Dietricht Kuhlbrodt:
"Normalität: Nazi"
Dann stand er also neben mir. Im Foyer des Abaton-Kinos in Hamburg, Oktober 2006. Junger Mann noch, Redakteur des Spiegel. Eben noch saßen wir auf dem Podium. Klaus Wiegrefe: „Das haben Sie ja geschafft, gegen mich Stimmung zu machen. Ganz schön unfair das“. Ich war gerührt: der Redakteur zeigte Emotionen – in eigenen Angelegenheiten. Auf der Bühne war er noch kalt und arrogant gewesen. Auch konnte er kein Ende finden, Hannes Heer (Wehrmachtsausstellung), der neben mir saß, vorzuwerfen, er habe vor zehn Jahren dies oder jenes Foto falsch zugeordnet, er sei extra drei Wochen im Archiv gewesen, um den Fehler zu belegen. – Die Suada war völlig daneben, denn wir hatten grade den neuen Film von Michael Verhoeven gesehen. „Der unbekannte Soldat“. Das waren eigene Recherchen gewesen, Reisen in die Ukraine und nach Weißrußland, Augenzeugen von Babij Jar, Empathie mit den Opfern, ein Wehrmachtssoldat filmt einen Kameraden, der ein kleines Kind von der Mutter reißt; immer wieder dreht sie sich um und macht Schritte auf das Kind zu; immer wieder versucht der Dreijährige, der Mutter nachzulaufen; ein Hieb mit dem Kolben treibt sie in die Gruppe, die jetzt ermordet werden soll. – Ich hatte diese Aufnahmen noch nie gesehen. Mir ging diese Szene, dieser Film nahe. Dem Publikum ging es ebenso, und ich fragte den forschen Redakteur, ob er nicht etwas für die Opfer empfinden könne und auch nicht etwas für die Zuschauer, die grade dabei wären, eine Haltung gegenüber dem einzunehmen, was der Film zeigte. Es ginge doch jetzt um das, wie man den Film erfahre, wie man ihn wahrnehme und ihn rezipiere – und nicht darum, dass er, der Redakteur, sich zehn Jahre lang damit brüste, dass er in nur drei Wochen eine Ausstellung zu Fall gebracht habe.
Mein Kontrahent fing auf dem Podium wieder damit an, dass irgendwelche Zahlen nicht gestimmt hätten. Ich formulierte etwas in der Richtung, dass der Kältestrom, der von ihm ausginge, bei mir Emotionen auslöste – was mir der Beifall der Zuschauer eintrug -, doch ermahnte ich mich nachdrücklich, nicht das Wort Schreibtischtäter zu benutzen, obwohl die bürokratische und rechthaberische Mentalität und die Blindheit, Menschen und Opfer hinter den Zahlen zu sehen, mich ganz schön aufbrachte.
Zurück zum Foyer. Was wollte er noch von mir? Ich sollte seine Verdienste würdigen. Er habe schließlich diese Spiegel-Artikel zum Film „Der Untergang“ geschrieben. - In der Tat, dort war es um Einfühlung und Empathie mit einem Menschen gegangen – mit Hitler. Ich stand dem Yuppietyp Nase an Nase gegenüber. Eins in die Fresse? Nä, ich war ja grade als Oberstaatsanwalt a. D. vorgestellt worden und als Verfolger von Naziverbrechen in den sechziger, siebziger, achtziger Jahren. Also korrigierte ich, akademisch gesittet, die Aussage meines leicht schwammigen Gegenübers. „Artikel zum Film Der Untergang? Richtig ist: die Kampagne vor dem Film. Den gabs noch gar nicht, als die Coverfotos vom Führer den Spiegel schmückten und als drin im Heft schon mal zwanzig Seiten auf Bruno Ganz und seinen Führerbunker draufgingen“. „Stimmt nicht“, sein Einwand, „es war keine Kampagne. Dazu gehören mehrere“. Also gut, so entsorgt man über Definitionen die Argumentation. Davon abgesehen, waren es mehrere, die die einmalige und immense Medienkampagne vor dem Filmstart betrieben. Ich hatte sie in meinem Buch „Deutsches Filmwunder: Nazis immer besser“ beschrieben; das Buch war erst wenige Monate alt. „Bild“, FAZ, Die Welt (Ganz-Hitler: „Ein Antlitz, das vor Milde schimmert“), Springers Hamburger Abendblatt („Vom ‚Faust’ zum Führer“), ZDF-Knopp auf seine eigene Art. War das die neokonservative Wende? Eine deutschnationale Wende, die Hitler und die Altnazis zur Normalität machte? Die Welt hatte 2003 formuliert: „’Der Untergang’ ordnet sich ein in einen allgemeinen Perspektivenwechsel, der... vielleicht einmal als die entscheidende politische und kulturelle Signatur des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts bezeichnet werden wird.“ Wir wohnen also einer Entscheidungsschlacht bei, dann wären Ohrfeigen doch legitim.
