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Und was ist daran radikal?
Anmerkungen und Vorschläge zum Existenzgeld
Was kann die Forderung nach einem »Existenzgeld für alle« zum Ausdruck
bringen? Sie ist konkret, ja. Mit ihr wird auf Verteilungsmißstände
hingewiesen, gut. Außerdem lassen sich damit die »Massen« erreichen,
schön. Und was ist daran radikal? Zunächst einmal gar nichts.
Interessanter wird die Diskussion erst, wenn sie von ihrem konkretistischen
Gehalt befreit und in eine grundsätzliche Kritik an der Lohnarbeitsgesellschaft
überführt wird. Doch auch die mit dem Existenzgeld verbundene Forderung
nach Entkopplung von Lohnarbeit und Existenzsicherung bleibt im
schlechten Sinne utopisch, solange sie nicht mit konkreten Kämpfen
um gesellschaftliche Verhältnisse verknüpft wird. Deshalb ist es
unabdingbar, die reale Entwicklung des Verhältnisses von Lohnarbeit
und Existenzsicherung näher zu betrachten. Für den Zusammenhang
von Lohnarbeit und Existenzsicherung spielte der Staat von Beginn
an eine wesentliche Rolle. Bei der Betrachtung der staatlichen Regulation
dieses Zusammenhangs in ihrer historischen Entwicklung betrachtet
wird, wird schnell deutlich, daß nicht allein Klassenkämpfe, sondern
auch die kapitalistische Ökonomie für die jeweilige historisch-konkrete
Form sozialstaatlicher Regulation prägend gewesen ist. So wurden
die ersten1 sozialpolitischen Eingriffe des Staates in die Ökonomie
nicht nur von einer klassenbewußten Arbeiterschaft erkämpft, sondern
waren auch ökonomische Notwendigkeiten privatkapitalistischen und
finanzpolitischen Charakters. Staatliche Intervention zielte auf
die Herstellung des Arbeitsmarktes als zentrale Vergesellschaftungsinstanz.
Denn es war keineswegs selbstverständlich, daß die Menschen von
Lohnarbeit lebten. Staatliche Sozialpolitik ist deshalb bis in den
Fordismus hinein die »Bearbeitung des Problems der Transformation
von Nicht-Lohnarbeitern in Lohnarbeiter«. Mit der Einführung der
Sozialversicherungen ab 1883 wurden Lohnarbeit und Existenzsicherung
bedingt entflochten. Bedingt war diese Entflechtung schon allein
deshalb, weil sie nur für die lohnarbeitsabhängigen GroßindustriearbeiterInnen
(und keineswegs für die arme Landbevölkerung und ArbeiterInnen in
ländlichen Fabriken) eine geringe Absicherung bedeuteten. Was für
den Bismarckschen Sozialstaat konstitutiv war und während einer
kurzen Prosperitätsphase des keynesianischen Wohlfahrtsstaat der
BRD leicht kaschiert wurde, erhält heute wieder eine zentrale Bedeutung:
»Den einen sollte aus steigenden Gewinnen eine privilegierte Existenzsicherung
zuteil werden, während die anderen sich selbst überlassen oder der
Armenpolizei überantwortet wurden.« Die ökonomisch funktionale Spaltung
des Sozialstaats in Arbeiter- und Armenpolitik begann mit der Bismarckschen
Sozialgesetzgebung und wirkt bis in die heutige Trennung von Sozialversicherungs-
und Sozialhilfepolitik fort. Die Ökonomisierung der Gesellschaft
über die Ausdehnung der Lohnarbeit wurde zugleich von einer Durchstaatlichung
der Gesellschaft unterstützt. Denn mit der zentralistischen Sozialversicherung
wurden nicht nur frühere gewerkschaftlich selbstorganisierte Versicherungskassen
zerschlagen, sondern insgesamt immer mehr gesellschaftliche Bereiche
durch die Staatsbürokratie verrechtlicht, d. h. staatlich kontrolliert.
