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Existenzgeld - der König unter den Peanuts
Einkommen statt Trinkgeld!
"Wenn man sich schon Illusionen macht,
dann aber wenigstens richtig; es muß stimmen!" (Django,
der mit dem Sarg kam...)
Im Februar 1992 hatten die Bundesarbeitsgruppen
gegen Arbeitslosigkeit und Armut die Forderung nach einem Existenzgeld
für alle, nach radikaler Arbeitszeitverkürzung und einer
Gleichverteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit formuliert
und sie in einer Broschüre mit "13 Thesen gegen falsche
Bescheidenheit" ausführlich begründet. Im folgenden
Beitrag setzt sich einer der Autoren der Broschüre mit der
zur Zeit laufenden Debatte um die Einführung einer Grundsicherung
auseinander und plädiert für eine Aktualisierung der Existenzgeldforderung.
Die aktuelle Grundsicherungsdebatte
Je schlechter die politischen und ökonomischen
Bedingungen für ihre Umsetzung aussehen, desto heißer
werden die verschiedenen Konzepte "Bürgergeld", "Negative
Einkommensteuer" oder "Soziale Grundsicherung" gehandelt.
In den Debatten geht es entsprechend konkret zur Sache: wieviel
Geld, für wen, mit oder ohne Bedürftigkeitsprüfung,
wieviel Arbeitseinkommen wird angerechnet, ist das Ganze überhaupt
finanzierbar?
Den "13 Thesen" wird entsprechend
entgegengehalten: We soll das denn konkret aussehen, das ist doch
illusionär, wer soll das bezahlen, das läßt sich
doch nicht umsetzen!
Unter den momentanen Bedingungen ist es vergebene
Liebesmüh', über die konkrete Umsetzung des "Existenzgelds"
zu streiten; wir haben kein "Rechenmodell" ausgearbeitet,
und jedes heute "realistische" Modell hätte mit unseren
Vorstellungen nicht mehr viel gemein. Modelle, die wenigstens kleine
Verbesserungen für die Betroffenen bringen würden - wie
z.B. das des DPWV - , sind besser geeignet, weil "umsetzbarer",
wenn es um die Herstellung eines reformistischen Bündnisses
zur Abwehr der Deregulierungsangriffe geht. Wenn die gesellschaftlichen
Kräfteverhältnisse eine solche Reform erlauben sollten,
werden wir nicht Sturm dagegen laufen, aber auch nicht aufhören,
unsere weitergehenden Ansprüche einzufordern.
Das Wahlergebnis nüchtern betrachtet zeigt,
daß zehn Jahre Deregulierung und Umstrukturierung des Arbeitsmarktes
zusammen mit einer hart individualisierenden Leistungs- und Konsumorientierung
für eine Mehrheit der (wählenden) Bevölkerung in
der BRD bislang immer noch eine Verbesserung ihrer materiellen Lebenssituation
gebracht hat. Ohne Einkommenseinbußen wird es keine radikale
Reform geben, deshalb hat auch die Mehrheit momentan kein materielles
Interesse an radikalen Reformen, und keine Partei wird einer Mehrheit
Einkommenseinbußen versprechen.
Die vor der Wahl veröffentlichten Stellungnahmen
von Professoren, Kirchen, Wohlfahrtsverbände usw. zu Massenarbeitslosigkeit,
Armut und Ausgrenzung müssen denn auch vor allem die Moral
und die Solidarität innigst beschwören, um Gründe
für den Erhalt des Sozialstaates anführen zu können.
