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Der Sozialstaat zwischen Globalisierung des Kapitals und moralischer
Ökonomie
Die folgenden Ausführungen sind eine systematische Zusammenfassung
einer längeren Diskussion in der Gruppe Blauer Montag. Sie
sind der Versuch, eine zweijährige themen- und "szenen"-übergreifende
Veranstaltungsreihe zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik inhaltlich
auszuwerten. Die Veranstaltungen (Tarifrunde 1994, Lean Production,
Arbeitsmigration am Beispiel polnischer WanderarbeiterInnen, Zweites
Seeschiffahrtsregister, aktive Arbeitsmarktpolitik und staatlicher
Arbeitsmarkt) sollten zum einen dazu dienen, einen umfassenden und
zusammenhängenden Blick auf die heterogene und widersprüchliche
Klassenrealität in der Bundesrepublik zu entwickeln. Sie sollten
zum anderen dazu dienen, über die unterschiedlichen Teilbereiche
und "Szenen" hinweg (etwa der Betriebs- und Gewerkschaftslinken,
antirassistischer Gruppen oder Resten der Jobber- und Erwerbslosenbewegung)
zu einer gemeinsamen Diskussion zu kommen.
1. Globalisierung und Internationalisierung des Kapitals
Zunächst ist es sinnvoll, einmal festzuhalten, daß die
sog. Globalisierung zumindest unter einem Gesichtspunkt kein so
besonders neues Phänomen ist: Das Kapital als soziales Verhältnis
ist von seiner Grundlage her "beweglich" ("capital
moves", J. Holloway). Diese "Beweglichkeit" resultiert
aus dem grundlegenden Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, aus
dem Bestreben der lebendigen Arbeit, der Ausbeutung "zu entfliehen"
einerseits und dem Bestreben des Kapitals, seinerseits den Restriktionen,
die der Ausbeutung in den Klassen- und anderen Kämpfen auferlegt
werden, zu entkommen. Diese "innere Beweglichkeit" ist
damit auch der Grund dafür, daß das Kapital als Kampfverhältnis
(nicht die personelle Charaktermaske des einzelnen Kapitalisten)
von seiner Basis her international, d.h. ohne nationale Bindung
ist. Begriffe wie "nationales Kapital" oder "nationale
Kapitalfraktionen" sind damit genauso problematisch wie die
Behauptung von Ausbeutungsverhältnissen zwischen "Nationen"
oder "Nationalstaaten".
Ausgangspunkt für die Diskussion um "Globalisierung"
ist damit zunächst einmal die Feststellung, daß es sich
um neue Formen der "Beweglichkeit" des Kapitals als sozialem
Verhältnis handelt. Es geht in erster Linie darum, die Ausbeutungsbedingungen
und damit die Klassenkämpfe neu zu bestimmen und zu organisieren.
In Anlehnung an Holloway: Die Art und Weise, wie das Kapital vor
diesen Kämpfen flieht, wird neu bestimmt. Letztlich geht es
auch bei der jetzigen Globalisierung darum, die Ausbeutungsrate
zu erhöhen und den "Zwang zur Arbeit" durch Deregulierung
und Flexibilisierung und auf möglichst niedrigem Lohnniveau
durchzusetzen. Wenn also von "Globalisierung" gesprochen
wird, sollte von "Lean Production", "Toyotismus"
oder ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen nicht geschwiegen
werden.
In der Diskussion um "Globalisierung" werden verschiedene
Seiten dieses Prozesses unterschieden. Anfang der 70er Jahre unter
dem Stichwort der "Neuen Internationalen Arbeitsteilung"
wurde vor allem ein neuer Internationalisierungsschub des Produktivkapitals
in die Debatte gebracht. Die Produktion wird ausgelagert, neue technologische
Schübe in der Datenverarbeitung, dem Transport, der Lagerhaltung
und der Logistik allgemein ermöglichen eine Zerlegung des Produktionsprozesses,
seine Verteilung und blitzschnelle Umverteilung über den gesamten
Globus. "Global scourcing" und ein über den Erdball
vagabundierendes (Produktions-)Kapital sind die Stichworte für
diesen Prozeß. Bis heute bleibt fraglich und teilweise auch
kontrovers, welche Rolle dieser Prozeß faktisch wirklich spielt,
in welchem Ausmaß Auslagerungen im internationalen Maßstab
überhaupt möglich sind. Allerdings - und das ist eigentlich
wichtiger - gibt es eine Globalisierungsideologie und -propaganda,
die in den Köpfen der Menschen schon viel weiter wirkt als
die bereits vorhandenen internationalen Auslagerungen: Drohungen
mit internationaler Auslagerung reichen oft schon aus, auch wenn
ihre Umsetzung nicht immer realistisch ist.