Rechtzeitig aber drang jetzt etwas an mein Ohr, was mich an meiner aufkommenden Paranoia zweifeln ließ. Mein Spiegelyuppie belehrte mich, dass seine Artikel (und die ganz allein, weil es ja keine Kampagne gewesen sei), den „Untergang“ weltweit zu 500 Millionen Zuschauern verholfen habe. – Ja, stimmt, das macht dir keiner nach. Journalisten machen Quoten.
Nebenergebnis dieser Quantitätsorgie ist, dass Hitler und seine Altnazis weltweit Normalfall geworden sind. Eine neue Qualität: das Mein-Opa-war-kein-Nazi formuliert sich positiv als „Mein-Opa-war-normal“. Damit haben wir 2006 zweierlei erreicht: erstens die Rückkehr der Adenauerzeit (wir waren Deutsche, keine Nazis) und zweitens den Boden für die Etablierung unserer Neonazis in der total normalen bürgerlichen Mitte. Warum sollten sie sich an der allgemeinen Vernormalisierung nicht erfreuen dürfen? In den neu gewonnenen Ostgebieten der Bundesrepublik Deutschland sind es die Rechtsextremen, die sich um Bürger, um die Jugend, um kommunale Belange kümmern, während die Altparteien sich längst abgesetzt haben. Dieses Fazit ist Konsens derselben Medien, die Hitler nicht zum Untergang, sondern zur Wiederkehr verholfen hatten. Schimmert da ein klitzekleines Quantum Schadenfreude durch?
Und nun? Nach der neukonservativen Perspektive auf das nächste tausendjährige Reich? War das nix gewesen, was wir was wir vor vierzig Jahren in der Zentralen Stelle für die Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Ludwigsburg begonnen hatten? 1965 hatten wir noch das Gefühl, etwas tun zu müssen. Empathie mit den Opfern! Täter ermitteln! Die Jungstaatsanwälte, die von den Ländern abgeordnet worden waren, kamen sich in Ludwigsburg kaserniert vor, abgeschottet von der Stadt, ungeliebt von den Behörden, gemobbt von den Bürgern. Die Arbeit dort war so organisiert, dass Erfolge ausbleiben mussten. Nach 1 Jahr war generell die Abordnungszeit um – zu kurz, um sich in die Akten von Großverfahren einzulesen. Also begann der nächste mit der Lektüre – von Null an. Die Zentrale Stelle hatte sowieso nicht das Recht, Anklage zu erheben. Damit wurde eine Staatsanwaltschaft betraut - womöglich in der Provinz. Irgendeine. Wieder las einer in der Provinz die Akten oder besser, er las sie nicht, weil kleine Staatsanwaltschaften für Großverfahren schlechterdings keine Kapazität hatten. – Nebenbeigesagt lief nach dem Anschluss der DDR die Verfolgung von DDR-Verbrechen wie geschmiert. Beim Berliner Generalstaatsanwalt arbeiteten ständige Topdezernenten, und selbstverständlich konnten sie auch Anklage erheben.
