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Gegen die Hierarchisierung des Elends
Überlegungen zu Prekarisierung, Existenzgeld und Arbeitszeitverkürzung
Der Hintergrund für das folgende Papier sind zwei unterschiedliche
Diskussionsstränge in ebenfalls jeweils unterschiedlichen Zusammenhängen.
Zum einen wird die Prekarisierungsdiskussion aufgegriffen, wie sie
in Teilen der Betriebs- und Gewerkschaftslinken geführt wird.
So haben wir uns etwa seit dem Frühjahr diesen Jahres an entsprechenden
Debatten im Rahmen der TIE/Express-Treffen beteiligt. Schwerpunkt
dieser Diskussion ist das Verhältnis der "atypischen"
oder prekären Formen von Arbeit und Existenzsicherung zum sog.
"Normalarbeitsverhältnis". Bei der damit verbundenen
Debatte um Kampfmöglichkeiten und Kampforientierungen muß
sich diese Diskussionen mit linkssozialdemokratischen Vorschlägen
aus Gewerkschaften und Parteien auseinandersetzen, die angesichts
zunehmender und unübersehbarer Lücken tariflicher und
betrieblicher Regulierungsmöglichkeiten auf eine neue, staatlich
organisierte Regulierung von Arbeitsbedingungen und Existenzsicherung
setzen. Der zweite Diskussionsstrang, der in dieses Papier eingegangen
ist, bezieht sich auf unsere Auseinandersetzung mit den Forderungen
nach Existenzgeld und Arbeitszeitverkürzung. Hier war der unmittelbare
Anlaß ein Debattenvorschlag der Gruppe F.e.l.S aus Berlin,
die damit alte Diskussionen der gewerkschaftsunabhängigen Erwerbslosenbewegung
aufgegriffen hat und mit dieser Orientierung für einen größeren
internationalen Kongreß zur Krise der Arbeitsgesellschaft
in Berlin mobilisiert.
Wir haben lange überlegt, ob wir zwei getrennte Papiere veröffentlichen
sollten, die sich dann deutlich auf die jeweiligen Diskussionszusammenhänge
bezogen hätten. Letztlich haben wir uns aber doch zu dem Versuch
entschlossen, beide Diskussionen, die in unseren Augen zusammengehören,
auch zusammenzuführen; daher ein zusammenhängender Text.
Gleichzeitig haben wir uns im Laufe der Diskussion von den unmittelbaren
"Vorlagen" entfernt und legen hiermit einen allgemeineren
Diskussionsbeitrag vor, mit dem wir in diese laufenden Auseinandersetzungen
eingreifen wollen. Im ersten Teil gehen wir auf die Debatte um prekäre
Beschäftigungsverhältnisse ein. Unsere These ist dabei
die, daß es bei der Prekarisierung letztlich um eine allgemeine
Neudefinition dessen geht, was heute "normale" Arbeit
ist. Im zweiten Teil stellen wir die Verbindung zu der Debatte um
Existenzgeld und Arbeitszeitverkürzung her. Beide Forderungen
werden dabei nicht zu einer wirklich gemeinsamen Klammer der Kämpfe
von (prekär) Beschäftigten und Erwerbslosen führen,
so lange sie nur als Forderungen nach gesetzlichen Maßnahmen
verstanden werden. Das ändert sich dann, wenn diese Forderungen
in jeweils unterschiedlicher Form die Weigerung transportieren,
das eigene Leben bedingungslos den Anforderungen "der Arbeit"
zu unterwerfen.
I. Prekarisierung -
Überlegungen zu einer prekären Debatte
Kampf um das "Normalarbeitsverhältnis"
Die Prekarisierungsdiskussion krankt an der Unschärfe des
Begriffs, und die Unklarheiten nehmen noch zu, weil Sinn und Zweck
der Debatte nicht deutlich werden. Ganz zu schweigen von den politischen
Schlußfolgerungen, den Handlungsorientierungen. Um es gleich
vorweg zu sagen: Es macht keinen Sinn, Prekarisierung oder Prekarität
als Begriff anzuwenden, um eine bestimmte Gruppe, Schicht oder gar
Fraktion der Lohnabhängigen definieren zu können. Es gibt
keinen "positiven" Begriff von Prekarisierung, er macht
nur Sinn im Verhältnis zum sogenannten Normalarbeitsverhältnis.
Deshalb bevorzugen ja auch andere - wie etwa Karl Heinz Roth - den
Begriff der "atypischen" Beschäftigungsverhältnisse.
Was aber ist nun "Norm" bzw. "typisch"?
Auch auf die Gefahr hin, dogmatisch-abstrakt zu erscheinen, wollen
wir zunächst etwas Grundsätzliches hervorheben: Es gibt
im Kapitalismus prinzipiell keine garantierten Beschäftigungsverhältnisse.
Das einzige, was wirklich garantiert bleibt, solange das Kapital
durch Klassenherrschaft existiert, ist die Lohnabhängigkeit
(nicht bloß von Einzelpersonen, sondern von privaten Haushalten).
Und die Grundform dieser Lohnabhängigkeit ist prekär.