Von der potentielle Gefährdung des "sozialen Friedens"
ist dabei viel die Rede. Aber damit ist nicht etwa gemeint, daß
Armut und Ausgrenzung für die Betroffenen bereits das Ende
ihres sozialen Friedens bedeuten, sondern daß die Betroffenen
die anderen dabei stören könnten, sich ihre individuellen
Marktvorteile in Frieden anzueignen. Die Zukunft der gesamten zivilen
Gesellschaft hängt plötzlich am seidenen Faden des Sozialstaates,
als ob nicht Hunger und Elend zum dauerhaft notwendigen Programmteil
im Siegeszug der "zivilen" Marktgesellschaft immer schon,
aber verschärft seit ihrer weltweiten Herrschaft gehörten;
aber zur chauvinistischen Standortideologie (und am Prinzip des
marktwirtschaftlichen Wettbewerbs, der internationalen Konkurrenz
halten sie alle fest) gehört es, daß Leid und Elend erst
wahrgenommen werden, wenn es vor der eigenen Haustür auftaucht
- als lästige Störung des daily buisiness. Im übrigen
kommen auch die wohlmeinendsten Denkschriften nicht ohne Forderungen
nach "Verschlankung" des Sozialstaats und nach "gerechten
Kürzungen" aus.
Kurz: wenn auch die Zahl der von prekärer
Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Armut Betroffenen stark
ansteigt und die Desintegration der Gesellschaft voranschreitet,
so ist die moralische Empörung auf der Seite der Gewinner nur
so stark wie der bewußte Organisationsgrad auf Seiten der
Verlierer noch zu schwach ist, um den notwendigen Druck für
die Durchsetzung radikaler Verbesserungen zu entfalten.
Die versteckte Funktion der Grundsicherungsdebatte
Die Diskussionen um die Einführung einer
"Grundsicherung" haben gewollt oder ungewollt eine objektive
Funktion erfüllt. Sie haben den Zusammenhang von Sozialeinkommen
und Arbeitsplätzen in das Interesse der herrschenden Öffentlichkeit
gerückt. Die Interpretationsmacht der Rechten und ihrer gleichgeschalteten
Medien hat daraus die gängige Parole geschmiedet: Die Höhe
der Sozialeinkommen verhindert, daß ihre BezieherInnen eine
Arbeit aufnehmen!
Die "Umsetzung" der Grundsicherungsdebatte
durch die bestätigte CDU/FDP-Koalition wird daher in der Kürzung
der Sozialhilfe und anderer arbeitsloser Sozialeinkommen und in
der Ausweitung der Arbeitspflicht bestehen, um den Erwerbslosen
die Aufnahme von gering bezahlter Arbeit zu "ermöglichen".
Keine andere Funktion hätte übrigens das "Bürgergeldmodell"
der FDP.
Keine Zeit für radikale Reformen! Aber
höchste Zeit für radikale Opposition!
Unsere Thesen zur Existenzgeldforderung verschaffen
uns Eintritt in die öffentlich-wirksamen Debatten über
Arbeit und Einkommen, und diese Chance sollten wir nutzen, um über
die aktuelle, globale Umstrukturierung der Arbeit und der Arbeitsmärkte
und den Zusammenhang von Sozialeinkommen und prekärer Beschäftigung
aufzuklären und für eine radikale Opposition gegen den
Angriff auf unsere Einkommen zu arbeiten.
Um wirksam in die aktuellen Debatten eingreifen
zu können, müssen aber die Entwicklungen der letzten zwei
bis drei Jahre berücksichtigt und die "13 Thesen"
in einigen Punkten korrigiert werden: es hat sich von Anfang an
eine "Geld- und Auszahlungslastigkeit" der Forderung gegen
die nach radikaler Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung der
Arbeit herausgestellt, wir sind in unserer Einschätzung der
Sozialstaatsentwicklung einem eher statischen Bild der "Zweidrittel-Gesellschaft"
aufgesessen und haben nicht die Dynamik und Radikalität der
(globalen) Umstrukturierung der gesamten Arbeits- und Reproduktionsverhältnisse
im Zuge der aktuellen Krise gesehen.
Die folgenden Überlegungen sollen eine
grobe Skizze der neuen Entwicklungslinien geben, einen aktualisierten
Forderungskatalog vorstellen sowie ein paar konkrete Handlungsmöglichkeiten
für jede Initiative vor Ort aufzeigen.
