auf ein Existenzminimum streitig macht. Diese
Mechanismen verfestigen Herrschaftsverhältnisse und deren Selbstverständlichkeit.
I. Politische Rechte setzen soziale Rechte voraus!
Die Freiheits- und Gleichheitspostulate der bürgerlichen
Gesellschaft, die politischen Rechte, die sie zu gewähren verspricht,
bedeuten in Verhältnissen materieller Ab-hängigkeit nicht wirklich
die Öffnung des Sozialen für politische Interessenartikulation und
durchsetzung, die ihnen zugeschrieben wird. Vielmehr setzt die
Inanspruch-nahme politischer Rechte die Existenz sozialer Rechte
voraus. In einer Gesellschaft, in der es kein Recht auf materielle
Existenz gibt oder in der dieses Recht an bestimmte Voraussetzungen
geknüpft wird, sind weite Teile der Bevölkerung tatsächlich vom
politischen Prozeß ausgeschlossen oder können sich nur in der Position
von Untertanen an den Entscheidungen anderer beteiligen. Bereiche
der Gesellschaft (wie Wirtschaftsbetriebe und Familien), in denen
Menschen von anderen ökonomisch abhängig sind, werden nicht zum
Gegenstand politischer Entscheidungen gemacht. Damit soll der gesellschaftliche
Konflikt in diesen Bereichen ausgeblendet werden. Dagegen wird der
Bereich des Privaten, in dem Herrschaftsverhältnisse bisher als
natürlich hingenommen werden, zu einem Feld der Interessensauseinandersetzung
und damit der Politik, wenn nicht mehr die alltägliche selbstverständliche
Abhängig-keit von vornherein festschreibt, wer letztlich zu entscheiden
hat. So nimmt mit der Abschaffung des Zwanges zur Lohnarbeit auch
der Druck zur (geschlechtshierar-chisch organisierten) familiären
Arbeitsteilung in den Produktions- und den Repro-duktionsbereich
ab. Den einzelnen bleibt ein deutlich höherer Spielraum für politische
und kulturelle Aktivität, wenn es eine Alternative zur Vollerwerbstätigkeit
gibt. So liegt im Kampf um eine Soziale Grundsicherung eine Chance:
Die Etablierung von Ge-genmachtpositionen, von denen aus eine andere
Gesellschaft erkämpft werden muss, setzt voraus, dass andere Formen
der Lebensgestaltung möglich sind als der fremdbestimmte Lohnarbeitstag.
II. Freiraumpolitik und Ansätze sozialistischer Organisation
Dass ein Kapitalismus mit Sozialer Grundsicherung
sich noch breiter Zustimmung erfreuen würde, ist schon deswegen
sehr unwahrscheinlich, weil eine solche Vari-ante von Sozialstaat
den für kapitalistische Gesellschaftsformationen konstitutiven Zwang
zur Lohnarbeit teilweise untergräbt und schon deshalb ständig umkämpft
sein wird. Die Soziale Grundsicherung wird in kapitalistischen Verhältnissen
ein zentraler Austragungsort von politischen Klassenkämpfen sein;
gleichzeitig können im Bereich diese lohnarbeitsunabhängigen Einkommens
größere kulturelle und ökonomische Bereiche ohne den Zwang zur Kapitalverwertung
entstehen. Die Einführung eines Existenzgeld verbunden mit einer
radikalen Arbeitszeitverkür-zung bei vollem Lohnausgleich hätte
daher nicht nur den emanzipatorischen Effekt, Menschen ein dem hiesigen
kulturellen Lebensniveau angemessenen Lebensstil zu gewährleisten:
auch würden Freiräume für politische oder kulturelle Tätigkeit geschaffen,
die für ein gesellschaftlich relevantes Widerstandspotential unabdingbar
notwendig sind. Die Ansprüche an die eigenen Lebensverhältnisse
steigen, wenn die materielle Grundlage nicht mehr obrigkeitsstaatlich
in Verbindung mit umfassender Gängelung und Disziplinierung von
