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Blühende Landschaften?
Deutschland und seine Hauptstadt im Jahre zehn nach der Wiedervereinigung
Von Dario N. Azzellini
"Nachdem er den Fluß durchwatet und den Paß
überstiegen hat, steht der Mensch plötzlich vor der Stadt
Moriana mit ihren im Sonnenschein durchsichtigen Alabastertoren,
ihren Korallensäulen, die serpentinverkleidete Simse tragen,
ihren Villen ganz aus Glas ...
Ist er nicht auf seiner ersten Reise, so weiß der Mensch
bereits, daß Städte wie diese eine Kehrseite haben: Man
braucht nur einen Bogen zu gehen und hat schon Morianas verborgenes
Gesicht vor Augen, eine Fläche mit verrostetem Blech, Sackleinwand,
nägelbespickten Balken, rußschwarzen Rohren, Haufen von
Büchsen, Brandmauern mit verwaschenen Inschriften, Stuhlgerippen
ohne Flechtsitze, Stricken, die nur noch dazu taugen, sich an einem
morschen Balken aufzuhängen. ... Die Stadt ... besteht nur
aus einer Vorderseite und einer Rückseite, wie ein Blatt Papier
mit einer Figur hier und einer Figur dort, die sich nicht ablösen
und nicht ansehen können.
(aus: "Die unsichtbaren Städte" von Italo
Calvino)
Die Fähigkeit nationaler Unternehmen im globalen Wettbewerb
zu bestehen, Allianzen zu schliessen und neue Märkte zu erobern
hängt nicht unwesentlich vom Vertrauen ab, das von ihren Wirtschaftspartnern
in sie gesetzt wird. Dies ist wiederum stark davon abhängig
welches Bild betreffs der Wirtschaftsstärke, der Effizienz
des ökonomischen Modells und der gesellschaftlichen Situation
des Landes im Ausland besteht. Ein Bild das maßgeblich von
der Rhetorik der Regierungen bestimmt wird.
Deutsche Regierungen beherrschen diese Aufgabe meisterhaft. Der
vorherrschende Eindruck im Ausland über Deutschland ist der,
einer funktionierenden "sozialen Marktwirtschaft". Das
Modell des "rheinischen Kapitalismus", in dem Regierung,
Grossunternehmen, Banken und machtvolle Gewerkschaften gemeinsam
eine blühende Wirtschaft, Mitbestimmung, soziale Sicherheit
und Wohlstand garantieren. Der Regierungssitz Berlin gilt wiederum
als die europäische Hauptstadt des 21. Jahrhunderts,
das Tor gen Osteuropa.
Wirft man allerdings einen Blick hinter diesen rhetorischen Vorhang
zeigt sich ein gänzlich anderes Bild.
Die Anzahl derer, die von Sozialhilfe leben, ist von 2,4 Millionen
im Jahr 1992 auf 3,1 Millionen 1998 angestiegen (ca. 3,7% der Gesamtbevölkerung).
Mehr als eine Million davon sind minderjährig einer von 14
Minderjährigen lebt von Sozialhilfe. Über vier Millionen
Menschen sind arbeitslos, die Anzahl der Langzeitarbeitslosen unter
ihnen stieg von ca. 500.000 im Jahr 1992 auf 1,4 Millionen im Jahr
1999 an.
Während der letzten zehn Jahre ist auch ein enormer Anstieg
der informellen Beschäftigung, der Schattenökonomie und
des Mikro-Unternehmerums zu beobachten, parallell dazu schreitet
die Präkarisierung der ehemals regulären Beschäftigung
voran. "Working poor", Armut trotz Arbeit, breitet sich
auch in Deutschland immer mehr aus. Die "atypischen" Beschäftigungen,
wie sie der DGB gerne nennt, sind wohl eher "typisch".
Bereits seit Mitte der 80er Jahre sind mehr als 50% der neu eingegangenen
Arbeitsverhältnisse "atypisch". Besonders betroffen
sind davon Frauen, Jugendliche und Migranten.
