Die "befriedete" Stadt und ein Embargo
Ortsbesichtigung beim paramilitärischen Pilotprojekt im Magdalena
Medio (Kolumbien)
von Raul Zelik
Die in Zentralkolumbien gelegene Region des Magdalena Medio gilt
als wirtschaftlich und strategisch bedeutend. Neben den fruchtbaren
Viehweiden sind die Gold- und Erdölvorkommen sowie die Raffinerie
von Barrancabermeja von ökonomischem Interesse. Vor diesem
Hintergrund begannen Teile der kolumbianischen Eliten 1983 in der
Region ein paramilitärisches Pilotprojekt, das sich mittlerweile
im ganzen Land ausgebreitet hat. Finanziert bzw. logistisch unterstützt
von Viehzüchtern, Armee, Regionalpolitikern, der Texaco Oil
Company und den Kokainhändlern des Medellínkartells
wurden damals erste Todesschwadronen aufgebaut, die in den Folgejahren
die politische Opposition ausradierte, "aufsässige"
Kleinbauern vertrieb und "hörige" Bewohner neu ansiedelte.
1997 begann eine zweite Angriffswelle, die sich gegen die letzten
beiden Enklaven in der Region - die als Gewerkschaftsbastion geltende
Erdölstadt Barrancabermeja und die Guerillagebiete auf der
westlichen Seite des Magdalena-Stroms - richtet. Mit zahllosen Massakern
und Massenvertreibungen sind die Paramilitärs auch bei diesem
Projekt ausgesprochen erfolgreich gewesen. Die Erdölstadt und
die direkt am Fluß gelegenen Gebiete sind heute wieder unter
Kontrolle der Rechten. Nur in den Höhenlagen der Serranía
San Lucas hat die Guerilla die Angriffe bislang zurückschlagen
können. Aus diesem Grund hat die Armee um die Bergdörfer
eine Art Embargo verhängt, das mehrere zehntausend Bauern und
Goldsucher von der Grundversorgung abschneidet. Die kolumbianischen
Verhältnisse zeigen sich in Barrancabermeja seit jeher besonders
deutlich. Die 350000 Einwohner zählende Erdölstadt am
Magdalena-Strom gilt seit ihrer Gründung als Brennpunkt der
sozialen Konflikte im Land. Das ist auch heute noch so, ein Jahr
nach der "Rückeroberung" der Stadt durch die Armee.
In den nordöstlichen Vierteln, die noch vor eineinhalb Jahren
von Guerillamilizen kontrolliert wurden, stehen heute an allen strategischen
Punkten Gruppen auffälliger Zivilisten herum: junge Männer
mit Sonnenbrillen, Mobiltelefonen und kleinen Taschen. Es sind Paramilitärs,
die im vergangenen Jahr allein in Barrancabermeja mehr als 500 Menschen
umgebracht haben -erschossen, zerstückelt, zu Tode gefoltert.
Inzwischen, heißt es, ist die Stadt weitgehend "befriedet",
und die paramilitärischen Stützpunkte in den Armenvierteln
stehen für neue Aufgaben zur Verfügung.
Uribes "Politik der harten Hand"
Sie dienen als Wahlkampfbüros für den aussichtsreichsten
Präsidentschaftskandidaten, den Rechtsradikalen Alvaro Uribe
Vélez, der nach Meinungsumfragen um die 50 Prozent der Wählerschaft
hinter sich hat. Uribe Vélez, den zu kritisieren nur noch
ausländische Korrespondenten wagen, steht für eine autoritäre
Lösung des kolumbianischen Konflikts: Aufrüstung der Armee,
Einbindung von einer Million Kolumbianern in zivilmilitärische
Verbände, Verschärfung der Gesetze und Anforderung von
US-Truppen. Als Gouverneur von Antioquia hat Uribe Mitte der 90er
Jahre seine "Politik der harten Hand", wie er sie selbst
nennt, bereits erproben können. Die Folge war der Anstieg von
straflos gebliebenen Massakern in Medellín und Umgebung.
Auch Verbindungen zum Drogenhandel, der sich in Kolumbien Hand in
Hand mit dem Paramilitarismus ausbreitet, werden Uribe nachgesagt.