Staatliche Sozialpolitik ist in diesem Sinne stets eine »Voraussetzung
für den reibungslosen Ablauf des Kapitalverwertungsprozesses« und
keineswegs ein »Gegenprinzip zur Verwertungslogik des Kapitals«
wie es die Linkskeynesianer der AG Alternative Wirtschaftspolitik
behaupten. Auch der fordistische Sozialstaat der BRD basierte auf
diesen Zusammenhängen, besaß jedoch eine für die historische Phase
nach dem Zweiten Weltkrieg spezifische Ausprägung. Ganz abgesehen
davon, daß die Prosperitätsphase nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs
auf eine »deutsche Arbeitswut« zurückgeführt werden kann, sondern
die bundesdeutsche Wirtschaft von der nationalsozialistischen Modernisierung
des Kapitalismus profitierte, kann in der Anfangsphase der BRD keineswegs
von einem keynesianischen Wohlfahrtsstaat gesprochen werden. In
den fünfziger Jahren wurden zwar einige wichtige sozialpolitische
Gesetze geschaffen und novelliert, doch die eigentlich keynesianische
Politik wurde erst nach der ersten Wirtschaftskrise 1966/67 deutlich.
Diese aus heutiger Sicht »kleine Krise« führte zu einer Reduzierung
der Profitrate des Kapitals, worauf mit einer Erweiterung des keynesianischen
Steuerungsinstrumentariums reagiert wurde. Zentrale Instrumente
waren das »Stabilitäts- und Wachstumsgesetz« sowie die sogenannte
»Konzertierte Aktion« von Staat, Unternehmensverbänden und Gewerkschaften.
Mit einer kurzen Unterbrechung 1971 erlebte die BRD von 1968 bis
1974 ihren »zweiten Frühling«. Der »Wohlstand-für-alle«-Mechanismus
schien wieder zu funktionieren. Massenproduktion und Massenkonsum
bildeten eine ökonomische Einheit, die durch sozialpolitische Maßnahmen
reguliert wurde. Doch bereits 1974/75 verflüchtigte sich der »Traum
immerwährender Prosperität« endgültig. Allein diese kurze Phase
dient heute der Rechtfertigung sozialstaatlicher Hoffnungen. Dabei
wird übersehen, daß selbst während des »zweiten Frühlings« die repressiven
und lohnarbeitszentrierten Elemente stets wirksam, wenn auch nicht
allgemein auffallend waren: Anfang der siebziger Jahre wurden die
Grundmuster der rassistischen bundesdeutschen Asylpolitik angelegt,
die auf der Asylmißbrauchsdebatte, auf stetigen Beschleunigung derAsylverfahrens
und sozialer Ausgrenzung beruhen. Daß sozialstaatliche Regulierung
stets auch Disziplinierung in Richtung Staatstreue bedeutet, wurde
1972 durch den Radikalenerlaß unterstrichen. Soziale Absicherung
setzte eine mehrfache Normalisierung, d. h. Normierung voraus. Insgesamt
funktioniert das System ozialer Sicherung der BRD als ein »umgestülptes
Netz«, dessen Auffangfähigkeit über das staatlich regulierte Verhältnis
von Lohnarbeit und Existenzsicherung bestimmt wird: Je weiter eine
Person von der Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt und somit von
einer »Normalbiographie« entfernt ist, desto schwächer ist die materielle
Existenzsicherung, und desto repressiver wirken die Instrumentarien
der sozialen Disziplinierung. Eine Zentrierung auf Lohnarbeit und
Normalitätsannahmen charakterisieren die soziale Sicherung in Deutschland;
Ausschluß, Unterversorgung und Repressionen gehörten stets dazu.
Zur männlichen Normalbiographie die Familienarbeit leistende Ehefrau,
die für die Reproduktion der männlichen Arbeitskraft innerhalb der
Kleinfamilie zuständig war. Dementsprechend waren Frauen stärker
vom Ausschluß aus den Sozialversicherungen wegen fehlender Lohnarbeitszeit,
Unterversorgung durch die Sozialversicherungen aufgrund zu geringer
Lohnarbeitszeit und Repressionen infolge erhöhter Sozialhilfeabhängigkeit
betroffen. Wer keine Treue zur »freiheitlich-demokratischen Grundordnung
(fdGO)« nachweisen konnte, hatte ohnehin keine Chance und wurde
zudem staatlich verfolgt. Joachim Hirsch hat u. a. aus diesen Gründen
den bundesdeutschen Sozialstaat als Sicherheitsstaat bezeichnet,
der zugleich Wohlfahrts- und bürokratischer Überwachungsstaat ist.
