TATblatt


NS-Euthanasiearzt Heinrich Gross:

"Dr. Speiberl vom Pavillon 15

Mittlerweile haben wir den achtseitigen Artikel über den NS-Euthanasiearzt Gross in der Zeitung "The Sunday Times" vom 14.9.1997 erhalten. Den britischen Journalisten gelang es offensichtlich nicht nur mühelos, Originalunterlagen aus den Prozeßakten über Gross einzusehen, während doch gegenüber Wißbegierigen aus Österreich strengstes Amtsgeheimnis herrscht, sondern auch binnen kurzer Zeit die Nachkriegsaffäre um Gross mit Fakten zu belegen, von denen selbst Justizminister Michalek in seinen parlamentarischen Anfragebeantwortungen offiziell nichts weiß. Zur Vorgeschichte siehe die TATblätter +64, +79, +82 und +85.

TATblatt; Quellen: The Sunday Times, DÖW-Mitteilungen

"The Monster of Pavillon 15" betitelte die Sunday Times ihren Artikel über Gross, den sie bei seiner Tochter in Purkersdorf in Niederösterreich aufstöberte. Allerdings wohnt Gross noch nicht sehr lange dort. Bis zur Veröffentlichung der in den Stasi-Archiven gefundenen Dokumente, also bis zum Dezember 1995, lebte Gross unbehelligt in einer noblen Dienstwohnung direkt auf dem Steinhof. Erst als die Diskussion um seine Person erneut aufbrach, zog er fluchtartig dort aus.

Gross war ein Nazi der überzeugten Sorte. Anhand von ZeugInnenaussagen ist belegt, daß er in seiner ersten Periode Am Spiegelgrund zwischen 1940 und 1942 der einzige Arzt dort war, der nicht einen weißen Kittel, sondern stets die Uniform der SA trug. Sein Arbeitsbereich war gemäß den Richtlinien des NS-Euthanasieprogrammes zweigeteilt, nämlich in einen klinischen und einen administrativen Bereich. Letzterer war schlicht die Begutachtung von eingelieferten Kindern und die Meldung zum "Reichsausschuß" nach Berlin.

Die "klinische" Arbeit von Gross brachte ihm von den Kindern den Spitznamen "Dr. Speiberl" ein, wie der ehemalige Gefangene Friedrich Zawrel berichtet. Zawrel war im Pavillon 17 des Steinhofs interniert, der für "geistig verwirrte" Kinder vorgesehen war. Gross war einer der ÄrztInnen, die zur Disziplinierung aus dem Tötungspavillon 15 für behinderte Kinder herüberkam. Seine Spezialität war die Verabreichung von Injektionen, wodurch die Kinder tagelang kotzen mußten. Gross folterte auf diese Art den trotzdem dank einer der wenigen menschlichen Krankenschwestern überlebenden Friedrich Zawrel.

Alois Kaufmann ist Überlebender des für "asoziale" Kinder verwendeten Pavillons 18. Auch er bestätigt das Werken von Gross. Laut Kaufmann hat Gross Selektionen im Pavillon 18 vorgenommen, woraufhin Kinder in den Pavillon 15 gebracht und dort umgebracht wurden.

Beide bestätigen, daß die behinderten Kinder im Pavillon 15 die grausamsten Schicksale erlitten. Gross und andere führten an ihnen Encephalogramme (besonders schmerzhafte Untersuchungen) durch oder bestrahlten die Gehirne der lebenden Kinder mit Röntgenstrahlen. Am 18.6.1942 starb das dreijährige Kind Johann Wenzl an der Folge einer von Gross durchgeführten Encephalographie.