In Ludwigsburg arbeiteten wir unseren Frust ab. Ich hatte damals schon zehn Jahre über Film geschrieben und die politische Filmzensur der Adenauerzeit gegeißelt. Kamen in den fünfziger Jahren in ausländischen Filmen Nazis vor, wurden sie in Westdeutschland als „antideutsch“ wahrgenommen, herausgeschnitten oder umsynchronisiert. Der Klassiker „Casablanca“, gedreht 1942, wurde zehn Jahre später in der BRD um 20 Prozent gekürzt. Alle Hinweise auf Nationalsozialismus und Vichy-Regime waren getilgt, die politischen Konflikte zu einer Agentengeschichte vereinfacht und der ungarische Widerstandskämpfer in einen norwegischen Atomphysiker verwandelt. Der nazideutsche Major Strasser, gespielt von Conrad Veidt, musste ganz draußen bleiben. Er kam im Film nicht mehr vor.
Ich machte 1965 im Sender Freies Berlin eine Sendung über Filmzensur. Mein Paradebeispiel war die Tätigkeit eines zunächst geheimen Ausschusses, besetzt von den Bonner Ministerien, der 1963 aus „Alexander Newski“, dem Film, den der große Sergej M. Eisenstein 1938 in der UdSSR gedreht hatte, das erste Kapitel entfernte. Als „deutschfeindlich“ wurde der brutale Überfall der Ordensritter auf Russland interpretiert. Gesehen werden durfte nicht, wie die deutschen Ritter Kinder von ihren Müttern reißen und ins Feuer werfen, allerdings nicht ohne sie vorher gesegnet zu haben. - Die verstümmelte Fassung begann nun damit, dass russische Bauern und Soldaten die Aggressoren sind, die deutsche Christen angreifen
und vertreiben. – Der deutsche Zuschauer der Adenauerzeit fühlte sich dank der politischen Zensur bestätigt. Wir sind die Opfer, wir sind die Vertriebenen. – Nachdem der SFB-Film fertig geschnitten und abgenommen war, auch der Sendetermin feststand, kam dann doch, kaum war ich zurück in Ludwigsburg, ein leibhaftiger Staatssekretär aus dem Bonner Innenministerium nach Westberlin gereist –zwecks Zensurierung meines Beitrags. Im Gebäude der Sendeanstalt.
In Ludwigsburg konnten wir uns über direkte Zensur nicht beklagen. Was blockierte, war struktureller Art. Auf den langwierigen Wegen durch die Bonner Ministerien versackte beim Auswärtigen Amt das eine oder andere Rechtshilfeersuchen. Unter der Hand in Norwegen nachgefragt: die Antwort war schon vor Monaten abgesandt. Das Auswärtige Amt: Aja, gefunden; hier ist der Brief. Rückfrage ans AA (über Landes- und Bundesministerien): Da steht was von Anlagen; wo sind die? Antwort: Aja, gefunden, hier sind sie. – Es waren wichtige Zeugenvernehmungen. – Skandalöser noch war die juristische Doppelzange, mit deren Hilfe uns das politische Bonn das Gros der verfolgbaren Täter entwand. Für uns Jungsstaatsanwälte war es die Generation der Kameradenväter, die an den politischen Schalthebeln saßen und uns mattsetzen. Durch ein unauffälliges Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz wurde die Verjährung der Teilnahme an Mordaktionen eingeführt. Über Nacht. Keiner hatte das vorausgesehen, niemand wollte das vorausgesehen haben. Die Schreibtischtäter waren fein rein raus. Denn das waren generell keine Haupttäter. Sie wollten ja nur Quoten erfüllen, ***, sie wollten bürokratischen Zahlenvorgaben genügen. Opfer? So was sahen sie nicht. Empathie? – Wie meinen?