Seit der »großen Krise« 1974/75 verliert die fordistische, bedingte
Entkopplung von Lohnarbeit und Existenzsicherung ihre ökonomische
Basis: »Vollbeschäftigung«, d. h. eine geringe Arbeitslosenquote
gehört seitdem der Vergangenheit an. Zudem rücken die repressiven
Elemente des Sozialstaats wieder in den Mittelpunkt. Sehr deutlich
wird dies am Beispiel der Sozialhilfe. In der Sozialhilfe war das
Ideal der Entkopplung von Lohnarbeit und Existenzsicherung für Ausnahmefälle
vorgesehen. Im Unterschied zu den Sozialversicherungen sind die
Leistungen des BSHG nicht direkt leistungs-, sondern bedarfsorientiert.
Allerdings enthält auch das BSHG das für die gesamte sozialstaatliche
Regulation von Lohnarbeit und Existenzsicherung konstitutive Gemisch
aus sozial- und systemintegrativen Elementen. Im Lohnabstandsgebot,
in der »Hilfe zur Arbeit« und in den Repressionen (Leistungskürzungen)
spiegelt sich der grundsätzliche Vorbehalt der Lohnarbeitszentriertheit
wider. Für die Diskussion um die Transformation der staatlichen
Regulation von Lohnarbeit und Existenzsicherung ist besonders interessant,
daß die bedarfsorientierten Elemente des BSHG stetig geschwächt
wurden, während die leistungszentrierten sowie die repressiven Elemente
deutlicher hervorgetreten sind. Diese Umgewichtung ergibt sich nicht
allein aus den realen und nominalen Kürzungen der Regelsätze. Die
relative Stärkung der repressiven und leistungszentrierten Elemente
erklärt sich nicht allein aus der relativen Schwächung der bedarfsorientierten
Elemente, sondern insbesondere durch eine über die Gesetzgebung
erfolgte Stärkung der leistungsorientierten Elemente. Das Lohnabstandsgebot
wurde seit Beginn der achtziger Jahre restriktiver gefaßt. Ebenfalls
ab Beginn der achtziger Jahre ziehen Sozialhilfeämter immer häufiger
und mehr SozialhilfeempfängerInnen zu Pflichtarbeiten im Rahmen
der »Hilfe zur Arbeit« heran, bei der Betroffenen im schlechteren
Falle für 1-3 DM / Stunde (plus Sozialhilfe) »gemeinnützige und
zusätzliche Arbeit« z. B. beim Schneeschippen und Laubfegen zu leisten
haben. Den Anfang machte das Land Berlin, indem es pakistanische
AsylbewerberInnen im Winter 1981/82 zum Granulatfegen zwang. Die
bundesgesetzliche, restriktivere Verordnung dieser Praxis erfolgte
jedoch erst in den neunziger Jahren. Direkte Repressionen (Leistungskürzungen
nach § 25 BSHG) waren von Beginn an Bestandteil des BSHG. Allerdings
wurde dieses Instrument stetig von einer »Kann«- über eine »Soll«-
zu einer »Muß«-Regelung ausgebaut, in der zuletzt 1996 die Höhe
der ersten Kürzungsstufe auf 25 % des Sozialhilfesatzes festgelegt
wurde. »Arbeit, Arbeit, Arbeit« ist auch das zentrale Motiv von
Lohnkostenzuschüssen an Arbeitgeber, die inzwischen u.a. auch im
BSHG geregelt sind. Mit der Auskopplung der Sozialhilfe für AsylbewerberInnen
aus dem BSHG wurde diese Entwicklung nochmals zugespitzt. Nach dem
rassistisch konstruierten Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)
erhalten »Leistungsberechtigte« ca. 15 % weniger, als die ohnehin
nicht mehr existenzsichernde Sozialhilfe vorsieht. Zudem wurde Zwangsarbeit
in diesem Bereich förmlich festgeschrieben (Internierung plus Zwang
zur Arbeit). In der Sozialhilfe mußte die sozio-kulturelle Existenzsicherung
dem Ziel der flexiblen Arbeitsmarktverfügbarkeit den Rang abtreten.