Tarifverträge sind eine Errungenschaft die vorwiegend Männer,
und im zunehmenden Masse nur noch die deutschen betrifft. Frauen
bleibt in der Regel unterbezahlte, nicht tariflich geregelte oder
illegalisierte Beschäftigung vorbehalten. De facto verfügen
73% aller Frauen über 15 Jahre über keine eigenen Einkünfte
bzw. über monatliche Einkünfte unter 1.800 DM, auch wenn
sie Vollzeitbeschäftigt sind. Frauen in bessergestellten Positionen
verdienen im Durchschnitt 30% weniger als Männer, die mit den
gleichen Aufgaben betraut sind. Etwa ein Drittel aller Selbstständigen
sind Frauen. Sie arbeiten vorwiegend im Dienstleistungssektor (57%)
und im Einzelhandel (26% im Westen und 37% im Osten). Mehr als die
Hälfte dieser "selbstständigen" Frauen verfügt
über keinerlei Grundkapital und hat die selbstständige
Tätigkeit nur aufgenommen, da sie trotz durchschnittlich höherer
Qualifikation als ihre männlichen Kollegen, keinerlei Aussicht
auf eine Integration in den regulären Arbeitsmarkt haben. Und
wie wenig die heutige Selbstständigen dem traditionellen Unternehmerbild
entsprechen wird deutlich, wenn man einen Blick auf die Einkommensverhältnisse
wirft: 53% der selbstständigen Frauen im Westen und 41% im
Osten verdienen weniger als 1.800 DM im Monat, nahezu ein Viertel
sogar weniger als 1.000 DM.
Das Bewusstsein über prekärere und regulärere Beschäftigung
ist Deutschland jedoch stark unterentwickelt. Das Bild der geregelten
Arbeitsverhältnisse als gesellschaftliche Normalität ist
wirkungsmächtig. Die grossen Debatten, die die Öffentlichkeit
bestimmen, wie z.B. um die Rente ab 60, betreffen tatsächlich
nur (männliche) Minderheiten mit einer 35jährigen fordistischen
Arbeitsgeschichte. Grosse Teile der Linken wiederum haben keine
andere Antwort auf die neuen Arbeitsverhältnisse, als sie wieder
in traditionelle fordistische Muster pressen zu wollen (was in vielen
Fällen an der Realität und den Wünschen der Betroffenen
vorbeigeht) und selbst bei den meisten Betroffenen, auch bei jenen
die zu der Problematik aktiv sind, herrscht die Meinung vor, zu
einer Minderheit zu gehören, die über kein reguläres
Arbeitsverhältnis verfügt. Dabei sprechen die Zahlen eine
deutlich andere Sprache. Von etwa 38,1 Millionen arbeitsfähigen
Personen in Deutschland, sind über vier Millionen arbeitslos,
2,7 Millionen arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger, 1,2
Millionen arbeiten mit reduziertem Einkommen in verschiedensten
staatlich finanzierten oder subventionierten Massnahmen und Fortbidungsschlaufen,
2,5 Millionen verfügen über Arbeitsverträge von weniger
als einem Jahr, 2,5 Millionen arbeiten Teilzeit (87% davon sind
Frauen), 6,5 Millionen sind mittels der "630 DM-Jobs"
im Westen, bzw. 530-DM-Jobs im Osten beschäftigt, zwischen
900.000 und 1,5 Millionen gelten als Scheinselbstständige,
625.000 sind Heimarbeiter(innen). Hinzu kommen in der Schattenökonomie
Beschäftigte, Leiharbeiter, Saisonarbeiter usw. Mindestens
20,5 Millionen, also 54%, der 38,1 Millionen arbeitsfähigen
Einwohner Deutschlands leben auf die eine oder andere Weise in einer
prekären Situation. Nur eine Minderheit verfügt hingegen
über ein reguläres sozial abgesichertes Beschäftigungsverhältnis
oder hat mittels selbstständiger Beschäftigung ein ausreichendes
Einkommen, um sich selbst sozial abzusichern.