Am Magdalena-Strom, 150 Kilometer östlich von Medellín,
fragt man sich, was sich durch eine Law-and-Order-Politik noch verschärfen
ließe. Im Umfeld der größten Raffinerie des Landes,
bislang eine Art Trutzburg der gewerkschaftlichen Linken, leistet
heute nur noch eine Handvoll Unerschütterlicher Widerstand
- zu einem hohen Preis. "Wir haben noch Mitglieder, aber es
gibt keine Leute mehr, die sich in Ämter wählen lassen
wollen", antwortet der Gewerkschafter Rafael Jaimes Torra auf
meine Frage nach der Situation der Erdölgewerkschaft Unión
Sindical Obrera (USO) in der inzwischen seit zehn Jahren von Paramilitärs
kontrollierten Kleinstadt Sabana de Torre, eine halbe Stunde nordöstlich
von Barrancabermeja. "Wir befürchten, daß es hier
bei uns auch bald so sein wird." Ich versuche, meinen Gesprächspartner
aufzumuntern: "So schlimm wird es nicht werden. Das hier ist
eine einzigartige Stadt".
Doch neun Stunden später ist der 38jährige Jaimes Torra
tot. Ein Paramilitärkommando erschießt ihn und seinen
24jährigen Neffen vor der Tür seines Hauses. Auf der Beerdigung
versammeln sich 200 Gewerkschafter mit ihren Leibwächtern sowie
die Aktivistinnen der autonomen Frauenorganisation Organización
Feminina Popular, denen es dank internationaler Unterstützung
als einzigen Linken gelungen ist, die Arbeit in den Armenvierteln
aufrechtzuerhalten. Man lacht, keine fünf Meter vom Sarg Rafael
Jaimes' entfernt. Der Terror ist alltäglich in Barrancabermeja.
Und er folgt offensichtlich einem Kalkül: Jaimes Torra ist
nach Aury Sarat in Cartagena und Gilberto Torres in Casanare der
dritte führende USO-Gewerkschafter, der innerhalb kurzer Zeit
ermordet wird. Alle drei waren Organisatoren von regionalen "Erdölforen",
groß angelegten Veranstaltungen, bei denen kritisch über
die staatliche Energiepolitik und die Verwendung der Exporterlöse
debattiert wird.
"Sozialprojekt" der Armee
"Priorität hat die Bekämpfung der Selbstverteidigungsgruppen."
Der Polizeikommandant von Barrancabermeja, Alvaro Becerra, weiß,
wie man kritischen Ausländern gegenüber aufzutreten hat.
Die Ermordung des USO-Gewerkschafters bezeichnet er als schreckliche
Tat und verspricht, die Schuldigen zu verfolgen. "Allerdings
haben wir nur 300 Polizisten zur Verfügung. 300 Mann in einer
Stadt von 350000 Einwohnern." Man möchte dem Mann glauben,
so überzeugend trägt er seine Erklärungen vor. Doch
die Wirklichkeit spricht eine andere Sprache. Der Paramilitarismus
wird in der Stadt - wie in allen kolumbianischen Konfliktgebieten
- von den Sicherheitsorganen gedeckt und militärisch abgesichert.
Menschenrechtsaktivisten berichten, daß während der
paramilitärischen Offensive im vergangenen Jahr Sondereinheiten
der Polizei in die Stadt verlegt wurden. Während die schwer
bewaffneten Polizisten in einem Straßenzug Häuser durchsuchten,
ermordeten Paramilitärs eine Straße weiter angebliche
Guerillasympathisanten. Doch davon will Polizeikommandant Alvaro
Becerra nichts wissen. "Es gibt immer noch viel zu viele Tote,
aber die Tendenz ist positiv. 2001 hatten wir in diesem Zeitraum
167 Morde. Dieses Jahr sind es nur 17." Ein verschmitztes Lächeln.
"Das ist immer noch viel zu viel. Aber unsere Leute hier sind
explosiv. Diese Mischung aus Spaniern und Chibcha, das ist nicht
einfach." Bei den staatlichen Stellen in Barrancabermeja -
vom Menschenrechtsombudsmann Jorge Gómez, der selbst im Exil
war, einmal abgesehen - bekommt man viele solcher seltsamen Theorien
zu hören. Die Procuradora Giorgina Hernández zum Beispiel,
eigentlich damit beauftragt, staatliche Vergehen zu überprüfen
und Disziplinarverfahren einzuleiten, setzt kurzerhand die Theorie
in Umlauf, die USO-Gewerkschafter würden sich kurz vor Führungswahlen
häufig gegenseitig umbringen, und im Militärbataillon
Nueva Granada hat natürlich alles "mit Terrorismus"
zu tun. Doch es fügt sich auch ein Bild zusammen. So wie es
logisch ist, daß die Mordrate sinkt, wenn die potentiellen
Opfer tot oder vertrieben sind, so ergibt auch das neue soziale
Gewissen der Armee seinen Sinn. Generalleutnant Gilberto Ibarra
Mendoza, zuständig für das "Comando de Acción
Social", erzählt stolz von dem von ihm geleiteten Pilotprojekt.
