Entengeschichten
Interview vom ID-Archiv mit der radikal (Teil IV)

Teil I
Teil II
Teil III
Teil IV
Teil V
Teil VI
Teil VII

ID-Archiv: Im August 1986 kam es mit der Nummer 132 zum großen Knall. Ein auf der letzten Seite abgedruckter Gruß zur Liquidierung des Siemens Managers Beckurts und die beigelegte Erklärung nahm die Bundesanweltschaft zum Anlaß, um bundesweit linke Buchläden und Wohnungen von WiederverkäuferInnen zu durchsuchen. Gerade die Grußadresse an die 'Genossen/innen aus der Stadtguerilla, die Siemens-Vorstandmitglied Beckurts liquidiert haben' auf der Rückseite des 2. Teils der Zeitung und die eingelegte Erklärung der RAF zu dem Anschlag, wurde von vielen Projekten schlicht als überflüssig eingeschätzt. Aber was noch mehr Verwirrung stiftete, war die Tatsache, daß dem Staatsschutz fast die gesamte öffentliche Verteilerstruktur in die Hände fiel. War das nun ein (inhaltliches und organisatorisches) oberflächliches Umgehen eurerseits oder einfach nur Zufälligkeit? Mit der Diskussion um die Nr. 132 kam ein weiterer Kritikpunkt hoch, nämlich die sogenannten 'Anleitungen' in den bisher erschienenen Ausgaben. Das Nachdrucken aus einer RZ-Broschüre mit Tips zur Sabotage, wurde von nicht wenigen als Spielen mit der Illegalität und Wortradikalismus eingeschätzt, deren juristische Konsequenz u.a. die WiederverkäuferInnen zu tragen hatten. Aber prinzipiell sind solche Anleitungen auch für Leute gefährlich, die aus Neugierde und ohne notwendigen Fähigkeit mal was ausprobieren wollen. Daß die 'Tips' aus der RZ-Broschüre, die auch in der militanten Szene umstritten waren und sind, einige gravierende Konstruktionsfehler aufwiesen, zeigten dann auch die regelmäßigen Korrekturmeldungen in den jeweils folgenden Nummern. Und es gibt genügend Beispiele, wo sich Leute daran (nicht nur) die Finger verbrannt haben. Sicher, jedes Herz kann eine revolutionäre Zelle sein, aber der Umgang mit explosiven Materialien vermittelt sich doch nicht auf ein paar Seiten der radikal, oder ? In den den letzten Nummern hat man keine Anleitungen mehr gelesen. Hat diesbezüglich bei euch eine Reflexionsphase stattgefunden ?

radi: als erstes möchten wir auf die fehler bei der nr.132 eingehen, und dann auf die inhaltliche kritik. für die betroffenen der kriminalisierung gehört das zwar zusammen, denn wenn du wegen der radi angegriffen wirst, mußt du viel klarer hinter dem projekt und inhalt stehen als vorher.
unsere situation ist anders, wir möchten nicht auf dem hintergrund des schlages der repression über den inhalt diskutieren, sonst wird etwas vermischt, was für uns nicht zusammengehört. wenn wir inhaltlich diskutieren und konzepte beratschlagen, dann muß das unter uns und unabhängig staatlicher einflüsse geschehen. es soll ja eine eigenständige position rauskommen, die natürlich von vielen entwickelt und getragen wird, möglichst auch von allen, die die radi verteilen. und wenn wir über die repression diskutieren, dann sind es organisatorische dinge die überlegt werden, wenn es dabei um die verbreitung der zeitung geht.

was die repression betrifft, sind wir verdeckt organisiert und z.b. buchläden öffentlich. was den inhalt der zeitung betrifft, bekommst du ein viel konkreteres verhältnis dazu, weil du ihn ja mitbestimmst und diskutierst. einige verteilerInnen haben die radi vor der nr. 132 nichtmal gelesen oder sich mit dem inhalt auseinandergesetzt. das ist gerade auch in buchläden kaum zu bewältigen, weil dort papier tonnenweise vorhanden ist und täglich wechselt.
es geht uns jetzt nicht darum, etwas als besser oder schlechter hinzustellen, sondern um unterschiedliche sichtweisen, entsprechend der eigenen situation und arbeit. für die verteilerInnen sind wir als radi ein fixpunkt, für uns waren sie hunderte verschiedene menschen und gruppen. es ist selbstverständlich, daß genossInnen am inhalt messen, ob sich das risiko der verteilung für sie selbst lohnt. und dann sollte eine diskussion entstehen, wo eine inhaltliche kritik auch uns gegenüber formuliert wird, damit wir damit umgehen können, und sie u.a. in die zeitung einfließen kann. das ist ja der sinn der kantaktadresse im ausland und überhaupt der sinn kontroverser diskussion, daß unterschiede dahingehend ausgelotet werden, ob und wie ein zusammengehen möglich ist.
von der kritik hat uns das meiste über zig stellen und gerüchte nur verschwommen oder in form absoluter sätze erreicht. damit konnten wir nichts anfangen. wir wußten meistens nicht, wohin wir uns wenden sollten. wo es klar war, haben wir über kontakte und briefe unsere sichtweise beschrieben und darum gebeten, die kritik deutlicher und für uns faßbar zu formulieren. in den meisten fällen wurden auch mehrmalige initiativen nicht aufgegriffen. das große schweigen hielt an, und der mißmut in den gerüchten endete uns gegenüber in vollständigem nichtverhalten.
aber es soll nicht das bild entstehen, wir wären fürchterlich aktiv gewesen und hätten überall eingegriffen. in den ersten monaten nach der 132 und auch später war das genaue gegenteil der fall. in der zeit fand ein bruch statt, der in kraftaufwand und auswirkung einen ähnlichen neuanfang bedeutete wie 84. wir haben uns gegenüber der kriminalisierung der struktur fast gar nicht verhalten. das war ein kitten von rissen, die bald so groß waren, daß du nicht mehr hinsehen konntest ohne aufgesogen zu werden.