Sozialämtern gewährt wird, sondern den einzel-nen selbstverständlich
zusteht. Eine neue Gesellschaft entsteht im Schoß der alten, und
antikapitalistische Momente müssen bereits in der Gegenwart vorwegnehmend
erkämpft werden - so kann sich mit der Sicherung der materiellen
Existenz, der ihr folgenden Zunahme kultureller Ansprüche und dem
gleichzeitigen Zugewinn an lohnarbeitsfreier Zeit die Möglichkeit
des Entstehens nicht verwertungsorientierter Bereiche der Gesellschaft
eröffnen. Besonders der kulturelle Bereich gewinnt dabei an Bedeutung:
Die Möglichkeiten zu stärker selbstbestimmter kultureller Tätigkeit
werden durch eine Soziale Grundsicherung erst eröffnet. Gerade dadurch,
dass gleichzeitig Ansätze sozialistischer Organisation einzelner
gesellschaftlicher Bereiche entstehen und die materielle Existenz
des Menschen umfassend gesichert ist, kann sich die Frage der gesellschaftlichen
Organisation an-ders stellen als nur als Frage der Verwertung von
Einkommen. Vielmehr können die verschiedenen Lebensbereiche als
politisch veränderbar begriffen werden, wenn be-stehende Abhängigkeitsverhältnisse
zurückgedrängt und die Selbstverständlichkeit des fremdbestimmt
organisierten Alltags durchbrochen wird.
C. Kritik an der revolutionaristischen Kritik
Keine politische Forderung, die über Abschaffen
von Staat und Kapital hinausgeht, erfreut sich ungeteilter Beliebtheit
in linksradikalen Kreisen. Ausgenommen ist hier-von der Ruf nach
offenen Grenzen für alle. Aber wahrscheinlich auch nur, weil er
die positive Umformulierung der Forderung Grenzen abschaffen darstellt.
I. ein Beispiel antidialektischer Staatskritik...
Gerne wird deshalb denjenigen, die die Forderung
nach einer Sozialen Grundsiche-rung vertreten, vorgehalten, diese
Forderung sei nur eine weitergehende Variante eines Pazifizierungsmodells
für die Unterklassen, mit dem der kapitalistische Staat sich vor
aufrührerischen Umtrieben schützt und die gerade nicht in Lohnarbeitsver-hältnissen
stehenden Arbeitskraftbehälter für die erneute Verwertung in Schuss
hält. Dabei wird häufig so getan, als sei das Ruhigstellen von ArbeiterInnen
durch Sozial-leistungen eine notwendige Voraussetzung dafür, dass
diese nicht revoltieren, ob-wohl diejenigen, die alltäglich durch
die Mühle des Sozialleistungsbezugs gedreht werden, zumindest zur
Zeit nicht gerade als Vorhut revolutionärer Umtriebe auftreten.
Aber das ist nicht der einzige Fehler einer solchen Betrachtungsweise:
Dass der be-stehende kapitalistische Sozialstaat nicht nur Armutsrevolten
verhindert, sondern auch noch eine ganze Menge anderer Dinge tut,
gerät ihr gar nicht in den Blick. Denn einerseits gibt es gegenwärtig
keine relevante soziale Bewegung, die befriedigt werden müßte, andererseits
würde die Einführung des Existenzgeldes auch die Mög-lichkeiten
systemoppositioneller Politik deutlich verbessern. Es ist nämlich
entgegen eines weit verbreiteten linken Vorurteils keineswegs so,
dass die Menschen die Re-volution erst machen, wenn sie kurz vor
dem Verhungern sind. Im Gegenteil. Gerade der unglaubliche Druck,
bei jedem Versuch sich zu wehren, gefeuert zu werden oder aber als
LangzeitstudentIn keinen Job zu bekommen, führt gerade nicht dazu,
dass Menschen widerständiger werden. Deshalb wird mit der Existenzgeldforderungen
wird dem Staat auch keine linke Befriedungsstrategie angetragen.