Ein weiterer Aspekt der Globalisierungsdiskussion im Rahmen (und
außerhalb) unserer Veranstaltungen ist die Internationalisierung
des Arbeitsmarktes. Zugespitzt wird die These eines "Weltmarktes
für Arbeitskraft" formuliert, wie er sich in den internationalen
Migrationsbewegungen ausdrückt. Diese These darf jedoch nicht
zu der falschen Analogie führen, der Weltarbeitsmarkt sei vergleichbar
mit dem Weltmarkt für Kupfer, für Siemensaktien oder für
Devisen. Im Gegensatz zu allen anderen Waren und Dienstleistungen
unterliegt die Ware Arbeitskraft einer ausgeprägten nationalstaatlichen
Regulierung: Ausländergesetze, Grenzregulierungen, Einwanderungsbestimmungen
etc. bilden ein national- und auch supranational abgestimmtes Netz
der selektiven Migrationssteuerung. Im Gegensatz zu anderen Waren
ist der Weltarbeitsmarkt nachwievor in hohem Maße politisch
vermittelt und reguliert. Gerade wenn man davon ausgeht, daß
die Verwertungsbedingungen des global agierenden Kapitals dadurch
verbessert werden, daß nationale Unterschiede in den sozialen
Verhältnissen, Kampfbedingungen, Entlohnungsstrukturen etc.
ausgenutzt werden (vgl. Hirsch), dann kann durchaus bezweifelt werden,
daß es wirklich eine Tendenz zu einem einheitlichen Weltarbeitsmarkt
gibt. Die Vereinheitlichungs- und Nivellierungstendenzen, die ein
solcher Prozeß beinhalten würde, wären am Ende ein
erhebliches Hindernis für die Kapitalverwertung. Es ist von
daher auch kein Zufall, wenn der ehemalige Chef des Instituts der
deutschen Wirtschaft und jetziges Mitglied des Sachverständigenrats,
Juergen B. Donges, im "Handelsblatt" vom 13.6.1996 gegenüber
einer harmonisierten europäischen Sozialpolitik für eine
möglichst lange nationale Tarif- und Sozialpolitik plädiert.
Nichtsdestotrotz können Migrationsbewegungen als eine (gesteuerte)
Internationalisierung des Arbeitsmarktes interpretiert werden.
In den Veranstaltungen zum Zweiten Seeschiffahrtsregister und zu
polnischen WanderarbeiterInnen zeigte es sich, daß diese Tendenzen
von den allermeisten Betriebs- und Gewerkschaftslinken nur als eine
Vergrößerung der industriellen Reservearmee, als Lohnkonkurrenz
und als Bedrohung angesehen wird. Zweifellos haben nicht-deutsche
ArbeiterInnen diese Funktion für die Kapitalisten, und der
Unmut über oder auch Widerstand gegen Lohndrückerei ist
ja völlig legitim und hat erstmal nichts mit Rassismus zu tun.
Es ist von daher seitens antirassistischer Initiativen beschränkt
und falsch, "den deutschen Bauarbeiter" als Rassisten
zu beschimpfen oder die Fahne der "Offenen Grenzen" hochzuhalten,
aber die entstehenden Klassenauseinandersetzungen zu ignorieren
(Laut Junge Welt vom 26.3.1996 fordern US-Kapitalisten und das Wall
Street Journal gegen den nationalistischen Protektionismus eines
Pat Buchanan ganz offen einen Verfassungszusatz "Die Grenzen
sollen offen sein".). Das Problem ist, daß es der Politik
und den Gewerkschaften zunehmend gelingt, diese Konflikte innerhalb
der Klasse in nationalistische Bahnen zu lenken. Selbst die Überlegungen
der Betriebs- und Gewerkschaftslinken auf unseren Veranstaltungen
orientierten eher auf einen verstärkten nationalstaatlichen
Arbeitsmarktprotektionismus, auf nationalstaatliche Regulierung
und Abschottung des nationalen Arbeitsmarktes als auf Versuche,
Kommunikationsstrukturen und praktische Solidarität von unten
in den Betrieben oder auf den Baustellen aufzubauen.