Im älteren Wortschatz hieß dies einmal: "Proletarität",
die garantierte Unsicherheit der Lebensbedingungen. Was wir Normalarbeitsverhältnis
nennen, ist keine Norm kapitalistischer Reproduktion im allgemeinen
Sinne - auch historisch galt diese Norm weltweit ja nie -, sondern
ein historisches Verhältnis, geronnen in dem, was neuerdings
"fordistischer Klassenkompromiß" genannt wird. Dieser
Klassenkompromiß war kein Handel zwischen Gleichen, er ging
vielmehr aus Klassenkämpfen hervor und beruhte, wenn auch vermittelt
in vielen Formen von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, auf
einem permanenten Klassenkonflikt. Im Kern enthielt dieser Kompromiß
einen Deal mit wechselseitigen "Garantien". Dieser Deal
beinhaltete einerseits einen störungsfreien Ablauf der Produktion,
was ein erhebliches Ausmaß an Regulierung und Kontrolle der
Arbeitskraft nach sich zog. Dafür war insbesondere die institutionelle
Arbeiterbewegung (Gewerkschaften, Betriebsräte, Linksparteien)
mit zuständig. Andererseits handelte sich diese Arbeiterbewegung
dafür einen relativen Massenwohlstand, auch als Massenwohlfahrt
in Sozialstaatssystemen, ein.
Dieser Klassenkompromiß, und damit auch das historische Normalarbeitsverhältnis,
ist nicht nur von oben aufgekündigt worden. Spätestens
Ende der 60er Jahre zeigten sich Blockaden, Störungen im Produktionsprozeß
- teils durch offene Revolten in den Fabriken, teils durch stille
Renitenz; jedenfalls ein deutliches Bewußtsein von der eigenen
Macht in der Produktion und ein starkes Bedürfnis, gegen den
Arbeitsdruck und die Arbeitsbedingungen vorzugehen. Die Widerständigkeiten
gegen die Bedingungen der Produktion bedeuteten natürlich nicht,
daß Ansprüche auf staatliche Transferleistungen aufgegeben
worden wären. Sie bedeuteten auch keine bewußte Ablehnung
des gesamten fordistischen Modells. Dennoch kollidierte die Ablehnung
der spezifischen Produktionsform sofort mit diesem Modell kapitalistischer
Vergesellschaftung, seine Grenzen waren damit gesetzt. Daraufhin
begannen in den 70ern die Angriffe der herrschenden Klassen, mit
denen ein neues Ausbeutungsmodell mit höheren Ausbeutungsraten
durchgesetzt werden sollte. Diese Angriffe wurden in den 80ern wesentlich
intensiviert und von den konservativen Regierungen weitergeführt.
In Ländern mit einer stark entwickelten Arbeiterbewegung und
entsprechenden Machtpositionen in Betrieb und Gesellschaft ging
das nur in heftigen Brüchen, schweren Kämpfen vor sich
- extrem etwa in Großbritannien. In der BRD vollzog sich dieser
Prozeß eher schritt- und scheibchenweise, bis etwa Anfang
der 90er Jahre. Prekarisierung, wie sie schon damals diskutiert
wurde, bedeutet: Mit Hilfe von Deregulierung der Arbeitsmärkte
und Entrechtung der Lohnabhängigen einerseits und einem erheblichen
Druck auf die Sozialleistungen andererseits wird der Zwang zur Arbeit
verschärft durchgesetzt.
Schon seit Anfang der 80er Jahre gibt es eine Debatte über
Prekarisierung. Nur hat sie erst in den vergangenen Jahren an Breite
gewonnen. Das beruht offensichtlich auf der beschleunigten Ausweitung
prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Aber wenn diese
ins Verhältnis zum Normalarbeitsverhältnis gesetzt werden,
dann fällt schnell auf, daß die Prekarisierungsdebatte
in demselben Maße zunimmt, wie der Begriff Prekarisierung
an Trennschärfe verliert. Die Trennschärfe schien Anfang
der 80er Jahre noch gegeben, als sich recht deutlich voneinander
unterscheidbare Gruppen ausmachen ließen, damals insbesondere
durch die Unterscheidung zwischen Rand- und Stammbelegschaften.
Fast alle Statistiken von prekären Beschäftigungsverhältnissen
orientieren sich an dieser Unterscheidung. Wie wenig Trennschärfe
jedoch heute noch gegeben ist, sieht man an der Einordnung von Teilzeitkräften
als prekäre Verhältnisse (in einigen Statistiken) und
ihrer Auslassung (in anderen Statistiken). Gleiches gilt für
die Erfassung von tarifierten Bereichen. Kann jemand genau erfassen,
wieweit sich Tarifpraxis und Tariflosigkeit in vielen Einzelfällen
noch voneinander unterscheiden?