II. ... und ihre Ursache die objektive Schwäche der systemoppositionellen
Linken
Der Gestus, die Einforderung emanzipatorischer Veränderungen
der hiesigen kapitalistischen Gesellschaft abzulehnen, ist Ausdruck
der objektiven Schwäche der systemoppositionellen Linken. Jeder
Versuch, ihre Reorganisation zu versuchen, wird als Beschwörung
eines common sense mit der Bevölkerung (Freiburger Bündnis gegen
Arbeit) denunziert. Dabei geht es dieser Kritik nicht darum, auf
mögliche Ge-fahren einer Existenzgeldforderung, die beispielsweise
in ihrer Verwechselbarkeit zu Bürgergeldmodellen liegen, offenzulegen.
Die grundsätzliche linksradikale Kritik ver-sucht die Existenzgeldforderung
als Reformismus zu entlarven, ohne sich offen-sichtlich jemals
die Mühe gemacht zu haben, Begriffe wie Reformismus und revo-lutionäre
Politik sinnvoll zu füllen.
III. Emanzipationsbewegung ist nicht systemfunktional!
Der rhetorische Trick ist dabei immer gleich. Jede
gesellschaftliche Veränderung wird als funktional für die kapitalistischen
Gesellschaft und somit als Modernisierung gedeutet. Der bürgerliche
Staat wird auf seine Funktion als Vollstrecker der jeweiligen Kapitalinteressen
reduziert. Emanzipatorische Bewegungen werden zu Erfüllungsge-hilfen
bei seiner Modernisierung. Die Widersprüchlichkeit der kapitalistischen
Pro-duktionsweise wird negiert, emanzipatorische Veränderungen faktisch
ausgeschlossen. Seine Zuspitzung findet dieses Argumentationsmuster
in der Unterscheidung zwi-schen reformistischer und revolutionärer
Politik. Reformistisch ist dabei jedeR, der/die sich für emanzipatorische
Veränderungen innerhalb des bestehenden Sy-stems einsetzt, revolutionär,
wer seine Abschaffung bzw. Transformation einklagt. Dass dabei beide
Begriffe ihres Inhalts beraubt werden, liegt auf der Hand. War Reformist
früher einmal das Schimpfwort für jene, die emanzipatorische Verände-rungen
ausschließlich im bestehenden kapitalistischen System erreichen
wollten, wendet sich dieser Vorwurf nun auch gegen jene, die im
Sinne Rosa Luxemburgs an dem unzertrennlichen Zusammenhang zwischen
Sozialreform und sozialer Revolu-tion festhalten wollen. Der vulgärradikale
Kritik an emanzipatorischen Forderungen fehlt so jede Vorstel-lung,
wie die Kritik am bestehenden kapitalistischen System vom revolutionären
Subjekt - wer auch immer es sein möge - angeeignet werden kann.
Solange das gesellschaftliche Bewusstsein vom Sein bestimmt wird,
ist die Einforderung der Revo-lution oder des Kommunismus nicht
weiterbringend. Das gesellschaftliche Be-wusstsein der Menschen
verändert sich nicht dadurch, ihnen das Kapital vorzulesen - auch
wenn es nicht schadet.