Die Existenzgeldforderung muß aktualisiert
werden
Ausgangsprämisse ist, daß die Sozialkürzungen
im Zuge des "Solidarpakts" sowie alle folgenden nicht
nur ein Angriff auf Erwerbslose und Ausgegrenzte sind, sondern eine
radikale, historisch grundlegende und globale Umstrukturierung der
Arbeitsbedingungen und Löhne allgemein, ja der gesamten Reproduktionsbedingungen
der kapitalistischen Gesellschaften flankieren. Die konkreten Strategien
zur Krisenbewältigung sollen die Konkurrenzfähigkeit auf
nationaler Ebene verbessern; die Maßnahmen werden aber auf
OECD-Ebene zunehmend gleichgeschaltet: Senkung der Sozialeinkommen,
Schaffung von Billiglohnsektoren zur Mobilisierung der Armutsbevölkerung
und Entgarantierung "normaler" Arbeitsverhältnisse
(vgl. SIESTA Nr.21)
Die aktuelle Verwertungskrise von Kapital
äußert sich auf drei Ebenen:
- ökonomisch, als Strategie zwischen
Einsatz von Maschinen und Ausbeutung der Arbeit
- staatlich, als Intervention zwischen
wachsender Armutsbevölkerung und Mobilisierung von Arbeitskraft
- gesellschaftlich, als Ringen um öffentliche
Interpretationsmacht über Arbeit, Arbeitszeit und Einkommen
1. Die ökonomische Ebene
Der Widerspruch des vergangenen Wachstumszyklus,
absolut steigende Gewinne bei relativ sinkendem Profit , hat bewirkt,
daß Investitionen allgemein, besonders als Produktionserweiterung
in neue Arbeitsplätze, unrentabel geworden sind. Die mittels
neuer Technologien und Massenentlassungen versuchte Reduzierung,
Unterodnung und Ausbeutung lebendiger Arbeit ist gescheitert: trotz
steigender Wertzusammensetzung stagnierte zuletzt die Produktivität
der Arbeit - auch und gerade gemessen als Kosten gesamtgesellschaftlicher
Reproduktion, in die eine forcierte Massenarbeitslosigkeit mit eingerechnet
werden muß. Diese seit Anfang der 80er begonnene Rationalisierungsphase
mit ihrer erneuten Ausweitung der Massenproduktion hat zudem zu
weltweiten Überhängen bei strategisch wichtigen Gütern
wie z.B. Autos und damit zu Absatzschwierigkeiten geführt,
welche Investitionen in die Ausweitung der Produktion zusätzlich
unprofitabel machen. Ablesbar ist diese Tendenz vor allem am Phänomen
des gigantisch wachsenden liquiden Kapitals: allein 800 Mrd.1992
in Deutschland, die nicht real investiert werden, sondern als spekulatives
Kapital in hochmobiler Form weltweit auf produktive Anlagesphären
drängen.
Die Lösungsstrategien der Multinationalen
Konzerne bestehen vor dem Hintergrund dieser Entwicklung deshalb
weniger in einer weiteren Steigerung der Wertzusammensetzung der
Unternehmen durch Rationalisierungsmaßnahmen (Ersatz lebendiger
Arbeit durch Maschinen), sondern in
- Einsparungen bei Rohstoffen und
Arbeitsmitteln (Gentechnik, Biotechnik, künstliche Rohstoffe,
etc.) und
- Verschärfung der Ausbeutungsraten
lebendiger Arbeit (längere Maschinenlaufzeiten, flexible
und längere Arbeitszeiten, Intensivierung der Arbeit bei
weniger Lohn und einer allgemeinen Ausdehnung von Billiglohnsektoren
und prekärer Beschäftigung.
Deshalb werden u.a. Flächentarife aufgelöst,
Sondertarife eingeführt und die Arbeitszeitorganisation auf
die Betriebsebene verlegt (Arbeitszeitkorridore).
Folge diese "Verflüssigung der Arbeit"
(K.-H. Roth) bis in die untersten Segmente der Beschäftigungspyramide
und in die "industrielle Reservearmee" und "überflüssige
Bevölkerung" hinein ist aber nicht eine statischer Spaltung
(Zweidrittel-Gesellschaft/Strukturelle Massenarbeitslosigkeit),
sondern eine Aufsplitterung in viele Arbeitsmärkte mit unterschiedlichsten
Arbeitsbedingungen und eine allgemeine Deregulierung: unsichere
Arbeitsplätze, keine "Normal"arbeitszeiten, Lohnsenkungen,
brüchige Garantien für die Risiken bei Krankheit, Invalidität
und Alter.
