Grenzcamp 2000

3. antirassistisches Grenzcamp
der Kampagne 'Kein Mensch ist illegal'
vom 29. Juli bis 6. August 2000
in Forst / Brandenburg
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Männer aus Berlin
[03.08.2000]

Zur Geschlechterfrage

Wir verstehen Geschlecht als - sehr solide - soziale Konstruktion: als Existenzweise.

Geschlecht ist eine komplexe Verbindung verschiedener historisch entstandener Denk- und Gefühlsweisen, Körperpraxen, gesellschaftlicher Verhältnisse und Institutionen: eine historisch bestimmte Art und Weise zu existieren.*

Wir finden es richtig, sich auf die eigene (Geschlechts-) Identität politisch zu beziehen, solange man(n) im Auge behält, daß diese Identität weder einheitlich noch natürlich ist.

Unser politisches Ziel ist nicht die Verbesserung, sondern die Abschaffung von Geschlecht. Deswegen kann es für uns keinen positiven Bezug auf Männlichkeit geben (was nicht bedeutet, daß alle als männlich codierten Eigenschaften immer und in jeder Form schlecht sein müssen).

Irgendeine -möglichst "andere" - Männlichkeit zu leben erscheint uns als pragmatische Notwendigkeit. Versuchen, transgender, tendenziell jenseits der Geschlechter zu leben, stellen sich massive, in vielen Gegenden der Welt praktisch unueberwindliche, politische, oekonomische und psychische Widerstaende entgegen. Ein voelliger Ausstieg aus dem System Geschlecht ist unter den gegebenen Bedingungen genausowenig moeglich, wie eine klassenlose oder nicht rassifizierte Existenz zu fuehren. Dennoch haben wir den Anspruch, unsere persönlichen/politischen Bemühungen auf die Subversion von Männlichkeit auszurichten: Es geht um Entmännlichungsstrategien.


Die gegenwärtig stattfindende (ansatzweise) Lockerung des Zusammenhangs von biologischem Geschlecht (sex) und sozialem Geschlecht (gender) begreifen wir als ambivalente Entwicklung. Wir sind nicht so naiv zu glauben, ein paar Hausmänner und GI Janes und ein wenig cross-dressing in der Metropole stellten schon die Grundstrukturen globaler patriarchaler Ausbeutung und Herrschaft in Frage. Im Gegenteil, der schöne Schein der neuen Geschlechter-Unübersichtlichkeit dient auch dazu, über die andauernde Stabilität der patriarchalen Verhältnisse hinwegzutäuschen.

Dennoch sehen wir in der real stattfindenden Flexibilisierung von Geschlecht einen Ansatzpunkt für antipatriarchale Politik.

Die Ambivalenz der Entwicklung besteht darin, daß sie, obwohl sie das Potential zum radikalen Bruch mit der patriarchalen Geschlechterordnung in sich trägt, viel wahrscheinlicher dabei ist, in eine bloße Modernisierung zu münden. Was passieren wird, entscheiden die sozialen Kämpfe der Gegenwart.


Weil unsere Existenz als Männer eine solide gesellschaftliche Tatsache ist, betrachten wir es als sinnvoll, uns auf unsere Geschlechtsidentität politisch zu beziehen, zum Beispiel, indem wir uns in Männergruppen organisieren.

Männergruppen finden wir einerseits problematisch, andererseits gut und nützlich. Problematisch, weil sie ein Ausweichen vor der direkten Auseinandersetzung mit Frauen ermöglichen; weil sie der Stabilisierung einer leicht renovierten männlichen Identität dienen können; weil jede Männergruppe die Tendenz hat, zum Männerbund zu werden.

Dies sind für uns jedoch keine Gründe, Männergruppen aufzugeben, sondern Probleme, um die man(n) sich kümmern muß.

Gut und nützlich sind Männergruppen, weil sie Prozesse persönlicher Veränderung ermöglichen, die in gemischten Gruppen durch Wut, Verletztheit oder Unverständnis zwischen den Geschlechtern oft sehr erschwert werden. Sie bieten eine Alternative zur üblichen Struktur emotionaler Ausbeutung von Frauen durch Männer und zwingen (heterosexuelle) Männer dazu, sich umeinander zu kümmern und sich auseinanderzusetzen. Sie können ein großes Potential verschütteter Wünsche nach Nähe (vor allem zwischen heterosexuellen Männern) freisetzen und damit nebenbei bei der Bearbeitung eines zentralen Strukturelements patriarchaler Vergesellschaftung, der Homophobie nämlich, nützlich sein.

Um zu vermeiden, daß Frauen Nachhilfe in feministischer Theorie geben müssen, sich konventionelle Rede- und Verhaltensstrukturen reproduzieren oder die Diskussion durch Angst vor Verletzungen gelähmt wird, halten wir es für sinnvoll, viele Debatten nicht gemischtgeschlechtlich zu führen, besonders wenn sie persönlicher werden (z.B. wenn eigene Begehrensstrukturen, verinnerlichte Schönheitsbilder u.Ä. zur Sprache kommen).

Das heißt nicht, daß wir keine gemischten Debatten über Männlichkeit, Geschlecht, Patriarchat führen wollen.