IV. für eine radikale Kritik, die auch zur materiellen Gewalt
werden kann
Denn die radikale Kritik an der warenförmigen Gesellschaft
wird nicht dadurch Be-standteil des gesellschaftlichen Bewusstseins,
dass Menschen sich theoretisch Klarheit über ihre Funktionsweise
und Auswirkungen verschaffen. Bewusstseinprozesse mit gesellschaftsverändernder
Relevanz erfolgen nicht aus Hauptseminaren in den Universitäten
heraus: sie sind Ergebnis sozialer Kämpfe und letztere sind Ausdruck
der Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise. Soziale
Kämpfe für emanzipatorische Veränderungen innerhalb der bestehenden
kapitalistischen Ge-sellschaft sind deshalb Voraussetzung für ihre
Überwindung, weil in ihnen und durch diese die daran Beteiligten
sich Gedanken über die Verhältnisse, in denen sie leben, machen
müssen. Eben weil die Verhältnisse widersprüchlich sind, greift
auch die funktionalistische Staatskritik nicht. Der Staat ist zwar
ideeller Gesamtkapitalist, weil er sowohl die Auf-rechterhaltung
der bürgerlichen Gesellschaft - juristisch gesprochen an dem Privatei-gentum
an den Produktionsmitteln - als auch zwischen den unterschiedlichen
Kapi-talinteressen zu vermitteln hat. Allerdings wäre ein Begriff
vom ideellen Gesamtka-pitalisten deutlich zu kurz, wenn dieser
nicht auch berücksichtigt, das es eben auch die Aufgabe des Staates
und staatsnaher Institutionen gehört, die gesellschaftlichen Verhältnisse
so zu gestalten, dass überwiegende Mehrheit sich mit dem gesellschaft-lichen
System identifizieren kann und dadurch jenes legitimiert. Hier liegen
auch die Potentiale für emanzipatorische Veränderungen innerhalb
des kapitalistischen Sy-stems begründet. Deshalb können in der bürgerlichen
Gesellschaft Veränderungen auch gegen den Willen des Kapitals
durchgesetzt werden.
V. offene Fragen -
auch für die antikapitalistische Linke
Die Arbeits- und Lebenswelt der Menschen hat sich
seit Mitte der siebziger Jahre deutlich verändert. Die männliche
Normalerwerbsbiographie wird immer seltener, offiziell sind rund
vier Millionen Menschen arbeitslos und weitere Millionen sind in
prekären Beschäftigungsverhältnissen. Die systemoppositionelle Linke
hat die Ver-pflichtung, auf sich verändernde Verhältnisse neue Strategien
zu entwickeln. Wie können diese Menschen zu sozialen Kämpfen motiviert
werden und mit welchen Forderungen können sich Wehrende zusammengeführt
werden, sind Fragen, auf die Antworten gefunden werden müssen. Die
Existenzgeldforderung erfüllt diese Voraussetzungen, weil sie eben
nicht die Interessen der ArbeitsplatzbesitzerInnen gegen die Interessen
der Arbeitslosen, SchülerInnen, StudentInnen oder SozialhilfeempfängerInnen
ausspielt, sondern deren gemeinsame Ziele in den Vordergrund zu
rücken versucht. Es ist sonnenklar, dass linke, radikaldemokratische,
systemoppositionelle Politik nicht bei der Forderung nach Einführung
eines Existenzgeldes stehen bleiben darf. Unsere Vorstellung von
einer Gesellschaft, in der die Unterdrückung des Menschen durch
den Menschen ein Ende gefunden hat, geht deutlich weiter. Ohne
einen Bruch mit der Warenproduktion ist keine freie Gesellschaft
zu machen, ist die Emanzipation des Menschen unvorstellbar. Allerdings
wird die Transformation der kapitalistischen in eine freie Gesellschaft
weder durch Mehrheitsbeschluss des Deutschen Bundes-tages noch durch
den Verzicht auf die Artikulation sozialer Forderungen erreicht.
Mit welchen Aktionsformen der Forderung nach Existenzgeld Nachdruck
verliehen wird, bliebe zu diskutieren. Da gibt es ja schon viele
unterschiedliche Ideen: vom proletari-schen Einkaufen über Parties
in Geldautomatenvorräumen bis hin zu klassischen Aktionsformen wie
Demonstrationen und Kongressen.
LiRa-AK f.e.l.S-Konferenz
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