In dieser Situation wird von nahezu allen gesellschaftlichen
Kräfte gepredigt: "Arbeit, Arbeit, Arbeit!" Millionenfach
zusätzliche Beschäftigung soll geschaffen werden, ohne
Rücksicht auf Inhalte, Qualität und ökologische Folgen
von noch mehr Arbeit!
Dieser gesellschaftliche Konsens muß
angegriffen werden, weil er die Lösungsstrategien der multinationalen
Konzerne unterstützt: "Arbeit Arbeit Arbeit" meint
nichts anderes als die Ausweitung von prekärer, nichtexistenzsichernder
Beschäftigung in den Randsektoren von Produktion und Dienstleistung,
als Risiko-Selbständige und mit billigem "Serviceangeboten"
(für eine schrumpfende Schicht von vollzeitknüppelnden
"Besserverdienern", die ihr Leben, ihren Konsum, Urlaub
und Kindererziehung schon gar nicht mehr ohne solchen "Service"
organisieren können). "Mehr Beschäftigung" meint
eine Ausweitung der Markt- und Ware-Geld-Beziehung noch in die letzten
Nischen des Lebens.
Daß die Gewerkschaften jetzt wieder auf
prozentuale Lohnerhöhungen setzen, statt den ökonomischen
Spielraum für den Einstieg in eine radikale Arbeitszeitverkürzung
zu nutzen, deutet darauf hin, daß sie in der Hoffnung auf
"sichere Kernbelegschaften" die Perspektive einer gesamtgesellschaftlichen
Veränderung von Arbeits- und Einkommensverhältnissen geopfert
haben. Sollte die Umstrukturierung des gesamten Arbeitsmarktes in
Deutschland ähnlich radikale Formen annehmen, wie bereits in
einigen anderen industrialisierten Staaten, werden sie mit dieser
Politik als Betriebsgemeinschaften untergehen.
Leider liegt auch der Aktionsaufruf der Erwerbsloseninitiativen
zum Weltspartag, wie er von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher
Inis veröffentlicht wurde, genau auf dieser mainstraem-Linie
von "Ausweitung der Beschäftigung".
2. Die staatliche Ebene
Sozialhilfe, Nebeneinkommen, Schwarzarbeit
und Kriminalität sichern bislang - trotz aller Kürzungen
- die Einkommen am unteren Rand der Beschäftigungspyramide.
Die Deregulierungspolitik der 80er Jahre konnte bis heute Arbeitsverhältnisse
mit Löhnen unter der Höhe der Sozialeinkommen nicht massenhaft
durchsetzen. Zudem gerät eine wachsende Schicht der Armutsbevölkerung
außer Kontrolle: ökonomisch durch Schwarzarbeit, Kriminalität,
Drogen; sozial durch Individualisierung, Gettoisierung, aber auch
informelle gesellschaftliche Substrukturen, moralische Ökonomie
und gegenseitige Hilfe.
Gegen diese "Abhängigkeitsfalle"
- durch das vorhandene Sozial- und Steuersystem bringt eine zusätzliche
Arbeitsaufnahme keine nennenswerte Steigerung des Nettoeinkommens
- , wie sie mittlerweile in internationalen Untersuchungen und Programmen
einheitlich genannt wird, soll deshalb ebenso einheitlich vorgegangen
werden:
- mit weiteren sozialen Leistungskürzungen
- um den Druck in prekäre Arbeit zu verschärfen,
- mit staatlicher Arbeitsmarkt- und
Beschäftigungspolitik: "Zweiter Arbeitsmarkt",
Arbeitspflicht und Zwangsarbeit
"Lieber Arbeit finanzieren als Arbeitslosigkeit"
- Arbeit um jeden Preis?