"Wir müssen die Legitimität des Staates wiederherstellen,
wir müssen ihm Anerkennung verschaffen." Aus diesem Grund
läßt der Generalleutnant Soldaten Sportplätze bauen
und Parks anlegen, kümmert sich für Bedürftige um
Behördengänge oder sammelt Medikamente. "Diese Tüte
hier", er hält sie lächelnd in die Luft, "geht
in ein besonders armes Dorf in unserer Region - nach San Blas."
San Blas, im Süden des Departements Bolívar gelegen,
ist einer der wichtigsten Paramilitärstützpunkte und Drogenumschlagplätze
in der Region. Nichts bewegt sich dort ohne Zustimmung der Todesschwadrone.
So greift ein Rädchen ins andere. Die Paramilitärs ermorden
oder vertreiben eine als aufsässig geltende Bevölkerung,
die Polizei gibt sich ohnmächtig, die staatlichen Strafverfolgungsbehörden
verdächtigen die Opfer, und die Armee schließlich kümmert
sich darum, in gesäuberten Vierteln die Lage mit zivilen Projekten
zu konsolidieren. Terrorismus und Entwicklungsprojekte Hand in Hand
- ein strategisches Projekt.
Zu Fuß zu den Goldminen
Ein Stück flußabwärts, im Süden des Departements
Bolívar, ist man noch nicht so weit. Knapp hinter der von
Paramilitärs terrorisierten Kleinstadt Santa Rosa beginnt Guerilla-Gebiet.
Vor drei Jahren kündigte der Kommandant der Todesschwadron,
Carlos Castaño, vollmundig an, er werde bis zum Jahresende
1999 seine Hängematte in den Wäldern der Serranía
San Lucas aufspannen. Die bis zu 2200 Meter hohen Berge hinter Santa
Rosa besitzen große Bedeutung: Im nördlichen Zentrum
Kolumbiens gelegen, befinden sich hier die größten kolumbianischen
Goldvorkommen, aber auch das wichtigste Rückzugsgebiet der
ELN-Guerilla. Bis man die Minen oberhalb von Santa Rosa erreicht,
muß man vier oder fünf Sicherheitskordons der Guerilla
durchqueren: Straßensperren, mit Sandsäcken gesicherte
Kontrollpunkte, Minenfelder - alles improvisiert und doch Ausdruck
der Entschlossenheit, den Vormarsch der Paramilitärs zu stoppen.
Die Fahrt auf der Erdpiste ist wie eine Zeitreise in die Vergangenheit.
Je höher man kommt, desto schlechter wird die Straße
und desto grüner die Vegetation. Während die tiefer gelegenen
Täler der Serranía schon vor zwanzig Jahren abgeholzt
wurden und nun, in der Trockenzeit, unter einer Staubschicht verschwinden,
breitet sich auf den Bergkämmen immer noch majestätisch
der dunkle Regenwald aus. Seine Tage dürften allerdings auch
hier gezählt sein. Wo man hinschaut, sieht man die Rauchfahnen
der Brandrodungen.
Bis zum Goldminen-Gebiet am Fuß des La Teta-Gipfels sind
es vier Stunden Fahrt auf einem Pickup und weitere drei Stunden
Fußmarsch. Mit Guerilla-Romantik haben die Lebensverhältnisse
hier oben in der erstaunlich dicht besiedelten Serranía nichts
zu tun. Der Goldrausch hat Tausende in den Wald gelockt, die in
provisorischen Holzhütten leben und unter abenteuerlichen Bedingungen
Gestein aus dem Berg schlagen. Zwischen den Waldflächen sieht
man erodierte Hänge, Mineneingänge, Plastikverschläge,
Müllhalden und die breiten, ausgetretenen Maultierpfade - alles,
was in die Region gelangt, kommt auf den Rücken der Tiere hierher.
Die Abbaumethoden sind eine einzige Katastrophe: Die Mineros fassen
ohne Schutzhandschuhe in die Quecksilberschalen, die Zyanidbecken
sind direkt neben den Wohnhütten angelegt, Kinder spielen in
einem Sand, den man in Westeuropa auf einer Sondermülldeponie
verscharren müßte. Unter solchen Bedingungen entwickelt
man nach einiger Zeit fast schon Sympathien für die Brandrodungen.
"Wir ermuntern die Leute, Pflanzungen anzulegen", erklärt
Cediel Mondragón von der Federación Agrominera del
Sur de Bolívar, der regionalen Bauern- und Goldsucherföderation.