Die entscheidende neue Qualität in den globalen Kapitalbewegungen
stellt der neue Schub an Flexibilität und Geschwindigkeit dar,
mit dem sich das Kapital als Finanzkapital bewegt. Man könnte
sagen, in den weltweiten Finanzmärkten, in der schrankenlosen
und blitzschnellen weltweiten Reaktion von Geld und Kredit auf kleinste
Änderungen der Profitabilität kommt die Beweglichkeit
des Kapitals auf seinen Begriff. Dabei ist die Verflüssigung
des Kapitals seit Beginn der 70er Jahre - von der Krise des Dollars,
dem Ende des Systems von Bretton-Woods über die Herausbildung
der Off-Shore-Finanzmärkte und der sog. "Verschuldungskrise"
bis zum Entstehen des Derivaten- und Terminhandels - im Kern eine
Reaktion auf die Krise der Ausbeutungsbedingungen, mit denen sich
das Kapital seit Ende der 60er Jahre weltweit konfrontiert sieht.
Über diese Bewegungen des Kapitals in seiner Geld- und Kreditform
findet die Herausbildung einer Weltprofitrate statt, die Maßstab
sowohl für alle Formen des Kapitals, insbesondere des Produktionskapitals,
als auch Maßstab für die unterschiedlichen regionalen
Bedingungen der Kapitalverwertung sind.
Aber das Kapital mag noch so schnell und beweglich sein, es kann
dem Zwang, lebendige Arbeit ausbeuten zu müssen, nicht entfliehen
und insofern kann es auch den Klassenkämpfen nicht entfliehen:
In den Finanzzentren der Welt und an den internationalen Börsen
wird kein Mehrwert produziert sondern lediglich Mehrwert umverteilt
und mit tatsächlichen und erwarteten Ausbeutungsverhältnissen
spekuliert. Die Geschwindigkeit, mit der Geld über die Erde
transferiert werden kann, mag seine Bindung von den realen Produktionsbedingungen
gelockert haben, aber letztlich ist die tatsächliche Ausbeutung,
die tatsächliche Produktion von Mehrwert im unmittelbaren Produktionsprozeß
die Basis, die gesichert sein muß. Gelingt die Erhöhung
der Ausbeutungsrate nicht, endet auch die Glitzerwelt des Casino-Kapitalismus
mit einer Bauchlandung.
2. Globalisierung des Kapitals und Nationalstaat
Mit dem neuen Globalisierungsschub des Kapitals verändert
sich das Verhältnis zwischen dem international beweglichen
Kapital einerseits und der regional starren nationalstaatlichen
Wirtschafts- und Sozialpolitik andererseits. Diese grundlegende
Veränderung ist politisch von unmittelbarer Bedeutung. Dies
kommt ganz gut in dem Bild von den kapitalistischen (National-)Staaten
als Stau-Becken im internationalen Fluß des Kapitals (Holloway)
zum Ausdruck. Um in diesem Bild zu bleiben: Die Staaten kontrollieren
nicht den Gesamtdruck, die Fließgeschwindigkeit und das Fließvolumen
des Stroms. Sie können lediglich versuchen, möglichst
viel Wasser auf ihrem Territorium zum binden. Die Bedingungen, unter
denen dem Nationalstaat dieses gelingt, haben sich dramatisch verändert.
Was im sog. "fordistischen Akkumulationsregime" bis zu
Beginn der 70er Jahre als "Binnenmarktorientierung des Kapitals"
oder als "nationale Ökonomie" erschien, beruhte auf
einem Verhältnis von (National-)Staat und Kapital, bei dem
die Profitraten im Produktionsbereich so hoch waren, daß die
flüssige Geldform für die Kapitalbewegung eine relativ
untergeordnete Rolle spielte. Kapital war relativ stabil und "unbeweglich".
Diese relative Stabilität des Kapitals war die Grundlage für
den sog. keynesianischen Klassenkompromiß in allen seinen
Ausformungen auf staatlicher Ebene: keynesianischer Wohlfahrtsstaat,
Integration der Gewerkschaften in den Staat ("Konzertierte
Aktion"), sozialstaatliche Ideologiebildung etc.