Die rasante Verarmung verursacht durch das kontinuierliche Absinken
der Hauhaltseinkommen ist vor allem in Berlin deutlich spürbar.
Bis zum Mauerfall war ein Grossteil des Berliner Haushaltes über
Bundesmittel subventioniert, noch 1990 summierte sich die Bundeshilfe
auf 14,2 Milliarden DM (6.625,- DM pro Westberliner). Damit wurde
das bereits eingesetzte Absterben der Industrie abgebremst. 1998
bekam Berlin über den Länderfinanzausgleich als grösster
Nehmer immerhin noch 4,89 Milliarden DM, 2.525,- DM pro Einwohner.
In Westberlin hat dies zu einem starken Kaufkraftverlust und der
Verringerung der öffentlichen Ausgaben geführt. Die Berliner
Verwaltung reduzierte die Anzahl ihrer Beschäftigten im Zeitraum
1991-1998 von 298.338 auf 199.298. Dies ist dennoch nur die Spitze
des Eisbergs des Arbeitsplatzabbaus. Alle Sektoren miteingeschlossen
und die neugeschaffenen Beschäftigungen bereits abgezogen ergibt
sich für Berlin für den Zeitraum 1991-1998 eine Negativbilanz
von 371.100 Arbeitsplätzen. Die Anzahl der arbeitenden Bevölkerung
fiel im gleichen Zeitraum um 14,5%, während sich die Arbeitslosenquote
offiziell um die 16% bewegt.
Ein Grossteil des Arbeitsplatzabbaus fand in der Industrie statt.
Der Mauerfall hatte den ehemals abgeschotteten Westen Berlins über
Nacht einer ungekannten Wettbewerbssituation mit Ost-Berlin und
dem Umland ausgesetzt. Unternehmen begannen ihre Produktionsstätten
und Niederlassungen ausserhalb Berlins zu verlegen. Aber auch die
ausgebliebene Modernisierung und die reduzierte Produktpalette vieler
West-Berliner Unternehmen sowie die fehlenden Investitionen in Forschung
und Entwicklung führten zu einem massiven Abbau industrieller
Arbeit. Im Osten Berlins war die Industrie einem noch weitreichenenderen
Abbau ausgesetzt. Die Produktion brach zusammen, teilweise aufgrund
der geringeren Qualität der Produkte, die es nicht erlaubte
eine günstige Positionierung im globalen Wettbewerb zu erzielen,
wie auch wegen der niedrigen Produktivität und dem plötzlichen
Wegfall der Nachfrage aus dem ehemaligen Ostblock.
In diesem Rahmen sank die Anzahl der Beschäftigten in der
Berliner Industrie in der Zeit `89-`98 von 400.200 auf 168.800,
d.h. um 57,8%. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen:
von 1997 bis 1998 sank die Industriebeschäftigung immer noch
um 5,6%. Aus Berlin werden vor allem flächenintensive Unternehmen
in das Umland verlegt, neue Industrien siedeln sich in der Regel
gar nicht mehr in Berlin an, sondern im Speckgürtel um Berlin,
der über eine relativ gute Infrastruktur verfügt. Es ist
also vorhersehbar, das die Entwicklung der Berliner Industrie in
den kommenden Jahren weiterhin schlechter als im Bundesdurchschnitt
verlaufen wird.
Nach einem Bevölkerungszuwachs bis 1993 ist mittlerweile auch
die Einwohnerzahl Berlins im Sinken begriffen. Von 3,475 Milionen
Einwohnern Ende 1993 sind im Juli 1999 noch 3,393 Millionen übrig.
Die Folgen sind vor allem für den Einzelhandel spürbar,
der in der ersten Hälfte 1999 einen Umsatzrückgang von
2% und einen Beschäftigungsrückgang von 5,4% gegenüber
dem gleichen Vorjahreszeitraum zu verzeichnen hatte.