"Wir wollen, daß die Leute zu Bauern werden und sich
fest hier ansiedeln."
Widerstandsgemeinden
Die Föderation schlägt vor, sich ähnlich wie in
den 80er Jahren in Guatemala in Widerstandsgemeinden zu organisieren,
um sich gegen die drohende Vertreibung zu wehren. Denn der kolumbianische
Staat versucht alles, um den Süden des Departements Bolívar
unter Kontrolle zu bekommen und die Goldvorkommen gewinnträchtig
an transnationale Unternehmen zu verscherbeln. Doch mit Goldschürfern
läßt sich solch ein Widerstand nur schwer organisieren.
"Die Mineros sind Vagabunden", sagt Mondragón.
"Sie wohnen zwei Jahre hier und ziehen dann zur nächsten
Mine." Seine Organisation hofft, daß sich die Bewohner
der Region ähnlich wie die Bauern weiter im Süden des
Departements besser organisieren, wenn sie erst einmal Land bestellen
und sich fest angesiedelt haben. Der zweite, noch wichtigere Grund
für die Kampagne der Föderation ist jedoch die ökonomische
Not. Armee und Paramilitärs haben, nachdem die Guerilla ihre
Offensiven zurückschlagen konnte, ein Embargo gegen die Dörfer
in den Bergen verhängt. Werkzeuge, Maschinen und Medikamente
werden von den Paramilitärposten beschlagnahmt, Händler
mit dem Tode bedroht oder gleich ermordet. Als Folge davon sind
die - in Goldsucherregionen traditionell hohen - Preise noch weiter
explodiert, im einzigen Gesundheitsposten in der Region, im Consultorio
von Mina Vieja, sind die Regale leer. Medikamente im Wert von vier
Millionen Pesos, etwa 3500 Franken, hat die Armee, wie Mondragón
berichtet, dem Gesundheitsposten gestohlen. Selbst Lebensmittel
werden nicht mehr durchgelassen. "Wir haben keine andere Wahl,
als so viel wie möglich in der Region selbst herzustellen.
Wir müssen uns selbst versorgen." Die Zerstörung
des Waldes mag einem in der Seele weh tun, aber sie ist immer noch
erträglicher als die Vorstellung, daß auch hier wieder
kleine Bauern und Goldsucher den ökonomischen Großprojekten
weichen werden.
Die Bewohner der Region ertragen ihre Lage mit erstaunlicher Geduld.
Vielen von ihnen, vor allem den Führern der sozialen Organisationen,
ist es unmöglich geworden, das Gebiet zu verlassen. Außerhalb
der von der Guerilla kontrollierten Zone gelten die Mineros als
"militärische Ziele", wie es euphemistisch heißt.
Doch wie Widerstandsgemeinden wirken die Dörfer dennoch nicht.
Weiter im Süden, wo der Ring der Armee so eng ist, daß
manche Comunidades nur noch per siebentägigem Fußmarsch
zu erreichen sind, soll sich die Bevölkerung fester zusammengeschlossen
haben.
Unter den Goldschürfern hingegen paart sich Widerstandswille
auf seltsame Weise mit Lethargie. Niemand will hier den Drohungen
der Paramilitärs weichen, aber auch kaum jemand ist bereit,
sich zu organisieren. Man überläßt die Angelegenheit
den Bauernführern und hält sich zurück. Selbst die
banalsten gemeinschaftlichen Einrichtungen, ob nun die Einrichtung
einer Müllentsorgung oder der Aufbau einer Schule, kommen meist
nur auf Drängen von außen zustande - oft auf Initiative
der ELN, die mit kleinen Gruppen in den Dörfern präsent
ist und als Autorität anerkannt wird. Wie es sein könne,
daß die Guerilla Aufgaben übernimmt, die eigentlich die
Bevölkerung selbst lösen müsse, frage ich einen Kommandanten
der lokalen ELN-Front. Und ob die ELN, die doch so viel von direkter
Demokratie spricht, die Menschen damit nicht bevormunde. Die Kritik
sei berechtigt, antwortet der Mann nachdenklich - man merkt, daß
er sich Sorgen macht. Aber man müsse auch berücksichtigen,
in welcher Situation man hier lebe. "Der Paramilitarismus richtet
sich nicht gegen die Guerilla. Er bekämpft Gemeinderäte,
Kooperativen, Bauernorganisationen. Das soziale Geflecht soll zerstört
werden, jede Solidarität untereinander verschwinden. Was bleibt
uns da anderes übrig, als jeden Tag zu versuchen, dieses soziale
Geflecht wieder zusammenzuflicken?"
(Quelle: Junge
Welt 25.04.02)
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