Wir verstehen "AntiPat" nicht als politischen Teilbereich, den man spezialistenhaft beackern könnte. Für uns stellt sich die Geschlechterfrage in allen Politikbereichen und wir versuchen -nicht neu, aber immer wieder aktuell- den klassischen, abstrakt-männlichen Politikbegriff in Frage zu stellen. Wir interessieren uns für das spannungsreiche Verhältnis von Therapie und Politik, Ästhetik und Politik, ohne uns von den klassischen Formen öffentlicher Politik zu verabschieden.


Warum ist für uns -und ausgerechnet für uns als Männer- Geschlecht eine zentrale politische Kategorie? Und wie vermittelt sie sich mit anderen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen?


Emanzipation ist nicht nur die Befreiung von äusseren, sondern auch von inneren Zwängen. Es geht nicht nur um die Veränderung von Strukturen zwischen Menschen, sondern auch in Menschen -überhaupt macht es oft keinen Sinn , zwischen Strukturen ausserhalb und innerhalb von Individuen zu unterscheiden: das ist eine bürgerliche Illusion. Emanzipation besteht auch in der Befreiung von systemkonformen Wünschen (denunziatorisch: Süchten) und der Entfaltung systemüberschreitender Wünsche.

In diesem Kontext wollen wir die Aussage verstanden wissen, daß Linksradikalität gerade darin besteht, gegen die eigenen Interessen -als Männer, als Weiße- zu handeln und für unser Verlangen nach Autonomie und Kollektivität einzutreten.

Wir fänden es wichtig, daß Männer ihre Männlichkeit, Weiße ihre Weißheit, allgemein gesagt: Privilegierte ihre als normal und universell daherkommende unmarkierte Differenz zum Problem, zum Politikum machen würden.

Das bedeutet nicht, den anderen ständig mit den eigenen Identitätsproblemen und -leiden in den Ohren zu liegen. Im Gegenteil, es geht um eine realistische Einschätzung der eigenen gesellschaftlichen Stellung - und für das zweifellos notwendige Betrauern der Kosten oder Leiden, die das Hineinwachsen in eine privilegierte Identität mit sich bringt, gibt es z.B. Männergruppen.


Den großen theoretischen Wurf, der weder alles Gesellschaftliche auf eine Logik reduziert, noch unterschiedliche Unterdrückungsverhältnisse bloß unvermittelt nebeneinanderstellt, haben wir leider auch nicht anzubieten.

Fest steht: das patriarchale Geschlechterverhältnis muß im globalen Rahmen, integriert mit nationalen, rassistischen, ethnischen Vergesellschaftungsformen analysiert werden.

Entgegen der Tendenz in manchen Fraktionen der radikalen Linken, daß Klasse einfach mega-out ist, muß sich um den Zusammenhang von Kapital und Patriarchat, Antisexismus und Klassenkampf gestritten werden. Aber weder die Thematisierung der "sozialen Frage", noch des Rassismus darf dazu führen, patriarchale Unterdrückung und Ausbeutung unterzubelichten. Jeder geschlechtsblinde Begriff von Kapital ist schlicht falsch und auch das gesellschaftliche Naturverhältnis, ganz zu schweigen von Staat, Nation, Antisemitismus, Rassismus und Ethnizität lassen sich geschlechtsneutral nicht adäquat begreifen.


Geschlecht spielt eine zentrale Rolle bei der Organisation menschlicher Emotionalität und Körperlichkeit. Und auf die kommt es bei gesellschaftlichen Veränderungen ganz entscheidend an, denn die Zustimmung zum Bestehenden sitzt eben nicht nur im Bewußtsein, "in den Köpfen", sondern die Macht ist auch in den Körpern, im Begehren verankert.

Auch aus diesem Grund ist Geschlecht für uns eine zentrale politische Kategorie.

Die reale Gefühls- und Körperfeindlichkeit auch der radikalen Linken ist ein Zeichen der patriarchalen Verfaßtheit dieser Szene.

Es geht uns nicht um Gefühls- und Körperkult, hier soll keiner naiven Romantik noch bürgerlicher Kulturkritik das Wort geredet werden. Genausowenig geht es darum, den gesellschaftlich konstruierten Zusammenhang von Weiblichkeit mit Emotionalität und Körperlichkeit als natürlich hinzustellen, oder Stereotype patriarchaler Weiblichkeit (die Frau als naturnäher, gefühlvoller usw.) positiv zu besetzen.

Worum es eigentlich gehen sollte, ist der Ausstieg aus den patriarchalen Dichotomien* Natur/Kultur, Körper/Geist, Gefühl/Vernunft, Weiblich/Männlich...

Wir meinen, daß zur Konstruktion einer radikalen Linken, zum Aufbau dauerhafter, widerständiger sozialer Zusammenhänge, auch ein anderer als der bisher in weiten Teilen der Politszene übliche rationalistisch-verdrängende Umgang mit Gefühlen und Körperlichkeit nötig wäre: praktisch, kritisch, materialistisch, soll heißen: die Materialität unseres Lebens bejahend.


* Das Konzept Existenzweise versucht eine begriffliche Balance zwischen gesellschaftlicher Struktur einerseits und Besonderheit der Individuen andererseits zu finden. Außerdem vermeidet ein Verständnis von Geschlecht als Existenzweise es, Geschlecht auf ein Bewußtseinsphänomen, auf ein psychisches Geschehen oder etwas den Einzelnen letztlich doch Äußerliches (z. B. "Rollen") zu reduzieren.

* damit meinen wir absolute Gegensätze, in denen ein Pol dem anderen hierarchisch übergeordnet ist


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