Die Verflüssigung des Kapitals in seine Geldform, der Kern
der sog. Globalisierung, hat nun die regionale Unbeweglichkeit und
Stabilität des Kapitals abgelöst und damit die "fordistische"
Bindung von (National-)Staat und "nationalem Kapital"
ausgehöhlt und aufgelöst. Für die (National-)Staaten
ist es ungleich schwieriger geworden, ihre "Stau-Beckenfunktion"
zu erfüllen und Kapital an die jeweilige Region zu binden.
Diese Aushöhlung des traditionellen Verständnisses von
"Nationalstaat" und "nationalem Kapital" ist
der Hintergrund für alle Ideologien vom "Bedeutungsverlust
des Nationalstaats" oder dem "Ende nationaler Wirtschafts-
und Sozialpolitik". Aber diese ideologischen Bilder sind durchaus
einseitig. Der fordistische Nationalstaat transformiert zum "nationalen
Wettbewerbsstaat" (Hirsch). Der Staat hört keineswegs
auf, Versuche zu unternehmen, um Kapital zu binden. Was sich ändert,
sind die Formen, unter denen dies geschieht. Was als Rückzug
des Staates aus den gesellschaftlichen Aufgaben erscheint, ist der
Versuch, die Ausbeutungsbedingungen im unmittelbaren Produktionsprozeß
zu verbessern sowie die Belastungen für das Kapital (Steuern,
technologische Restriktionen etc.) zu verringern.
Worauf der Staat allerdings verzichtet, sind alle Versuche einer
nationalen Einkommenspolitik bzw. einer Sozialpolitik, die die sozialen
Einkommen der Bevölkerung sichert oder ausbaut. Ansprüche
auf soziale Absicherung bzw. der frühere gesellschaftliche
Sozialstaatskonsens werden in der Tat aufgekündigt. Doch der
Staat zieht sich damit keineswegs aus der Sozial- und Wirtschaftspolitik
zurück. Im Gegenteil: In Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik
betreibt er eine höchst aktive Politik der (Sozial-)Lohnsenkung,
Deregulierung und Flexibilisieung, begleitet von verstärkt
repressiven Formen der sozialen Kontrolle Die gesellschaftliche
Polarisierung oder Segmentierung wird immer weniger sozialpolitisch
abgefedert sondern zunehmend durch aggressive Ausgrenzungs- und
Abspaltungspolitiken und -ideologien repressiv kontrolliert. Der
Staat kündigt gewissermaßen die "moralische Ökonomie
des keynesianischen Klassenkompromisses" auf und ersetzt sie
durch eine Politik und Ideologie des "workfare - Staates".
Dieser Rückzug des Staates aus den Verpflichtungen einer "moralischen
Ökonomie des keynesianischen Klassenkompromisses" gilt
dem Kern nach für alle Nationalstaaten unabhängig von
den jeweils konkret unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen
der jeweiligen Regionen. Dies ist auch kein Wunder, denn angesichts
des hochmobilen Kapitalflusses und des Diktats der Profitrate an
den internationalen Finanzmärkten, sehen sich alle Staaten
einem verschärften Zwang ausgesetzt, Kapital in seiner Form
als Produktivkapital durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen
der Mehrwertabpressung zu binden. Alle Staaten befinden sich somit
in einem Wettbewerb der profitabelsten Ausbeutungsbedingungen und
zwar sowohl als Zentralstaaten als auch als Regionen, Gebietskörperschaften
oder Kommunen. Die These vom "nationalen Wettbewerbsstaat"
kann also in die Richtung zugespitzt werden, daß sich "Nationalökonomie"
auflöst und infolge dessen neben den "Nationalstaat"
andere staatliche Instanzen als Akteure mit eigenen Interessen auftreten:
Es entstehen neue und ausdifferenzierte Stau-Becken. Dies ist der
Hintergrund für die frappierende Gleichzeitig und Gleichförmigkeit
des weltweiten "Neo-Liberalismus".
3. Umkämpfter Sozialstaat
Die hier diskutierte Globalisierung des Kapitals stellt den keynesianischen
Sozialstaat und die in ihm geronnene Ausprägung des keynesianischen
Klassenkompromisses in Frage. Unter den Schlagworten der "Kostenreduktion"
und des "Standortwettbewerbs" werden die Ausbeutungsbedingungen
neu organisiert, Sozialeinkommen gekürzt und der Zwang zur
Arbeit verschärft. Gleichzeitig ist dieser "Umbau des
Sozialstaates" - wie die Beispiele Frankreichs und Italiens
zeigen - Anküpfungspunkt von sozialen Konflikten, Kämpfen
und Widerstand.