jetzt konkret zu der nr.132:
das postamt in bielefeld, wo alles aufgeflogen ist, war eine entscheidende schnittstelle zwischen der illegalen und öffentlichen struktur. ähnlich ist es bei der auslandsadresse. beide punkte waren unverzichtbar, um den großen vertrieb zu bewältigen, und um wenigstens eine möglichkeit für die kommunikation zwischen illegaler redaktion und außenwelt zu ermöglichen.
an diesen punkten war die gefahr am höchsten für alle beteiligten, also auch für uns. während über die post die zeitungen aus der illegalen struktur rausgehen, ist der weg der briefe über die öffentliche adresse genau umgekehrt. die gefährung war uns bewußt, und wir haben sie inkauf genommen. das hieß akzeptieren, daß keine andere möglichkeit der verteilung vorhanden war, die die post hätte ersetzen können. so haben wir den postvertrieb dann organisiert: möglichst große sicherheit im verhältnis zu den eigenen kräften und möglichkeiten. z.b. wurden die zeitungen auf mehrere städte verteilt aufgegeben.
dann kam der hammer. wie die 132 und die namen der leute aufgeflogen sind, hat uns lange mundtot gemacht. es war plötzlich klar, daß von dem bewußtsein der gefahr zuwenig umgesetzt wurde, und dann noch am heikelsten punkt überhaupt. angesichts der summe und auswirkung der fehler hast du nicht nur die arbeit an der zeitung bezweifelt, sondern ob wir selbst dazu in der lage sind trotz über 2 jahren erfahrung. die stimmung war eine art kollektives schachmatt.