Unter den neun deutschen Metropolenregionen bildet Berlin das Schlusslicht
bezüglich der Wirtschafts- und Steuerkraft, ohne Tendenzen
zur Besserung. In Berlin liegt die Bruttowertschöpfung pro
Kopf mit 40.082 DM jährlich nur leicht über dem Bundesdurchschnitt
von 39.236 DM, sie beträgt weniger als die Hälfte der
von Makroregionen wie München/Nürnberg (81.716 DM) und
liegt deutlich unter der der Hansestadt Hamburg (70.087 DM). Berlin
hält bei vielen bundesweiten Vegleichsstatistiken den letzten
Platz und seit 1995/1996 gestaltet sich die Talfahrt der Hauptstadt
immer schneller.
Im Zeitraum 91-98 stieg das BIP Berlins nominal von 120,41 Milliarden
DM auf 155,77 Milliarden, der Anstieg schrumpft allerdings auf 2,5%,
wenn man den Berechnungen die Preise von 1991 zugrundelegt. Und
diese schwache Entwicklung wandelt sich schliesslich 1997 in eine
Verringerung des BIP um 0,3%.
Vom sozialen Standpunkt aus gesehen lässt sich in Berlin eine
duale Entwicklung feststellen: Auf der einen Seite die Gestaltung
der Stadt gemäss der Bedürfnisse einer modernen Metropole
und andererseits das ausserhalb der Bewegungsradius der inter- und
transnationalen Wirtschaftsmacht und der Regierungsmacht liegende
Berlin.
Während sich die Einwohnerzahl, die arbeitsfähige Bevölkerung
und die Beschäftigtenanzahl im stetigen Abwärtstrend befinden,
steigt die Quote der Arbeitslosen und nicht erwerbsfähigen
Bevölkerung kontinuierlich. Die Verarmung breiter Teile der
Bevölkerung erfolgt in rasantem Tempo: Die Anzahl der Sozialhilfeempfänger
ist von 158.611 im Jahr 1991 auf 281.851 im Jahr 1998 gestiegen.
Darin sind die 34.121 Asylantragsteller, die Leistungen unterhalb
des Sozialhilfesatzes erhalten, noch nicht mitgezählt. 8,3%
der Berliner Bevölkerung erhält Sozialhilfe, damit hat
Berlin die höchsten Sozialhilfeausgaben pro Kopf (905,88 DM
jährlich) in ganz Deutschland. Dabei liegen die Ausgaben im
Westteil sogar noch deutlich höher als im Ostteil der Stadt.
Von der Armut betroffen sind vor allem Nicht-Deutsche, die 26,6%
der Sozialhilfeempfänger ausmachen bei einem Anteil von 12,75%
an der Berliner Bevölkerung. Da Nicht-Deutsche vorwiegend als
Industriearbeiter beschäftigt waren, sind sie von den Entwicklungen
der letzten Jahre besonders stark betroffen gewesen, gleichzeitig
ist es für sie nahezu unmöglich wieder eine abhängige
Beschäftigung zu finden. Daher gibt es auch einen regelrechten
Boom in der Aufnahmen selbstständiger Aktivitäten seitens
Nicht-Deutscher.
Doch in einem Punkt - in der Struktur der Haushalte - kann Berlin
metropolitanen Standard (im negativen Sinne) vorweisen: Während
die Anzahl der Mehrpersonenhaushalte stetig sinkt, steigt die der
Single- und Zwei-Personenhaushalte sowie der Kinderlosen und Alleinerziehenden.
79% der Berliner Haushalte hat keine Kinder unter 18 Jahren und
24% aller Haushalte sind Singlehaushalte gegenüber einem
Bundesdurchschnitt von 16%.
Im nächsten Teil:
Berlin Dienstleistungsmetropole und Drehscheibe
für den Ost-West-Handel?
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