Die liberale Ideologie von der Machtlosigkeit des Staates angesichts
der globalisierten Märkte trifft auf verschiedene Varianten
einer Nationalstaatsorientierung von unten. Dies reicht von einem
eher hilflosen Pochen auf nationalstaatliche Regulierung, Abschottung
und Protektionismus (z.B. in der Debatte um das Entsendegesetz in
der BRD oder einem neuen Keynesianismus wie in der französischen
Streikbewegung) bis hin zu einer Art "moralischer Ökonomie
des Wohlfahrtstaates" (ebenfalls in der französischen
Streikbewegung oder den Generalstreiks in Italien 1994). Der traditionelle
Sozialstaat bzw. die Sozialstaatsidee ist damit ein mehr oder weniger
heftig umkämpftes Terrain. Die Richtung von Auseinandersetzungen
um den Sozialstaat sind dabei offen und in sich widersprüchlich:
Zum einen kann eine "moralische Ökonomie", ein Festhalten
an tradierten Gerechtigkeitsvorstellungen über Sozialeinkommen
und soziale Sicherung die Basis für heftigen und revoltenhaften
Widerstand sein. Gleichzeitig ist ihr Ausgangspunkt ein konservatives
Moment, nämlich das Festhalten oder Zurückholen "besserer
Zeiten", Zeiten größerer nationalstaatlicher Regulierungsmacht.
Dies ist der Hintergrund für eine (neue) Staatsfixiertheit
mit potentiell nationalistischen und protektionistischen Inhalten,
die gerade angesichts der Globalisierungstendenzen merkwürdig
anachronistisch anmutet. Jedoch sind die Inhalte einer solchen "moralischen
Ökonomie" veränderbar und verändern sich in
realen Kämpfen auch. Es geht also um eine Gradwanderung zwischen
einer Verteidigung der Lebensansprüche der Menschen, der Verteidigung
von Sozialstaatsleistungen und einer gleichzeitigen Überwindung
der erwähnten Staatsfixierung.
Gerade wenn wir die Konflikte um den Sozialstaat mit Kategorien
einer "moralischen Ökonomie" beschreiben wollen,
kommt der Sozialsstaatsidee und ihrer Umwandlung und Umdeutung bzw.
ihrer Verteidigung oder Überwindung in unserem Sinne eine entscheidende
Bedeutung zu. Die Sozialstaatsidee ist Gegenstand eines ideologischen
Klassenkampfes, in dem in der BRD die Linke völlig in der Defensive
ist. Relativ widerstandslos wird im öffentlichen Raum daran
gebastelt, eine ideologische Umdefinition dessen durchzusetzen,
was unter Sozialstaat zu verstehen ist. Im Kern geht es darum: Der
Sozialstaat sei zu teuer. Zum Teil, weil er ineffizient organisiert
sei, zum Teil weil er zu umfassend konzipiert sei und zum Teil,
weil die Leistungen zu ungenau verteilt werden. Darüber hinaus
sei der Zusammenhang zwischen Arbeit und Sozialleistungen zu locker,
es gehe nicht mehr an, daß so viele Menschen mit durchgefüttert
werden, obwohl sie arbeiten könnten. Das Bedarfsdeckungsprinzip
und das Prinzip, daß bei aller Verpflichtung auf Arbeit in
dieser Gesellschaft eine menschenwürdige Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben gesichert werden soll, wird ideologisch geschleift und materiell
abgeschafft. Damit ist der eigentliche Gehalt einer "moralischen
Ökonomie des Wohlfahrtsstaates" aber bereits ausgehöhlt.
Ganz gezielt wird ein gesellschaftlicher Konsens gegen diejenigen
konstruiert, die aus dem Verwertungsprozeß herausfallen. Es
geht auf der Ebene der ideologischen Hegemonie darum, die Legitimität
arbeitsfreier Sozialleistungen zu untergraben. Plötzlich ist
es gerecht, wenn Erwerbslose zur Arbeit verpflichtet werden oder
so wenig Geld erhalten, daß sie in die ungesicherte Beschäftigung
getrieben werden. Gleichzeitig wird "Arbeit" wieder zu
einem Wert an sich, ohne daß noch nach Arbeitsbedingungen,
gesellschaftlichem Sinn von Arbeit, ArbeiterInnenrechten oder gar
Löhnen gefragt werden darf.