Die Programme staatlicher Arbeitsmarktpolitik
und zur "Ausweitung der Beschäftigung" (vor allem
im Osten Deutschlands mit breiter Beteiligung von Kirchen und Gewerkschaften,
finanziert hauptsächlich auf Kosten der Sozialversicherungen,
deren leere Kassen dann wiederum für Kürzungen im Westen
herhalten mußten) haben in der Vergangenheit gewollt oder
ungewollt Einfallstore zur Deregulierung der gesamten Arbeitsverhältnisse
geschaffen: seien es Beschäftigungsfirmen, AB-Maßnahmen,
[[section]] 249h AFG oder BSHG-[[section]]-19-Stellen - überall
wurden Tarife unterlaufen, schlechtere Extra-Tarife geschaffen und
Arbeits(zeit)bedingungen verschärft. Fast nahtlos finden diese
Sonderbedingungen mittlerweile Eingang in die "offiziellen"
Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfe der Einzelgewerkschaften:
Sondereinstiegstarife für Arbeitslose, betriebsinterne Arbeitszeitregelungen
mit beträchtlichen Mehrarbeitszeiten, Lohnverzicht für
Maßnahmen der "Beschäftigungssicherung" usw.
Während die bestätigte Regierung
den neoliberalen Abbau der öffentlichen Beschäftigungsfinanzierung
forcieren, die prekären Elemente künstlicher Beschäftigung
aber auf die Umstrukturierung des gesamten Arbeitsmarktes übertragen
wird, verkündet die Opposition nach wie vor einmütig die
Parole "Lieber Arbeit finanzieren als Arbeitslosigkeit":
ökosoziales Jahr, staatlich regulierte Arbeitsmärkte,
öffentlich geförderte Beschäftigung - egal was und
unter welchen Bedingungen, Hauptsache (zusätzliche) Arbeit
wird geschaffen!
Die sozialdemokratischen, gewerkschaftlichen
und kirchlichen Programme, die weiterhin auf die "Ausweitung
der Beschäftigung" setzen, sind aber nicht nur vom Standpunkt
der Abwehr jeglicher weiterer Deregulierung der Arbeitsverhältnisse
und einer radikalen Arbeitszeitverkürzung, sondern auch in
ihrer Arbeitsideologie zu kritisieren: sie verweigern den Erwerbslosen
eine von der Arbeitspflicht entkoppelte Grundsicherung, indem sie
stattdessen die Ausweitung der Beschäftigung propagieren, obwohl
sie wissen, daß es in den nächsten Jahrzehnten keine
existenzsichernde Arbeit für alle geben wird. Je klarer ist,
daß die Marktwirtschaft auf absehbare Zeit nicht genügend
sichere Arbeitsverhältnisse schaffen kann, desto ausschließlicher
wird Arbeit als einzige gesellschaftlich anerkannte Einkommensquelle
festgeklopft, und der Druck auf Erwerbslose wird umso höher,
je geringer die Chancen auf gesicherte Arbeitsplätze sind -
"Arbeit um jeden Preis"!
Dem Regierungskonzept, durch weiteren Sozialabbau
(angekündigt: die Kürzung der Sozialhilfe, Befristung
der Arbeitslosenhilfe, etc.) die "Abhängigkeitsfalle"
auszuhebeln, den Druck in prekäre Arbeitsverhältnisse
zu erhöhen und wo nötig mit Zwangsmaßnahmen ("Gemeinschaftsarbeiten",
Sozialhilfe-Zwangsarbeit) nachzuhelfen, steht das Programm der Opposition
zur Ausweitung öffentlich finanzierter Beschäftigung entgegen,
das jedoch in einigen Ausprägungen eine gefährliche Nähe
zu erzwungener Arbeit annimmt (ökosoziales Pflichtjahr).
Beide Modelle ergänzen sich zu dem in
allen OECD-Ländern von höchster Stelle empfohlenen neuen
Umgang mit Massenarbeitslosigkeit und Armut: wir sollen nicht mehr
nur einfach unserem arbeitslosen Schicksal überlassen werden,
womöglich "in Ruhe" unser arbeitsloses Einkommen
abziehen und was wir sonst noch brauchen über gegenseitige
Hilfe und Schwarzarbeit uns organisieren, sondern die gesamte Armutsbevölkerung
soll nicht etwa über Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung,
sondern über ökonomischen Druck und staatliche Maßnahmen
in die neuzuschaffenden Sektoren billiger, prekärer und nichtexistenzsichernder
Arbeit mobilisiert werden.