Die Schwierigkeit, den Prekarisierungsbegriff zur Analyse von unterscheidbaren
sozialen Gruppen anzuwenden, deutet auf das Ausmaß hin, mit
dem Prekarisierung als Tendenz schon fortgeschritten ist. In dem
Zusammenhang, wie hier Prekarisierung im Verhältnis zum historischen
Normalarbeitsverhältnis bestimmt wurde, ergibt sich daraus
eine erste, grundsätzliche Schlußfolgerung: Prekarisierung
ist nicht (nur) die Schaffung von Sonderverhältnissen neben
einem unberührten Normalarbeitsverhältnis, sondern gehört
zu jenen Prozessen, die zusammengenommen historisch neu definieren,
was als Norm für Arbeitsverhältnisse zu gelten hat. In
jedem Fall handelt es sich also um ein Kampfverhältnis, etwas,
das weder statisch in Tabellen einzufrieren noch als schematisches
Szenario in die Zukunft hinein zu verlängern ist. Und es handelt
sich um ein Kampfverhältnis, das in jedem Fall den gesamten
Zusammenhang der lohnabhängigen Klasse, das gesamte Klassenverhältnis
betrifft. Wohlgemerkt, das gilt für die historische Analyse,
es ist aber schon ein Hinweis darauf, daß der Schlüssel
für den Kampf gegen die Prekarisierung weder allein in dem
einen noch in dem anderen Sektor der Klasse zu finden ist.
Re-Regulierung oder De-Regulierung?
Natürlich bleibt die Ungleichheit zwischen den Lebensbedingungen,
vor allem aber zwischen den Kampfbedingungen der verschiedenen Sektoren
der Klasse enorm. Nur ist dies kein Beleg dafür, daß
zwischen Prekarisierung und Normalarbeitsverhältnis klar zu
trennen wäre. Die Ungleichheit ist nämlich Voraussetzung
dafür, daß sich die sogenannten typischen Arbeitsverhältnisse
den atypischen angleichen, die prekären Arbeitsverhältnisse
also zur Norm werden. Dies wiederum ist Voraussetzung dafür,
daß dann Menschen in noch miesere Arbeitsbedingungen getrieben
werden. Wie weit diese Schraube bereits angezogen worden ist, kann
an der Erosion der kollektivvertraglichen Regulierung, der Tarifpolitik
und der kaum noch zu erkundenden Grauzone von Tarifpraxis abgelesen
werden.
Nun bietet diese Entwicklung zwar allerhand Stoff für dunkle
Szenarien, aber es ist auch Vorsicht angesagt, was derartige Horrorprognosen
betrifft. Einmal abgesehen davon, daß die Auflösung des
bisherigen Normalverhältnisses noch keineswegs vollständig
vollzogen ist, bleibt auch fraglich, ob eine totale Deregulierung
wirklich im Interesse der herrschenden Klasse liegt. Ein völliges
Tabula rasa in der Tarifpolitik und den arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen
bedeutet ja zugleich einen erheblichen Kontrollverlust über
die Arbeitskraft. Regulierung oder Re-Regulierung heißt daher
immer auch Kontrollgewinn über die Arbeitskraft, Rückkehr
zum organisierten Pakt für eine störungsfreie Produktion.
Es gibt schon heute einige Erfahrungen damit, daß bereits
erste Anzeichen eines ernsthaften Widerstandes zu schnellen Regulierungsangeboten
seitens der Unternehmer führen können. Auf der anderen
Seite hat sich auch die Sichtweise seitens der Gewerkschaften ein
wenig verändert. Deren Politik konnte man bis vor einigen Jahren
- und heute noch überwiegend - so charakterisieren: der Prekarisierung
widerstehen, um die Kontrollmöglichkeiten im Betrieb zu behalten.
Was aber nicht hieß, Prekarisierte in Richtung auf kollektive
Kämpfe zu organisieren, sondern sich in den Betrieben gegen
die Bedrohung von außen zu verbarrikadieren. Die Wirklichkeit
hat diesen hartnäckigen Widerstand zur Bestandssicherung der
Stammbelegschaften mehr und mehr ins Leere gehen lassen. Sicher
dominiert diese Haltung noch innerhalb der Gewerkschaften, aber
die plötzliche Bereitschaft zur Debatte über Prekarisierung
ist letztlich der Erfahrung zu verdanken, daß die Staumauern
zwischen Rand- und Stammbelegschaften zwar noch nicht eingebrochen,
aber bereits kräftig unterspült worden sind.
In den Gewerkschaften wird sehr wohl gesehen, daß der Bereich,
der tarifpolitisch nicht abgedeckt wird, immer größer
wird. Auch der Druck auf die Sozialleistungen kann im tarifierten
Bereich kaum noch aufgefangen und durch Tarifvereinbarungen ausgeglichen
werden. Diese Lücke kann nach der Logik gewerkschaftlicher
Politik - und auch nach der Logik etwa maßgeblicher PDS-PolitikerInnen
- nur durch eine arbeitsmarkt- und sozialpolitische Gesetzgebung
gefüllt werden. Grundsicherung, gesetzliche Arbeitszeitregelungen,
Mindestlohn usw. - dies alles sind Stichworte für eine Re-Regulierungspolitik.