In diesem Zusammenhang ist es fraglich, ob sich die Gerechtigkeitsvorstellungen,
die den Kern einer "moralischen Ökonomie des Wohlfahrtsstaates"
ausmachen, dominant an einem Egalitätsprinzip orientiert haben
oder orientieren. Egalitäre Vorstellungen spielen wahrscheinlich
überall mit, aber die These dürfte nicht allzu gewagt
sein,, daß der Sozialstaat in Deutschland nach dem zweiten
Weltkrieg auch ideologisch leistungs- produktivitäts- und arbeitszentriert
gewesen ist und "unproduktive" Menschen nicht unbedingt
mitgemeint hat. Die sich jetzt vollziehende Umdeutung der Sozialstaatsidee
ist damit nicht soweit vom "objektiven Klassenstandpunkt"
der produktiven Arbeit entfernt ist:
Alle Ressourcen/Einnahmen, über die der Staat verfügt,
aus einem Verwertungsprozeß, nämlich aus der Ausbeutung
der Ware Arbeitskraft. Faktisch eignet der Staat sich über
das Steuersystem Teile des Mehrwerts und Teile des Lohns an. In
beiden Fällen ist die letztliche und einzige Quelle der Einnahmen
des Staates die lebendige Arbeit in Form von Mehrwert und variablem
Kapital. Durch die Aneignung und Umverteilung von Mehrwert und Lohnanteilen
sichert der Staat sowohl Teile der Reproduktion der Ware Arbeitskraft
als auch die Reproduktion des gesamten institutionellen Rahmens
der Mehrwertabpressung. Teilweise sichert er die Ausbeutung auch
direkt. Unabhängig davon, wie lohnabhängig Beschäftigte
ihren Lohn wahrnehmen und unabhängig davon, wie in dieser individuellen
Wahrnehmung eine Fetischisierung stattfindet: Es ist der unmittelbare
Produktionsprozeß und die Verausgabung der Arbeitskraft die
Quelle aller staatlichen Einnahmen. Insofern ist es auch richtig,
wenn es heißt, der Staat gebe "unsere Steuergelder"
aus oder, noch überspitzter, der Staat sei im Kern "die
Gemeinschaft der Steuerzahler".
Das richtige Bewußtsein über die lebendige Arbeit als
Quelle und Basis des Staatshaushalts ist die Grundlage vielfältiger
Ideologien (inklusive der meisten Vorstellungen, die in der historischen
Arbeiterbewegung zum Staat entstanden sind), die eines gemeinsam
haben: Der Staat als Staat der (produktiven) Arbeit. In welcher
Variante auch immer bergen diese Ideologien immer das Potential
der Abspaltung unproduktiver, nicht verwertbarer Teile aus der Gesellschaft
in sich. Die gegenwärtige Umdeutung des Sozialstaatsprinzips
als ideologischer Angriff kann damit an Bewußtseinsstrukturen
ansetzen, die richtigerweise in der lebendigen Arbeit die Quelle
der Staatstätigkeit sehen. Die beabsichtigte Spaltung ist nicht
unabwendbar und notwendigerweise erfolgreich. Ein solcher Erfolg
der Herrschenden ist aber auch nicht durch die Klassenlage des Proletariats
gewissermaßen logisch ausgeschlossen.