Schließlich: Weil es "Arbeit für
alle" sowieso nicht geben wird, liegt die (beabsichtigte) Wirkung
der diversen "Umbaukonzepte" darin, von unten Druck auf
das gesamte Lohnsystem zu machen.
3. Die gesellschaftliche Ebene
Im Vergleich zur alten "Zweidrittel-These"
ist eine Dynamisierung der Verhältnisse prognostiziert: von
entgarantierten und ungesicherten Arbeitsverhältnissen werden
immer mehr Beschäftigte betroffen sein. Aber die gesellschaftliche
Macht über den öffentlichen Diskurs bleibt bei einer gesicherten
Minderheit und ihren gleichgeschalteten Medien. Die Frage der Solidarität
stellt sich aus der Perspektive einer hegemonialen Minderheit als
Frage der "Solidarität von oben". Es wird so getan,
als ob nicht unsere Solidarität strapaziert wird gegenüber
den Gewinnern und Opportunisten, sondern die "Solidarität"
der "Besserverdiener", weil sie für uns bezahlen
müssen.
Das heißt aber, auch wenn sich die Proletarisierungstendenzen
auf den gesamten Arbeitsmarkt ausdehnen und materiell neue Mehrheitsverhältnisse
schaffen, werden selbst weniger radikale Reformprojekte als unsere
Existenzgeldforderung vorerst Minderheitenprojekte bleiben. Der
Aufbau einer Abwehrlinie gegen die weiteren geplanten Angriffe auf
unsere Einkommen steht wohl eher auf der Tagesordnung.
Neue Bedingungen - neue Forderungen
Die Existenzgeldforderung allein als Geldforderung,
ohne Eingriff in die Arbeitszeitdebatte, geht mit ihrer tendenziell
geld- und staatsfixierten Konsumorientierung an den aktuellen Widersprüchen
bei der Umstrukturierung von Arbeit und Einkommen vorbei. Wir schlagen
vor, dagegen das Thema der radikalen Arbeitszeitverkürzung
und der Ausweitung prekärer Beschäftigung in den Vordergrund
unserer Forderungen zu stellen:
- Radikale Arbeitszeitverkürzung
und Existenzgeld für alle Menschen sofort!
- Keine Ausweitung prekärer
Arbeitsverhältnisse und überflüssiger Dienstleistungen!
- Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns für alle Beschäftigungsverhältnisse!
- Nicht zusätzliche Arbeit schaffen,
sondern vorhandene Arbeit teilen!
- Nicht Arbeit statt Arbeitslosigkeit,
sondern Arbeitszeitverkürzung finanzieren!
Arbeitszeitverkürzung und Existenzsicherung
in Form eines solchen Forderungskatalogs ist ein reformistisches
Projekt - wir meinen es aber nicht als direkt umsetzbares Modellangebot,
sondern als provokative Intervention in das oppositionelle und gewerkschaftlich
Lager hinein, über die Konsequenzen gegen das marktwirtschaftliche
System insgesamt zu diskutieren, die sich aus dem Anspruch an eine
vernünftige gesellschaftliche Gestaltung von Arbeit und Einkommen
ergeben.
Diskutiert werden muß die Finanzierung
von radikaler Arbeitszeitverkürzung durch Umverteilung gesellschaftlichen
Reichtums als ein bewußter und gewollter Standortnachteil
gegen den zerstörerischen Wahn der Weltmarktkonkurrenz!
Diskutiert werden muß auch die Frage
des Lohnverzichts bei Arbeitszeitverkürzung auf einer Ebene
global gerechter Verhältnisse der einzelnen Gesellschaften
untereinander; dies ist - von unten betrachtet - auch eine Frage
der Egalisierung von Einkommen gegen Spaltung und Ausgrenzung. Kein
Nettoeinkommen über 5.000,- DM: mehr kann niemand arbeiten,
höher kann niemand qualifiziert sein, mehr sollte niemand konsumieren!