Nun wird niemand etwas gegen eine Verbesserung der gesetzlichen
Regelungen haben, - es ist ja nicht alles reformistisches Teufelswerk,
was das Leben besser macht. Aber hier drücken sich Gewerkschaften
und linke Sozialpolitiker nur gleichermaßen um das Problem:
Denn was können die parlamentarischen Sozialpolitiker schon
im Gesetzeswerk bewegen, wenn es keine außerparlamentarische
soziale Mobilisierung, also Kämpfe gibt?
Wenn es stimmt, daß Prekarisierung der Angriff auf und der
Kampf um die Norm der Arbeitsverhältnisse ist, dann läßt
sich jetzt schon sagen, daß eine Re-Regulierung von staatswegen
nur auf dem Niveau stattfinden wird, das entweder kämpfend
oder eben kampflos erreicht wurde. Würde sich die herrschende
Klasse auf dem heutigen Stand auf eine Neuregulierung einlassen,
käme exakt das dabei heraus, was zum Beispiel in Großbritannien
unter New Labour geschieht und möglicherweise in der BRD unter
Schröders Rot-Kohl auch ansteht: Einfrieren des Status quo
und damit Festschreibung aller bisherigen Angriffe des Kapitals
und Niederlagen des marginal gebliebenen sozialen Widerstandes.
Arbeit, Einkommen und die Hierarchie des Elends
Alles deutet darauf hin, daß die absolute Arbeitszeit ausgeweitet
wird, daß die Menschen immer mehr Zeit mit (Lohn-)Arbeit verbringen.
Nicht nur der Blick auf das "amerikanische Jobwunder"
zeigt, daß die Forderung nach "Vollbeschäftigung"
z.Z. auf unheimliche Weise erfüllt wird. Auf ähnlich unheimliche
Art und Weise verwirklicht sich damit auch die alte radikale Forderung
nach einer Entkoppelung von Arbeit/Produktivität und Einkommen:
Früher hieß es "Mehr Lohn, weniger Arbeit".
Existenzsichernde und menschenwürdige Einkommen sollten unabhängig
von der Arbeitsleistung sein. Heute hingegen werden für immer
niedrigere Löhne immer längere Arbeitszeiten und immer
schlechtere Arbeitsbedingungen akzeptiert. Hier hat nicht nur die
Erwerbslosigkeit an sich, sondern insbesondere die Durchsetzung
prekärer Beschäftigungsverhältnisse - mit den darin
typischen hohen Ausbeutungsraten - schon Maßstäbe gesetzt.
Wenn heute ArbeiterInnen einer Arbeitszeitverlängerung zustimmen,
weil sie so ihr Einkommen in der gewohnten Höhe behalten, dann
kommt das einem totalen Zusammenbruch an gewerkschaftlichem Bewußtsein
gleich - wohlgemerkt, ein ganz normales Lohnabhängigenbewußtsein
im Kapitalismus! Sich im Widerstand gegen Prekarisierung des Normalarbeitsverhältnisses
auf das soziale Masseneinkommen zu reduzieren, ohne zugleich die
Arbeitsbedingungen - Arbeitszeit und Intenstität der Arbeit
- zu thematisieren, ist fahrlässig; und zwar deshalb, weil
dann nur noch der Schein von sozialer Gerechtigkeit aufrecht erhalten
wird, während der wirkliche Erfolg der neoliberalen Politik
unangetastet bleibt: daß Arbeit immer billiger wird.
Wer kämpft mit wem und gegen wen? Es gibt eine fatale Schere
im Massenbewußtsein: auf der einen Seite die Tendenz zur entwürdigenden
Haltung "Nehme jede Arbeit an"; auf der anderen Seite
das Bewußtsein einer konservativen Besitzstandswahrung - bei
Beschäftigten, die das Recht auf kollektivvertraglichen Schutz
zum Privileg umwandeln. Ein Recht kann zum Privileg verwandelt werden,
wenn seine Allgemeingültigkeit in Frage gestellt wird (Wir
erinnern hier nur an die heftigen Widerstände gegen Illegale
statt gegen Illegalisierung). Verstärkt werden diese Fronten
im Massenbewußtsein durch eine Hierarchisierung des Elends,
worin leider Linke die größten Meister sind. Argumentationsmuster
wie "Euch geht's ja noch gut, ihr profitiert vom Elend der
Armen und Entrechteten" reproduzieren bei den fest Beschäftigten
nur das Bewußtsein vom Glück und Privileg: "Warum
soll ich noch kämpfen, wenn es anderen doch noch viel schlechter
geht?"
Es gibt aber auch die Möglichkeit der Umkehrung: vom Privileg
zum Recht. Das bedeutet, den Kampf für sich zugleich für
alle zu führen. Und wenn es etwas gibt, das die vielzitierten
und häufig mystifizierten Erfahrungen in Frankreich zu Lehren
für uns werden läßt, dann ist es diese Öffnung.
Es gäbe kaum eine derartig wirksame Bewegung von Prekären
und Erwerbslosen in Frankreich, wenn nicht zuvor eine allgemeine
soziale Bewegung aus dem Kampf eines - durchaus "privilegierten"
- Sektors des traditionellen Kern der Lohnabhängigen hervorgegangen
wäre. Am Anfang stand die Orientierung: "Was wir für
uns tun, tun wir für alle!" Mittlerweile heißt es
schon häufiger: "Nichts für uns, alles für alle!"