Die Schreibtischtäter hatten recht. Grade weil sie unmenschlich dachten und handelten, kam sie juristisch davon. Denn, und das war der zweite Streich, die alten Herren im Bundesgerichtshof hatten dazu passend geurteilt, dass die Haupttäter der Massenmorde und des Holocausts die Initiatoren seien – Hitler, Himmler und so weiter, leider alle schon tot – und nicht die Befehlsempfänger wie Du und ich, Kamerad.
Also schlossen wir in Ludwigsburg, demotiviert, gar gedemütigt, eine um die andere Akte und verfügten „weglegen“. Hinter den Gitterstäben des Frauengefängnisses Schorndorfer Landstraße 58 standen wir, im Erdgeschoss, und sahen auf der Straße einen großen Zug vorbeiziehen. Getragene Musik, ein großes blaues Kissen mit vielen blanken Orden drauf. Dahinter die Honoratioren der Stadt, dann eine kaum übersehbare Schar von alten Herren. Ja, es war der 21. April 1966, und der SS-General Sepp Dietrich, Führer der Leibstandarte Adolf Hitler, wurde feierlich zu Grabe getragen. Doch wie bei einer Demo, wie sie zwei Jahre später begannen, reckten sich Fäuste aus der Menge. Sie galten uns. Und immer wieder hörten wir: „Wir kriegen euch noch!“
Wir waren die Störer. Die Delegation der Partnerstadt Montbéliard, gebeten für den nämlichen Tag, war dagegen rechtzeitig ausgeladen worden – mit der Begründung, der Besuch störe die Beerdigungsfeierlichkeiten. Ganz umsonst war ein Nebengäßlein den Partnern zuliebe in Mömpelgardstraße umbenannt worden – in schönster Frakturschrift.
Wie also sollten wir uns verhalten? In den Augen der Stadt waren wir „der Schandfleck des blühenden Barock“; der Oberbürgermeister sah das auch so. Im Gefängnis war er nur deshalb gewesen, um zu sehen, wie die Räume genutzt werden könnten, wenn wir wieder weg seien. So erklärte er es in einer Panoramasendung im gleichen Jahr. Immerhin war er sichtlich erfreut, an der Wand die Landkarte mit den Wegen zu sehen, die die Einsatzzüge zur Tatzeit genommen hatten, „weil ich da ja auch gewesen bin“.
Also besser unsere Hilfsbeamten fragen von der baden-württembergischen Kriminalpolizei.
Brandsätze durch die Zellengitter? Feuerlöscher! – Nachts? Feldbetten! – Angriffe? Waffen! – Weißer Jahrgang? Üben! – Wo? Hier!
Also kaufte ich aus Altbeständen der Polizei für 250 DM eine Saurer & Sohn 7.65 Baujahr 1932. Zum erstenmal eine Waffe in der Hand! Zum erstenmal auf einem Schießplatz! Die schwäbischen Polizisten hatten ihn uns gezeigt, aus dem Auto heraus. Da! Da! Und weg waren sie. Nach den ersten Schüssen kamen hinter der Wand Kinder hervor und fragten: Onkel, was machst du? – Der Schießstand war längst aufgelassen und zum Abenteuerspielplatz geworden. Um es kurz zu machen, wir hatten kein Ludwigsburger Kind getroffen und konnten im blühenden Barock bleiben und Akten erledigen. Über Film schreibend, verfolgte ich, wie in diesem Medium mit Nazis verfahren wurde – von den affirmativen Wehrmachtsfilmen der Adenauerzeit über die ein wenig kritische Phase der siebziger Jahre bis zur neuen Rehabilitierung in „Napola – Elite für den Führer“ und im „Untergang“. The Return of the Nazi – eine mediale Inszenierung. Eins zu null für meinen Spiegel-Redakteur. ***Stimmung gegen ihn? Aber nein! Vergiß das Abaton-Kino, think big! Er war es, der global Stimmung gemacht hatte - für sich und Ganz-Hitler.