Mehr zu den adminstrativen Aufgaben, die Gross durchführte, gehörten die Briefe an Angehörige, die einer Tötung vorausgingen. Einer Familie in Gmunden, Oberösterreich, schrieb Gross einen Brief: "Leider muß ich Ihnen mitteilen, daß Ihr Töchterchen an Fieber mit Erbrechen erkrankt ist". Der Zustand sei bedenklich, fügte "Der Assistenzarzt" Gross noch an. Solche "bedenklichen Zustände" überlebten Kinder am Pavillon 15 niemals. Im Prozeß gegen Gross im Jahre 1950 sagte die Kinderschwester Pauline Mladek aus, daß - während Gross am Spiegelgrund war - Kinder plötzlich verstarben. Manchmal waren sie noch ganz munter, doch plötzlich fingen sie unvermittelt zu schlafen an und starben kurz danach.

Völlig unglaubwürdig ist die Behauptung von Gross, daß er gegen die Euthanasierungen gewesen wäre. Belegt ist seine Teilnahme im Juli 1942 an einer Tagung des Reichsausschusses (T4) in einem staatlichen Krankenhaus in Brandenburg-Görden bei Berlin, das ein ehemaliges Gefängnis war und von den Nazis zu einem Euthanasiezentrum umgebaut wurde. Ebenfalls 1942 hielt er vor führenden NS-Eugenikern einen Vortrag über angeborene Defekte von behinderten Kindern anhand eines bestimmten dreijährigen Kindes.

Beinahe nahtlos ging sein Wirken zum Segen des NS-Staates in jenes für die 2. Republik über. Sein erstes wissenschaftliches Werk schrieb er 1952 gemeinsam mit der Steinhof-Ärztin Uiberrak, die seit 1938 am Steinhof werkte und ausnahmslos alle Gehirnpräparate der ermordeten Kinder anfertigt hatte. Gross wohnte und lebte bis 1995 Am Steinhof, der jetzigen Baumgartner Höhe, und hatte über Jahrzehnte die alleinige Kontrolle über den Raum mit den Gehirnen und die dazu gehörenden Akten. Sein Wohnort lag genau in der Mitte zwischen dem Pavillon 15 und dem Gebäude mit der Gehirnkammer. Am Höhepunkt seiner Karriere als Primararzt des Steinhofs erhielt Gross die höchsten Auszeichnungen der Republik Österreich für Wissenschaft und Kunst.

Den Umgang Österreichs mit Gross, der nur einer von zwei ÄrztInnen des Spiegelgrunds ist, die nicht nach dem Ende des Krieges gerichtlich rechtskräftig verurteilt wurden, zeigen das Justizministerium und die Baumgartner Höhe in ungebrochener Kontinuität. In den letzten acht Jahren war es gerade einer Handvoll Personen möglich, die Gehirnkammer zu sehen, die meisten von ihnen ausländische Fernsehanstalten und Zeitungen. In den letzten beiden Jahren waren es der US-Sender ABC, Ernst Klee im Auftrag der deutschen ARD, The Sunday Times aus Großbritannien und die Neue Zürcher Zeitung. Diese bekommen auch Zugang zu Akten, während im Inland eiserne Zensur herrscht. Friedrich Zawrel konnte die Gehirnkammer ebenfalls erstmals nur mit den Journalisten der Sunday Times betreten, Alois Kaufmann wurde noch vor nicht allzu langer Zeit von Pflegern des Pavillon 18 rausgeworfen.

In der Anfragebeantwortung von Justizminister Michalek an den grünen Abgeordneten Karl Öllinger konnte Michalek angeblich nicht feststellen, in wie vielen Fällen Gross im Nachkriegsösterreich bis einschließlich 1997 Gutachter für die österreichische Justiz war. Den Journalisten der Sunday Times gelang es, die Zahl zu ermitteln: 12.000 Fälle, worunter auch Friedrich Zawrel ist.

Literatur: Alois Kaufmann hat ein Buch über seine Zeit Am Spiegelgrund geschrieben. Es heißt "Spiegelgrund Pavillon 18", erschienen im Verlag für Gesellschaftkritik, Wien 1993.


aus: TATblatt Nr. +87 (20/97) vom 20. November 1997
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