Solidarität und Ausgrenzung bestimmen sich nicht danach, wer
wo in der Hierarchie des Elends steht, sondern danach, ob und wofür
gekämpft wird. Ein Kampf gegen illegale Beschäftigungsverhältnisse
der von "Legalen" für und mit "Illegalen"
geführt wird, ist richtig und notwendig. Umgekehrt kann ein
Kampf für allgemeine Rechte nicht deshalb aufhören, weil
prekär Beschäftigte - zum Beispiel während eines
Streiks - ihrer Arbeitsmöglichkeiten beraubt werden; als Streikbrecher
wären sie "Schmutzkonkurrenz". Wenn aber Festbeschäftigte
sich um ihren Betriebsrat und die Gewerkschaft scharen, um sich
die Prekären mit Hilfe der institutionellen Politik ausgrenzend
vom Hals zu halten, sind diese Festbeschäftigten selbst die
Schmutzkonkurrenz.
Bewegung nur auf dem Papier?
Alle für sich und niemand für alle, so sieht es im Moment
aus. Selbst wenn wir jetzt, noch immer stark vermittelt über
die institutionelle Gewerkschaftspolitik, Erfahrungen mit Erwerbslosenaktionen
gewonnen haben, hat sich an der Selbstbezogenheit von Teilbereichsinitiativen
sehr wenig geändert. Natürlich ist es eine neue und positive
Erfahrung, wenn Erwerbslose selbstbewußt für sich eine
politische Öffentlichkeit herstellen. Das kann Rückwirkungen
haben bei den Beschäftigten, aber wer nimmt diese Rückwirkungen
auf, und wie? Zwischen den Aktiven in den Betrieben, auch den Betriebslinken,
und den sozialen Initiativen liegen Welten.
Aus dem bislang Gesagten geht wenigstens eines hervor: Es macht
keinen Sinn, wenn die brüchigen oder gerade erst entwickelten
Organisations- und Kommunikationsstrukturen in dem einen Bereich
zugunsten eines anderen aufgegeben oder aufgelöst würden.
Der entscheidende Fortschritt tritt auf beiden Seiten erst ein,
wenn Debatten und Organisierungsversuche aufeinander bezogen werden.
Hier ist ja immer von der "Klasse" die Rede, ihren inneren
Brüchen, aber auch von der Notwendigkeit, das gesamte Klassenverhältnis
im Blick zu behalten. Die Wortwahl, "Klasse", ist noch
ganz Ausdruck der jetzigen Misere, daß wir uns nämlich
in den großen Bezügen auf die Klassenverhältnisse
und mögliche Bewegungen immer noch in der Phase des Trockenschwimmens
befinden. Wenn Initiativen und Bewegungen einmal tatsächlich
fusionieren, also so etwas wie eine Soziale Bewegung existiert,
die in der Praxis sehr wohl weiterhin aus Teilbereichsaktivitäten
bestehen wird (Es sei denn, sie nähme den schrecklichen Weg,
ihr Schicksal einer Partei zu überantworten), dann wird statt
des kargen Worts "Klasse" eben nur noch von dieser Sozialen
Bewegung die Rede sein.
Das kann in der heutigen Praxis gewiß nicht künstlich
herbei geführt, allenfalls in Debatten vorweggenommen werden.
Was heute schon praktisch möglich ist, das ist freilich die
Verweigerung von Identitäten, die nur die Hierarchie des Elends
reproduzieren. Als entscheidenden Fortschritt in den französischen
Bewegungen haben Aktivisten von AC! die Überwindung der Erwerbslosen-Identität
genannt: Sie seien vom Ausgangspunkt her nicht Erwerbslose oder
Beschäftigte gewesen, sondern hätten zum Grundsatz gemacht,
daß jeder Erbwerbslose ein potentieller Erwerbstätiger
und jeder Erwerbstätiger ein potentieller Erwerbsloser sei.
Das zusammen ergibt die Prekarität. Ein qualitativer Sprung
wäre erreicht, wenn in den Aktivitäten von Betriebslinken
und Menschen aus den sozialen Initiativen ein ähnlicher Bezug
aufeinander hergestellt werden könnte. Auch wenn Welten zwischen
den Bereichen liegen und die Kampfformen und -bedingungen sehr verschieden
sind - die Inhalte einer radikalen Orientierung z.B. von Grundsicherung
und Arbeitszeitverkürzung als gemeinsame Bezugspunkte sind
keineswegs so weit voneinander entfernt.
In der jetzigen Situation ist deshalb diese inhaltliche Debatte
selbst eines der wichtigsten Momente der Organisierung. Sie ist
real die "Vernetzung", von der andauernd die Rede ist
und deren Einforderung ein Übermaß an Verbindungen herstellt,
Verbindungen, in denen viel geschieht, jedoch auch nur wenig kommuniziert
wird. Sich zu organisieren, heißt nicht, den Ort der eigenen
Praxis zu verlassen, sondern sich in der Debatte jedem Modell eines
privilegierten Ortes - etwa der Zentralität des Großbetriebes
und der Fabrik oder der rein lokalen Organisierung in Sozialläden
und Sozialzentren - zu verweigern.