Perspektivenwechsel
Aber wir müssen auch unsere eigene nahezu
ausschließliche Orientierung auf Geld und Einkommen zugunsten
einer effektiven Aneignung von Fähigkeiten und Ausbildung (auch
als individuelle Zukunftsperspektive) revidieren. D.h., daß
zur Ebene der öffentlich-programmatischen Kritik an staatlicher
Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik eine kollektiv wie
individuell praktisch mögliche Aneignungshaltung kommen muß.
Vielleicht läßt sie sich folgendermaßen gegenüber
jeglicher selbst gewollter oder von außen oktroyierter Veränderung
von Lebensphasen ausdrücken und in kollektive Kampfmaßnahmen
umsetzen:
- genug Knete bei Arbeitslosigkeit,
- freiwillige und größtmögliche
Auswahl bei Arbeits- und Qualifikationsmöglichkeiten,
- radikale und egalitäre Ansprüche
an möglichst hohes Einkommen bei möglichst geringer
Arbeitszeit und möglichst sinnvollen und guten Arbeitsinhalten.
Es gilt, der Medien- und Ämterhetze gegen
"Sozialschmarotzer" und dem Druck in "Arbeit um jeden
Preis" wieder ein selbstbewußtes Anspruchsdenken entgegenzusetzen:
wir müssen wieder laut und öffentlich die phantasievolle
Ausschöpfung aller Sozialleistungen und ergänzender Einkommensquellen
wie Schwarzarbeit und gegenseitiger Hilfe propagieren und gleichzeitig
an jede Arbeit und Qualifikation den Anspruch stellen, unsere Bedürfnisse
für ein gutes Leben zu erfüllen!
Was können wir tun?
Unsere Aufgabe ist also, aus der Minderheitenposition
heraus eine Opposition auf zweierlei Ebenen aufzubauen: erstens
brauchen wir eine praktisch-theoretische Untersuchungsarbeit über
die Umstrukturierungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt und die Formen
ihrer subjektiven Aneignung - als Selbstaufklärung und diskursiven
Prozeß der Bündnisarbeit mit anderen betroffenen Gruppen.
Zweitens brauchen wir einen Perspektivenwechsel (s.o.) in unserer
praktischen Organisationsarbeit, der uns mit pragmatischeren Aneignungsforderungen
(neben denen nach Existenzgeld und Arbeitszeitverkürzung) wieder
direkter in die Ämter, die Betriebe, die Schulen und Ausbildungsstätten
bringt und Selbstorganisationsprozesse der Betroffenen vorantreiben
hilft.
Jede Initiative kann über Auswertungen
statistischen Materials, Befragungen in der Beratung, in Ämtern
und Betrieben, mit Interviews und eigenen Recherchen und vor allem
in Zusammenarbeit mit kritischen Gewerkschaftern, Kirchengruppen
und anderen Initiativen die Umstrukturierungsprozesse auf dem lokalen
Arbeitsmarkt analysieren, auswerten und öffentlich sowie mit
Betroffenen diskutieren. Jede Initiative kann mit unseren Forderungen,
eigenen Flugblättern, Plakatserien, Zeitungsverkauf und Veranstaltungswerbung
in die Ämter, Betriebe und Schulen gehen, um mit Betroffenen
über "Arbeit und Bedürfnisse" und die ganz pragmatischen
Forderungen für die nächsten Wochen und Monate diskutieren.
Ziel sollte sein, über verstärkt praktische Aneignungskämpfe
für die Verbesserung des Alltags und gleichzeitiger öffentlich
forcierter Debatte um Fragen der Arbeitszeitverkürzung und
Einkommenssicherung in eine gesellschaftliche Offensive für
eine radikale Umorganisation von Arbeit und Bedürfnissen zu
kommen.
Arbeitslosenselbsthilfe O l d e n b u r g
Kaiserstr. 19
D-26122 Oldenburg (Oldenburg)
e-mail: also@also.ol.ni.schule.de
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