Existenzgeld als Lösemittel?
In der momentanen Situation darauf zu vertrauen, über eine bloß
unvermittelt vorgetragene Forderung nach einer Existenzsicherung
für alle auch nur irgend etwas in Frage zu stellen, übersieht nicht
nur die reale Entwicklung des Verhältnisses von Lohnarbeit und Existenzsicherung,
sondern ignoriert zugleich die Wirkungsmächtigkeit der bürgerlichen
Grundsicherungsvorstellungen. Letztendlich reden alle von Bürokratiekritik,
wollen kleine Gemeinschaften auf lokaler Ebene fördern, stellen
mal mehr und mal weniger Geld für eine Grundfinanzierung in Aussicht
und meinen unisono, daß der gute alte Sozialstaat den neuen Bedingungen
angepaßt werden müsse, auf daß niemand mehr in Armut leben werde.
Die realen Verhältnisses wahrzunehmen heißt jedoch nicht, sich ihnen
anzupassen. Dafür gibt es schließlich die Grünen: Der »Spannung
zwischen Lohn- und Bedarfsprinzip (...) kann sich kein sozialpolitisches
Reformprojekt, das auf breite Unterstützung und Realitätsmächtigkeit
hofft, ungestraft entziehen«, so Andrea Fischer in einer Begründung
des bündnisgrünen Grundsicherungsmodells. Oder: »Nicht zuletzt das
Wissen um diese tief verwurzelte Wertorientierung der deutschen
Sozialpolitik hat uns veranlaßt, die bedarfsorientierte Grundsicherung
so realistisch und am Bestehenden anknüpfend zu gestalten.« Daß
die SPD in die gleiche Richtung argumentiert, muß wohl nicht gesondert
erwähnt werden. Für die PDS ist dieses Zugeständnis an die Lohnarbeitszentriertheit
und an das Lohnabstandsgebot eine zentrale Schwäche des grünen Modells,
die sie mit der Einführung eines Mindestlohns vermeiden wollen.
Dabei taucht jedoch die Lohnarbeitszentriertheit samt Lohnabstandsgebot
über die Formel »Wer lohnarbeitet, soll mehr Geld haben« in anderem
Gewande wieder auf: »Der Mindestlohn sorgt dafür, daß alle erwerbstätigen
Menschen mindestens in der Höhe der Grundsicherung, in der Regel
aber über ein deutlich höheres Einkommen, verfügen.« Da hilft es
wenig, wenn sie in wohlwollender Manier »antisexistische, antirassistische,
antimilitaristische, antifaschistische oder / und ökologische Arbeit«
mit einer Grundsicherung beglücken wollen. Wer die Grundsicherungswürdigkeit
dieser Nicht-Lohnarbeiten festlegt, verrät die PDS nicht. Etwas
konkretere Vorstellungen hat unlängst die Kommission für Zukunftsfragen
der Freistaaten Sachsen und Bayern verlautbaren lassen. Erwerbsarbeit
soll durch Bürgerarbeit ergänzt werden, und da Lohnarbeit nicht
mehr alles sein kann, soll Bürgerarbeit auch anerkannt werden. Die
Anerkennung soll dabei vorwiegend immateriell über Qualifikationen,
Ehrungen, Rentenansprüche und Sozialzeiten sowie »Favor Credits«
(z.B. das gebührenfreie Nutzen eines Kindergartenplatzes, Punkte
für das NC-Verfahren) erfolgen. Für einommensschwache BürgerarbeiterInnen
ist eine Mindestsicherung (»Bürgergeld«) vorgesehen. Darüber fallen
BürgerarbeiterInnen nicht in die sozialrechtliche Kategorie »arbeitslos«.