es fing damit an, daß gerade die 132 zu einem wesentlich größeren teil auf einem postamt aufgegeben wurde, als geplant. der grund war eine nicht vorhersehbare "naturgewalt", die wir nicht genauer beschreiben können. jedenfalls haben die betreffenden genossInnen in einer hektischen situation, in der keine zeit für überlegungen war, so entschieden. andere hätten evtl. anders gehandelt, aber im nachhinein läßt sich vieles klarer beurteilen, als in der konkreten situation. die große menge kann auch eingrund gewesen sein, warum die postler mißtrauisch wurden. wahrscheinlicher waren es die offenen umschlage der einzelabos. wenn du die zeitung offen als 'büchersendung' verschickst, hat es 90 pfennig gekostet. beim geschlossenen versand sind es 3 mark, und insgesamt hätte das mehrere tausend mark mehr porto bedeutet.
der schlimmste fehler war, wie die paketkarten beschriftet waren. das problem ist schon vor der 132 ansatzweise aufgefallen, aber in der hektik war es plötzlich weg. dafür könnten wir uns selbst eine reinhauen, aber die folgen werden nicht ungeschehen.
zwischen august 86 und februar 87 wurden 60 läden und 59 wohnungen durchsucht. 5 leute wurden stellvertretend für alle zu teils hohen bewährungsstrafen verurteilt, nachdem insgesamt gegen 192 nach 129a ermittelt wurde.
es lief so ab, daß zuerst die offenen einzelabos auf geflogen sind, die in einem gesonderten bereich der post abgegeben wurden. ca. eine woche später hatten sich die bullen über bka, baw und bgh mit einem beschlagnahmebeschluß bis in die paketanahme vorgearbeitet. viele pakete waren da schon weg, aber nicht die dazugehörenden paketkarten. ein abschnitt. mit empfänger, absender und gewichtsangabe wird aufbewahrt für spätere reklamationen. ohne diese abschnitte hätten die empfänger der bereits verschickten pakete nicht ermittelt werden können. jede information auf der paketkarte hatte für die bullen eine wichtige funktion. anhand des absenders - das war die gültige auslandsadresse - und des einheitlichen schriftbildes auf den aufklebern, konnten sie mühelos den verteiler unter anderen paketkarten herausfischen. neben dem empfänger bekamen sie auch eine zahl auf dem aufkleber geliefert, die sie als anzahl der zeitungen im paket interpretierten. das mußten sie dann nur noch mit der gewichtsangabe durch die post vergleichen und behaupten, daß hier und dort jeweils soundsoviel zeitungen angekommen wären. oft fanden sie bei den durchsuchungen noch das paket selbst, rechnungen, begleitschreiben und sogar ältere ausgaben. aber es wäre nicht nötig gewesen, denn der rest war formsache. ein regionaler staatsanwalt fügte der anzahl ein "zum zwecke der verteilung" hinzu und beantragte ohne große verrenkungen nach 129a.
der hintergrund all dieser 'oberflächlichkeiten' waren machtstrukturen innerhalb des kollektivs. frauen mußten gegen die bevormundung von männern und deren art politik zu machen ankämpfen. es gab starke unterschiede in der frage, auf welche menschen wir uns beziehen, über die wertigkeit von militanz, und entsprechend in welchen politischen bereichen schwerpunkte gelegt werden müssen. all das - und noch viel mehr - führte zu destruktiven kämpfen untereinander, und die beiden teile der nr.132 wurden grob das produkt zweier fraktionen. nach der 132 spaltete sich die gruppe, weil einige sich zu hassen begannen und alle anderen sich dagegen nicht durchsetzen konnten. die repression trieb den konflikt auf die spitze. der schlag nahm dir die ruhe und den abstand, die genau zu diesem zeitpunkt nötig waren, damit wir uns ohne druck von außen mit uns selbst beschäftigen können.
mit abstand lassen sich die fehler fassen und daraus lernen. wir hoffen, damit möglichst sorgfältig umgegangen zu sein. in der situation damals wären viele dinge nicht vorstellbar gewesen, auch wenn sie gedacht worden wären.
klar ist die scheiße mit der beschriftung der paketkarten oder daß die offenen umschlage auf kosten der sicherheit gingen. nach dem schlag der repression war leicht vermittelbar, warum ein geschlossener versand nötig ist, und daß deshalb ein abo teurer wird. es war auch läden vermittelbar, daß der z.b. im buchhandel übliche 30% rabatt wegfällt, weil kohle als motivation bei der verteilung keine rolle mehr spielte. aber ob das vorher verstanden worden wäre, halten wir bei den meisten für unwahrscheinlich, denn sehr viele haben nichtmal die schulden trotz rabatt bezahlt. und das kohleproblem war der konkrete grund für die offenen umschlage und so der hauptsächliche ansatz, über den alles aufgeflogen ist.
kriminalisierung und repression haben auch ein bewußtsein und so möglichkeiten geschaffen, die vorher nicht in der art vorhanden waren. das ist nicht zynisch gegenüber den betroffenen gemeint. es geht eben um einen bewußtseinsprozeß, weswegen die repression unserer meinung nach zum teil gescheitert ist. also es ist kein zufall, daß schon in der nr.133 eine diskussion mehrerer gruppen über das konzept und selbstverständnis der radi anfing, und daß darüberhinaus immer mehr genossInnen die notwendigkeit sehen, für und in der struktur mitzudenken und verantwortung zu übernehmen. und das liegt nur zum teil an unserer vermittlung in und außerhalb der zeitung.

zur inhaltlichen kritik bei der frage:
der gruß an das raf-kommando und die erklärung waren die juristische handhabe tür die repression. dieser spezielle inhalt der nr.132 wurde hervorgehoben, weil damit auf die fortgeschrittene distanzierung vom "Terrorismus" auch bei linken aufgebaut werden konnte, und so die razzien und prozesse leichter zu legitimieren waren.
nicht allein dieser inhalt der 132 wurde kriminalisiert. es war fast der gesamte inhalt, der gegen irgendein gesetz verstieß. z.b. die aufforderung zum klauen, die anschlagserklärungen oder ein Artikel zur pfingstrandale in wackersdorf, in dem "der Gewalt das wort geredet" wurde. also gewalt von unten gegen gewalt von oben ist kriminell, und die waa wird jetzt aus profitgründen nicht mehr gebraucht.
wir denken daß die repression auch gegen die nr.131, 133 oder jede andere ausgabe zugeschlagen hätte, wenn die bullen den konkreten ansatz wie in bielefeld gehabt hätten oder in zukunft bekommen. juristische vorwände lassen sich immer finden, weil sie existieren.

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kombo(p) | kombo@riffraff.ohz.north.de | 28.6.1997