II. Kampf gegen die(se) Arbeit
Gerade die Forderungen nach Existenzgeld und Arbeitszeitverkürzung
(AZV) zeigen, wie schwach die inhaltlich Bezugnahme unterschiedlicher
Diskussionen ausgeprägt ist. Obwohl diese Forderungen sowohl
im Rahmen der Prekarisierungsdiskussion als auch bei den (neuen)
Erwerbslosenprotesten eine erhebliche Rolle spielen, ist es bisher
nicht gelungen, eine gemeinsame inhaltliche Klammer in diesen Diskussionen
zu entwickeln. Dies liegt auch an der Art und Weise, wie diese Forderungen
heute i.d.R. vertreten werden, nämlich losgelöst von der
ursprünglich in ihnen enthaltenen Kritik an der (Lohn-)Arbeit.
Gerade in der radikalen Kritik der real existierenden Arbeit liegt
aber der Schlüssel für eine inhaltliche Klammer, die über
zugewiesene Identitäten hinausgeht. Es geht darum, den umfassenden
Anspruch des Kapitals auf die grenzen- und bedingungslose Verfügbarkeit
über die Ware Arbeitskraft zurückzuweisen. Die Teilhabe
am gesellschaftlichen Reichtum muß nicht erst "verdient"
werden; der Zwang, arbeiten gehen zu müssen, bedeutet nicht,
daß die Ansprüche an Arbeitsbedingungen, Löhne etc.
unberechtigt wären. Und vor allem bedeutet dieser Zwang nicht,
daß man sich für "die Arbeit" entwürdigen
muß. Eine solche Orientierung gegen die Unterwerfung des eigenen
Lebens unter die Arbeit wäre eine inhaltliche Gemeinsamkeit
sowohl der Kämpfe gegen Prekarisierung als auch derjenigen
der Erwerbslosen. Unterschiedliche Forderungen wie z.B. Existenzgeld
oder Arbeitszeitverkürzung können dann Ausdruck einer
gemeinsamen inhaltlichen Stoßrichtung sein.
Existenzrecht unabhängig von Arbeit
Die Existenzgeldforderung entwickelte sich in der politischen Auseinandersetzung
der BRD Beginn der achtziger Jahre. Die gewerkschaftsunabhängigen
Erwerbslosen- bzw. Jobberinitiativen stellten sie ausdrücklich
den gewerkschaftlich orientierten Forderungen nach Arbeit für
Alle und Arbeitszeitverkürzung entgegen. Es sollte nicht mehr
um einen Platz im Verwertungssystem der Lohnarbeit gekämpft
werden, sondern um die Anerkennung einer Existenzberechtigung für
jede unabhängig von ihrer Verwertbarkeit. Die Forderung richtete
sich nicht an den Staat, sondern war als Orientierung für die
Kämpfe gedacht, die in den achtziger Jahren um die Fragen von
Arbeit und Einkommen erwartet wurden. Folgerichtig wurde die Forderung
in den ersten Jahren ausdrücklich nicht beziffert. Vielmehr
suchte man nach Aktionsformen, die ausdrücken: "Wir nehmen
uns, was wir brauchen!" Diese Forderung drückte sich in
vielen Aktionen aus, die teilweise in erbitterten Auseinandersetzungen
mit anderen Teilen der Erwerbslosenbewegung durchgesetzt wurden:
Forderungen nach Nulltarif für (mindestens) alle öffentlichen
Einrichtungen wie Nahverkehr, Kultureinrichtungen, Schwimmbäder,
Büchereien, Volkshochschule etc., aber auch Mietstreiks, Besetzungen,
Nachdrucken von Fahrausweisen oder die gemeinsame Beschaffung von
Lebensmitteln und anderen benötigten Dingen
Um den Unterschied in der Orientierung zu den seit einigen Jahren
diskutierten "Grundsicherungsmodellen" deutlich zu machen,
geben die Erwerbsloseninitiativen seit etwa 1992 auch eine Höhe
an. Zwischen 1200,-DM bis 1500,- DM plus Mietkosten für jede/n
wird gefordert. Unabhängig vom exakten Betrag ist aber der
Gedanke wesentlich, daß auch ohne den Zwang - oder die Möglichkeit
- zur entfremdeten Arbeit eine Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum
möglich sein soll. Dennoch ist klar, daß durch diese
Festlegung auf einen Betrag viele Kompenenten der ursprünglichen
Forderung nicht mehr mitgedacht werden.
Damals wurde die Existenzgeldforderung von einer politischen Bewegung
getragen. Die Hoffnung auf eine massenhafte Bewegung von Erwerbslosen,
SozialhilfeempfängerInnen oder prekär Beschäftigten,
also all denen, die aus dem Normalarbeitsverhältnis herausfielen
und -fallen, hat sich in den vergangenen 15 bis 20 Jahren aber nicht
erfüllt. Warum sollten auch ausgerechnet diejenigen die Vorkämpfer
gegen die gesellschatlichen Enrwicklungen sein, die aus den sicher
scheinenden Lebenssituationen ausgeschlossen werden? Hinzukommt,
daß Bewegungen, die Menschen auf eine bestimmte Lebenssituation
festlegen und entsprechende Teilbereichsidentitäten formulieren,
letztlich Spaltungsmechanismen nachvollziehen: hier die Erwerbslosen,
dort die Beschäftigten und schließlich noch die Flüchtlinge.