Daraus folgt, daß sich eine ideologische Gegenposition zu
diesen Spaltungsversuchen nur entwickeln läßt, wenn man
den Standpunkt der verwertbaren Arbeit und der Reproduktion der
Ware Arbeitskraft verläßt. Es ist daher nachwievor richtig,
eher auf sowas wie ein Naturrecht eines jeden Menschen auf einen
eine menschenwürdige Existenz sichernden Bedarf zu orientieren,
unabhängig davon, ob jemand dem Arbeitsmarkt zur Verfügung
steht, unabhängig vom Geschlecht und der Hautfarbe etc. Eine
solche Position weist deutlich über die Betriebsorientierung
sowohl des Gewerkschaftsapparats als auch der verbliebenen Gewerkschafts-
und Betriebslinken hinaus, die angesichts der aktuellen Angriffe
auf die Sozialeinkommen über die Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung,
Mindestlöhnen oder die Verteidigung der Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall nicht hinauskommen. Ein umfassender Begriff von sozialer
Sicherung und Existenzrecht weist auf ein Leben jenseits des Betriebs
und der Arbeit hin. Für die Entwicklung solcher Vorstellungen
werden vermutlich Bewegungen außerhalb der Betriebe und aus
den Betrieben hinaus von wachsender Bedeutung sein. So haben etwa
für die Inhalte der Streikbewegung in Frankreich, die eigenständigen
Kämpfe und Bewegungen der SchülerInnen, Jugendlichen und
MigrantInnen eine erhebliche Rolle gespielt. Um nicht mißverstanden
zu werden: Es geht nicht um ein "anstatt". Ohne Kämpfe
in den Betrieben sind Bewegungen von Erwerbslosen, Prekarisierten
und Marginalisierten ohne Perspektive. Dies gilt jedoch umgekehrt
auch.
4. Krise der Gewerkschaften und der Klassenlinken
Solche Kämpfe und Bewegungen lassen sich nicht voluntaristisch
als Kopfgeburten konstruieren. Aber wir denken, daß es auch
im Gebälk der bundesdeutschen Klassenbeziehungen heftig knirscht.
In aller Widersprüchlichkeit sind der Sozialstaat und die traditionellen
Institutionen des keynesianischen Klassenkompromisses auch in der
Bundesrepublik zum umkämpften Terrain geworden. Dabei stoßen
als Reflex der Krise des keynesianischen Sozialstaats die traditionellen
gewerkschaftlichen Vermittlungsformen zunehmend an ihre Grenzen:
In dem Maße, wie Beschäftigungsverhältnisse heterogener
werden und das "Normalarbeitsverhältnis" als gesellschaftliche
Norm zunehmend aufgelöst wird, verlieren die Gewerkschaften
ihre Fähigkeit, zumindest ideologisch die ökonomischen
Interessen aller VerkäuferInnen der Ware Arbeitskraft zu vertreten.
In ihrer Orientierung auf die Stamm- und Kernbelegschaften der Großbetriebe
haben sich die Gewerkschaften von quantitativ immer bedeutungsvolleren
Teilen der Klasse verabschiedet. Sie sind damit nicht nur anfällig
für die Reproduktion vielfältiger Spaltungslinien, sondern
sie agieren auf ihrem ureigensten Terrain der Tarifauseinandersetzungen
immer hilf- und zahnloser.
Als Sozial- und Tarifpartner zunehmend bedeutungslos und bei der
eigenen Mitgliedschaft unglaubwürdig werden die Gewerkschaften
auf ihre Kontrollfunktion über die Klasse reduziert. Aber selbst
für diese Funktion bleibt die Fähigkeit zu Massenmobilisierung
ihr einziger Faustpfand. Die jüngsten Aktionen des DGB gegen
das Bonner Sparpaket offenbarten die Hilflosigkeit der Gewerkschaften
in aller Klarheit: Ihre Fähigkeit, ein Ventil für wachsende
Unzufriedenheit anzubieten und damit den "sozialen Frieden"
zu garantieren wird gezielt eingesetzt, um sich für zukünftige
Kanzlerrunden wieder ins Spiel zu bringen. Die Hoffnungen mancher
Betriebs- und Gewerkschaftslinken auf einen neuen radikalen Reformismus
der deutschen Gewerkschaften (wie z.B. in dem Papier "Gegen
die Konkurrenz- und Standortlogik und gegen ihre Akzeptanz durch
die Gewerkschaften", mit dem im letzten Jahr versucht wurde,
eine neue strategische Diskussion in linken Betriebs- und Gewerkschaftskreisen
zu initiieren) scheint uns vor diesem Hintergrund in hohem Maße
trügerisch.
Die Krise der gewerkschaftlichen Vermittlung und die Hilflosigkeit
des DGB wird nun aber keineswegs vom Erstarken einer gewerkschaftsunabhängigen
Klassenbewegung begleitet. Vielmehr ist die klassenorientierte Linke
in und außerhalb der Betriebe von einer ähnlichen Hilflosigkeit
erfaßt wie die Gewerkschaften. Um nicht lediglich in der Position
der kritischen Rechthaberei zu verharren, möchten wir zum Schluß
zumindestens andeuten, wo unserer Meinung einige der zentralen Probleme
liegen und in welcher Richtung wir nach Möglichkeiten strategischen
und praktischen Handlungsansätzen zur Überwindung dieser
Hilflosigkeit suchen.