Als »Schlüsselidee des Modells« hebt der Autor dieses Unterkapitels,
Ulrich Beck, hervor, »daß (...) das Unternehmerische mit der Arbeit
für das Gemeinwohl verbunden werden sollte und kann«. Da die Bürgerarbeit
jenseits von Staat und Markt institutionalisiert und professionell
unternehmerisch organisiert werden soll, ist ein »Gemeinwohl-Unternehmer«
vorgesehen, der Projekte initiiert und koordiniert. Diese Figur
gilt als Antwort auf die Frage »Wer organisiert Spontaneität?«.
Die funktionale Notwendigkeit von Bürgerarbeit und Gemeinwohl-Unternehmer
ergründet sich direkt aus der Krise des Sozialstaats: Erstens werden
die vom zentralen Vergesellschaftungsmodus »Lohnarbeit« Ausgeschlossenen
reintegriert und insgesamt der Arbeitsmarkt reguliert. Zweitens
werden nicht über den Markt realisierbare und vom Staat finanziell
nicht mehr leistbare Bedürfnisse befriedigt. Drittens erhielte die
bisherige Form der Initiativenarbeit eine von den Gemeinden kontrollierte
Form in sogenannten »Bürgerarbeits-Ausschüssen«. Der korporativistische
Regulationsmechanismus kehrt hier auf postfordistischer Weise zurück
nur daß soziale Initiativen an die Stelle von Gewerkschaften treten.
Was tun? Existenzgeld als Klammer revolutionärer Kapitalismuskritik
Als Anfang der achtziger Jahre die Existenzgeld- bzw. Grundsicherungsdiskussion
aufgenommen wurde, stand nicht nur eine bloße Reform des Sozialstaats
im Mittelpunkt, sondern die gesamte kapitalistischer Vergesellschaftung
in Frage. Soziale Grundsicherung und ökosoziale Kapitalismuskritik
waren eng verflochten und erstere wurde als eine Aneignungsforderung
verstanden. Aus damaliger Sicht stellte die »über das Bürgergehalt
geforderte Aneignung gesellschaftlichen Reichtums auf egalitärer
Grundlage [...], konsequent zu Ende gedacht, mit dem Privateigentum
an Produktionsmitteln die gesellschaftliche Herrschaftsstruktur
insgesamt zur Disposition«. Innerhalb der Erwerbsloseninitiativen
wurden die grundsätzlichen Positionen auf dem »1. Bundeskongreß
der Arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland« vom 2. bis 5.
12. 1982 in Frankfurt diskutiert. Zum einen wurde an verschiedenen
Stellen die strikt antikapitalistische Haltung herausgestellt: »Dem
Leben für das Kapital setzen wir das Leben für uns, der Destruktion
durch das Kapital die Sabotage, der Arbeit die Identität der Nichtarbeit
entgegen«. Zum anderen wurde im Gegensatz zur sozialdemokratischen
bzw. grünen und zur liberal-konservativen Diskussion der Begriff
»Arbeit« selbst hinterfragt. Dessen Hintergrund war die Kritik an
einem auf die Lohnarbeit verkürzten Arbeitsbegriff. Der gewerkschaftlichen
Forderung nach »Arbeit für alle« wurde die Parole »Abschaffung der
Lohnarbeit« gegenübergestellt. So lautete die Hauptforderung einer
Hamburger Erwerbsloseninitiative: »1 500, für alle (mit Inflationsausgleich
und keine faulen Tricks) statt Arbeit für alle«. Allerdings war
die Ablehnung der Lohnarbeit nicht eindeutig. Die Arbeitslosenselbsthilfe
Oldenburg (ALSO) vertrat die Auffassung, daß es »unbedingt zu bejahen
ist, daß jeder die Möglichkeit zur bezahlten Arbeit erhalten soll«.