Die politische Bewegung von damals gibt es derzeit nicht. Was es
heute noch in großer Zahl gibt, sind kleine, sehr unterschiedlich
orientierte Gruppen mit dem Themenschwerpunkt Erwerbslosigkeit ohne
einen klar erkennbaren Bezug aufeinander. Das wird auch nicht durch
die erfreuliche Entwicklung des Frühjahres 1998 mit den Erwerbslosenaktionstagen
relativiert. So wunderbar es ist, daß wieder in vielen Städten
Menschen auf die Strasse gehen um gegen die Erwerbslosigkeit und
die damit verbundene Ausgrenzung zu protestieren, sowenig kann hier
von einer politischen Bewegung mit erkennbaren gemeinsamen Zielen
oder Strategien gesprochen werden. Die direkte Aneignung, und sei
es symbolischer Art, ist nur sehr vereinzelt Bestandteil dieser
Aktionstage. Das politische Vakuum, das entsteht, wenn nicht mehr
erfolgreich die Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben
und Reichtum eingefordert werden kann, wird überbrückt
durch die Forderung an die Regierenden nach "Arbeit" und
nach Rücknahme der letzten Verschärfung. Bestenfalls könnte
ein so orientierter Protest eine neue Festschreibung auf erreichtem
schlechten Niveau sichern. Das wäre zwar immer noch besser,
als weitere Verschlechterungen, hat aber mit der Existenzgeldforderung
nichts zu tun.
Verblüffenderweise ist aber gerade im jetzigen Protest die
Forderung auf dem Papier viel unumstrittener als es Anfang der achtziger
Jahre der Fall war. Das ist nur erklärbar über eine Änderung
des - gedachten - Inhaltes. Reduziert auf eine Geldforderung an
den Staat, deren Höhe dann allemal von politischen Kräfteverhältnissen
bestimmt würde, werden all die weitergehenden Vorstellungen
von einer Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum ausgeblendet.
Dabei geraten die Vorstellungen darüber, wie diese Teilhabe
denn praktisch aussehen müßte, gleich mit aus dem Blick.
Arbeitszeitverkürzung wozu?
Es ist nicht verwunderlich, daß der konkrete Inhalt der Forderung
nach Arbeitszeitverkürzung eine vergleichbare Entwicklung erlebte
wie die Existenzgeldforderung. Sie ist heute fast unumstritten,
dafür aber eines klaren Inhalts beraubt.
Die ursprüngliche gewerkschaftliche Forderung entstand zu
einer Zeit, als der Einfluß auf die Gestaltung der Arbeit
- jedenfalls in den Debatten - noch eine wesentliche Rolle spielte.
Arbeitszeitverkürzung meinte eine Verringerung der Arbeitsmenge
bei Erhalt der Einkommensmöglichkeit und -höhe. Die Verwirklichung
dieser Idee hätte eine weit stärkere Einflußnahme
auf den Inhalt der Arbeit vorausgesetzt, als sie dann möglich
war. Tatsächlich ist es in den letzten Jahren zwar gelungen,
Arbeitszeitverkürzung tarifpolitisch zu vereinbaren. Die Einflußnahme
auf die Gestaltung und Organisation der Arbeit hat jedoch eher ab-
als zugenommen: Arbeitsverdichtung, vermehrter Einsatz von LeiharbeiterInnen,
Vergrößerung der nicht mehr tarifierten Bereiche innerhalb
eines Betriebes, Auslagerung von Produktion, untertarifliche Bezahlung
als Regel in zahlreichen Branchen. All diese Veränderungen
der Arbeit waren Gegenstand von Auseinandersetzungen, die schließlich
bis heute weitgehend erfolglos blieben.
Die Erfolglosigkeit liegt vor allem darin, daß die Verfügungsmöglichkeit
über die Arbeit heute mehr als vor zwanzig Jahren den Chefs
zugestanden wird. Das Bewußtsein, daß die Lohnabhängigen
auf die Gestaltung ihrer Arbeit einen Anspruch erheben könnten,
ist geringer geworden. Nicht erst seit den Debatten um den Standort
Deutschland machen deshalb die Beschäftigten die Probleme der
Chefs zu ihren eigenen: "Wie soll der Betrieb kurze Arbeitszeiten,
viel Urlaub und hohen Lohn erwirtschaften?" Mit solchem Denken
ist der Erpressung von oben nicht viel entgegenzusetzen.
Die Entwicklung der AZV-Forderung hat zu diesem Denken beigetragen.
In erster Linie wurde über die Verteilung der Produktivitätsgewinne
diskutiert: Lohnerhöhungen oder kürzere Arbeitszeit. Es
stand nicht das Lebensgefühl im Vordergrund "Wir wollen
weniger kaputt nach Hause kommen, aber das Gleiche verdienen".