Die Betriebs- und Gewerkschaftslinke scheint derselben Orientierung
auf Großbetriebe zu folgen wie die Gewerkschaften als ganzes
auch. Dafür gibt es aus dem politischen Alltag heraus auch
gute Gründe: I.d.R. gibt es in diesen Betrieben zumindest Reste
von Strukturen und Vertretungsorganen, die ein politisches Abarbeiten
am betrieblichen Alltag erleichtern. Darüber hinaus stehen
auch diese GenossInnen mit dem Rücken zur Wand und müssen
als Betriebs- oder Personalräte natürlich erstmal mit
der Umorganisation der Ausbeutung in "ihrem" Betrieb umgehen.
Wir glauben aber, daß diese Betriebsorientierung mittlerweile
zu einer Fußangel wird:
Zum einen bedeutet Neuorganisation der Ausbeutung nicht nur verschärfte
Angriffe auf betriebliche Kernbelegschaften sondern vor allem auch
eine Neuzusammensetzung der Klasse durch "Verringerung der
Fertigungstiefe", Auslagerungen, Subcontracting, Produktionsverlagerungen
etc. Die in steigendem Maße prekär, halblegal oder illegal
Beschäftigten in den Zuliefererklitschen, Subunternehmen oder
Handwerksbetrieben fallen aber aus dem Blickfeld der Organisations-
und Mobilisierungsbemühungen sowohl der Gewerkschaften als
auch der Betriebs- und Gewerkschaftslinken heraus, obwohl die Möglichkeiten,
sich politisch im Betrieb zu bewegen hier deutlich schlechter sind.
U.E. wird es immer wichtiger, Kommunikationsstrukturen zu organisieren,
mit denen sowohl die unterschiedliche Realitäten in den verschiedenen
Betrieben und Beschäftigungsverhältnissen als auch in
den Maßnahmen des Zweiten Arbeitsmarktes oder die Umgehensweisen
mit Arbeits- und Sozialämtern gemeinsam diskutierbar werden,
so daß überhaupt eine Basis für sich aufeinander
beziehende Kämpfe in den unterschiedlichen Segmenten der Ausbeutung
entstehen kann.
Zum zweiten besteht die Gefahr, daß auch die Betriebs- und
Gewerkschaftslinke die laufende Neukonzeption des Sozialstaats nur
durch eine betriebliche Brille wahrnimmt, sich dazu gar nicht verhält
oder sich auf Aspekte wie Lohnfortzahlung oder Kündigungsschutz
zu konzentriert. Es ist verblüffend, wie wenig das gesamte
Ausmaß der Angriffe, die in den letzten Jahren auf die Gesundheits-
und Altersversorgung, auf die Arbeitslosenversicherung oder auf
die Sozialhilfe durchgeführt worden sind, bekannt ist. Wir
denken, daß es darauf ankommt, einen umfassenderen Begriff
von sozialem Einkommen zu entwickeln und diesen sowohl bei innerbetrieblichen
Abwehrkämpfen als auch außerhalb zum Thema zu machen.
Auch in diesem Sinne halten wir einen Blick über die betriebliche
Wirklichkeit hinaus für unabdingbar
Gruppe Blauer Montag, Hamburg, Juni 1996
Literatur:
Holloway, John: "Reform des Staats: Globales Kapital und nationaler
Staat", PROKLA, Nr. 90, März 1993
Holloway, John: "Capital Moves", Capital and Class, Nr.
57, Autumn 1995
Hirsch, Joachim: "Der nationale Wettbewerbsstaat", Edition
ID-Archiv, Berlin/Amsterdam 1995
Wir benutzen den Begriff der "moralischen
Ökonomie" in lockerer, aber bewußter Analagie zu
E.P.Thompsons Begriff der "moral economy". Thompson beschreibt
damit ein tradiertes Werte- und Normensystem von (proletarisierten)
Handwerkern und Bauern, das gegen Ende des 18. Und zu Beginn des
19. Jahrhunderts mit den Leistungsnormen und -anforderungen des
aufkommenden Industriekapitalismus kollidierte und zu heftigen Revolten
und Erhebungen geführt hat. zurück.
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