Gleichzeitig grenzte sie sich jedoch von der »Recht auf Arbeit«-Forderung
ab, indem sie fragte: »Unter welchen Bedingungen wird gearbeitet,
was wird produziert und für welchen Zweck, welch Konsequenzen resultieren
daraus und zu wessen Lasten geht unser relativer Reichtum?« Um die
zentrale Frage nach einer Entkopplung von Lohnarbeit und Existenzsicherung
rankten sich die Antworten »Recht auf Faulheit«, »Recht auf lohnarbeitslose
Existenzsicherung« sowie »radikale Arbeitszeitverkürzung«, welche
auch für die heutige Existenzgelddiskussion die Eckpfeiler der Auseinandersetzung
bilden. In den heutigen Entwürfen der Erwerbsloseninitiativen lautet
die Parole inzwischen nicht mehr »Kampf der Arbeit«, sondern »Aneignung
der Arbeit«. Auf ihrem Bundestreffen 1992 stellen die Bundesarbeitsgemeinschaften
der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut (BAGen) zentrale
Forderungen zum Existenzgeld auf, die sie 1996 nochmals bekräftigten:
»Eine existenzielle Absicherung für alle durch ein Einkommen, das
dem gesellschaftlichen Reichtum angemessen ist, unabhängig von Nationalität,
Geschlecht, Familienstand und ohne den Zwang zur Arbeit; eine radikale
Arbeitszeitverkürzung, damit alle, die arbeiten wollen, auch arbeiten
können; eine gerechte Umverteilung der gesellschaftlich notwendigen
Arbeit auf alle Menschen; die Aufhebung der geschlechtshierarchischen
Arbeitsteilung«. Diese Positionen der BAGen können mehr sein als
nur eine unvermittelt vorgetragene Aneignungsforderung. Existenzgeld
kann die begriffliche und zugleich konkrete Klammer für eine fundierte
Kapitalismuskritik bilden, die nicht allein auf eine revolutionäre
Situation wartet. Es ist eine Kapitalismuskritik, die das Verhältnis
von Lohnarbeit und Existenzsicherung in den Mittelpunkt theoretischer
und zugleich praktischer revolutionärer Politik rückt. Dies gelingt
jedoch nur, wenn Abschied genommen wird von Zahlenspielereien
zumal es doch recht verwunderlich ist, daß bereits Anfang der achtziger
Jahre 1 500 Mark plus Inflationsausgleich gefordert wurden und heute
annähernd gleiche Zahlen fröhlich linksradikal verkündet werden.
Mit der Forderung nach Existenzgeld kann alles und nichts angesprochen
werden. Nichts wird angesprochen, wenn nur aufgelistet wird, was
es zu bedenken gilt: geschlechterhierarchische Arbeitsteilung, Rassismus,
Ausbeutung der »Ware« Arbeitskraft, faschistische Tendenzen, Internationale
Ausbeutung und Unterdrückung etc. Damit würde lediglich die für
kapitalistische Gesellschaften durchaus funktionale Splittung der
Gesamtgesellschaft in abgeschottete Teilsysteme reproduziert. Sicher
nicht jedeR kann alles gleichzeitig beackern. Doch über die Klammer
Existenzgeld könnten diese zersplitterten theoretischen Felder zusammengefügt
werden. Die staatliche Regulation von Lohnarbeit und Existenzsicherung
enthält Verstrebungen zu all diesen Bereichen, die es theoretisch
zu erfassen gilt. Konkrete Praxis wäre dann nicht das individualistische
Einklauen, sondern vielmehr gezielte Aktionen gegen Pflicht- und
Zwangsarbeitsinstitutionen: Sozialhilfeämter und vom Asylbewerberleistungsgesetz
profitierende Supermärkte. Ebenso konkret wäre jedoch auch ein strategisch
verstandenes theoretisches Verständnis von Staat und Ökonomie in
der aktuellen Phase kapitalistischer Entwicklung. Hier muß der Einstieg
in den konkreten Klassenkampf über die Existenzgeldforderung gesucht
werden. Einen Schritt in diese Richtung könnte die Konferenz »Für
Existenzgeld und eine radikale Arbeitszeitverkürzung Zur Kritik
der Lohnarbeitsgesellschaft« setzen.
Christian Brütt
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