Es gab keinerlei betriebliches Selbstbewußtsein dafür,
daß der Anspruch berechtigt sein könnte, nicht kaputt
nach Hause zu kommen. Oder es wurde zugelassen, daß innerhalb
des Betriebes KollegInnen als LeihartbeiterInnen o.ä. weniger
Geld für die gleiche Arbeit bekamen. Vor diesem Hintergrund
entwickelte sich die Arbeitszeitverkürzung zu Lohnkürzung
und Arbeitsverdichtung. Dabei war den KollegInnen eine verkürzte
Arbeitszeit weit weniger wichtig als ein gesichertes Einkommen oder
der Erhalt des Arbeitsplatzes. Das führte dazu, daß in
zunehmenden Bereichen der Tarif nur noch auf dem Papier steht. So
trifft man etwa im Bereich Metall und Elektroindustrie betriebliche
Vereinbarungen zwischen 28.8 Stunden und über 40 Stunden Regelarbeitszeit,
und das nicht nur in kleinen Betrieben.
Die flexible Verfügbarkeit wurde in den letzten Jahren in
vielen Betrieben Normalität, mit Unterstützung großer
Teile der Gewerkschaften, mit Unterstützung der Betriebsräte
sowieso. Mit Arbeitszeitverkürzung ist so immer öfter
nur noch eine Anpassung an die Auftragslage gemeint. Wenn der Laden
nicht läuft, beinhaltet diese Tendenz die Verringerung der
Arbeitzeit bei voller Lohnkürzung oder auch die Verlängerung
ohne Überstundenzuschläge. Für mehr Freizeit und
das Bedürfnis, weniger kaputt nach Hause zu kommen, ist damit
nichts erreicht. Arbeitszeitverkürzung ist bei den Beschäftigten
zunehmend unpopulär, an einen vollen Lohnausgleich glaubt auch
niemand mehr. Arbeitszeitverkürzung mit Lohnkürzung wird
gegen befristete Arbeitsplatzgarantien getauscht.
"... können wir nur selber tun"
Die unterschiedliche Situation in den verschiedenen Betrieben und
die zunehmenden "atypischen" Arbeitverhältnisse sind
allein mit tarifpolitischen Mitteln nicht zu steuern.
Dennoch wird in der Orientierung auf weitere Arbeitszeitverkürzung
keineswegs der Schwerpunkt darauf gelegt, wie denn in den Betrieben
wieder eine Haltung der Solidarität entwickelt und Kämpfe
nicht nur für uns sondern für uns und Alle wieder entstehen
könnten. Die jetzige AVZ-Forderung richtet sich stattdessen
an zentrale (staatliche) Instanzen, die Lohnsenkungen und die Verschlechterung
der Lebensbedingungen eindämmen sollen. Das ist bestenfalls
Ausdruck von Hilf- und Ratlosigkeit. Dabei gibt es durchaus erfolgreiche
Kämpfe zur Sicherung von tariflichen Regularien. Wenn in einem
Betrieb die KollegInnen zu kämpfen beginnen, ist plötzlich
Tarifflucht gar kein Thema mehr. Natürlich gibt es auch die
vielen Fälle, wo sich die KollegInnen nicht durchsetzen können.
Aber keine zentrale Vorschrift wird die praktische Änderung
der Kräfteverhältnisse ersetzen können.
Wenn wir ausreichendes Einkommen für Alle wollen, wenn wir
besser leben wollen, statt uns kaputt zu schuften, dann geht der
Weg erstmal nicht allein über Re-Regulierungsforderungen wie
Arbeitszeitverkürzung oder Existenzgeld. Wenn wir über
diese Forderungen nachdenken und streiten, sollten wir uns zunächst
den gesamten Umfang der Idee ins Gedächtnis zurückrufen.
Keine Forderung wird und kann den gesamten Anspruch auf Aneignung
gesellschaftlichen Reichtums transportieren. Aber wenn dieser Inhalt
zum Maßstab gemacht wird, wird auch klar, daß sich beide
Forderungen nicht widersprechen, sondern zwei Seiten einer Medaille
sind.
Natürlich müssen aus der Idee die konkreten Vorschläge
und Forderungen entwickelt werden, um die dann gekämpft werden
soll: Nulltarif für Alle mit wenig Einkommen, billigere Mieten,
der Abbau von Überstunden, weniger Arbeit, mehr Lohn. Der Sozialstaat
in seiner reduzierten heutigen Form ist ein umkämpftes Terrain.
Der Rückzug des Staates aus der Sicherung der Sozialeinkommen,
der neue militante Produktivismus mit immer massiveren Elementen
von Ausgrenzung und workfare verschlechtert die Arbeits- und Lebensbedingungen
der Menschen ganz erheblich. Dagegen gab und gibt es Widerstand.
Der kann sich auf bloße Forderungen an den Staat zur Aufrechterhaltung
des Status Quo beziehen. Er kann aber auch Ansprüche entwickeln,
die weit über den Anteil des Kuchens hinausgehen, der uns heute
zugestanden wird.
Gruppe Blauer Montag, August/September 1998
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