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OKTOBER 2003

Nürnberg: Bratwürste, Reichsparteitage, Rassengesetze, Menschenrechte …

Mit großem Brimborium bemühen sich die bürgerlichen Parteien, Nürnberg den Ruf einer „Stadt der Menschenrechte“ zu verpassen.

Zur Schau gestelltes Gutmenschentum neben faschistischer Kontinuität, Menschenrechtsfilmfestivals und rassistische Behördenpraxis, „Friedenstafeln“, organisiert und getragen von den Parteien, die für deutsche Kriegseinsätze verantwortlich sind: …

Warum das Nürnberger Rathaus, regiert von denselben Parteien, die auch die Bundesregierung stellen und als solche verantwortlich zeichnen für die Toten an der BRD-Grenze, für die Abschiebungen in Folterstaaten und ins Elend, für die Opfer ihrer uniformierten Killer im In- und Ausland, warum die Stadtregierung Nürnbergs alljährlich einen Menschenrechtspreis verleihen kann, ohne öffentlich verlacht zu werden - diese Frage brachte uns zu ein paar Überlegungen über Menschenrechte, bürgerlichen Anspruch und die Ausblendung der Wirklichkeit.

Sehen wir uns zunächst die Geschichte der Menschenrechtsidee an: Mit dem Aufstieg der Bourgeoisie zur ökonomisch bestimmenden und später zur herrschenden Klasse wurde das alte Feudalrecht mit seinen ständischen Einschränkungen, Privilegien und Rechten zu einem wirtschaftlichen Hemmnis. Zwar war die staatliche Rechtsprechung und die allgemeine Rechtssicherheit bereits im Verlauf des Mittelalters ausgebaut worden, rechtliche Gleichheit aber gab es nur vor Gott, absolute Rechtssicherheit und nicht durch den Stand eingeschränkten Zugang gewährte allein die himmlische Gerechtigkeit. Den Bürgern war allerdings an mehr gelegen als an ihrer unsterblichen Seele. Sie benötigten eine Rechtsordnung, die der neuen Art des Wirtschaftens und der dominierenden Rolle des Bürgertums gerecht würde.

In Holland, Nordamerika und Frankreich: Wo immer die Bourgeoisie in einer Umwälzung die Macht ergriff, tat sie das nicht im Namen der eigenen Interessen, sondern im Namen aller unterdrückten Klassen, manchmal gar im Namen der gesamten Menschheit. So wurde (und wird) in den bürgerlichen Verfassungen und Menschenrechtserklärungen dem Bankier und Minister genauso die Sicherheit seines Eigentums vor willkürlichem Zugriff verbrieft wie der Bettlerin. Die Gleichheit der Geburt und die Gleichheit vor dem Gesetz erklärt das Bürgertum für alle Marktakteure, für den Kapitalisten wie für das in der Fabrik schuftende Kind.

Im Artikel 1 der „Virginia Bill of Rights“ von 1776, in dem alle Menschen (also alle weißen Männer) als von Natur aus gleichermaßen frei erklärt werden, zählt zu den „angeborenen Rechten“ „der Genuss des Lebens und der Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu besitzen und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen.“ Hier wird nichts weniger als der Wille der Natur erklärt, die für das aufgeklärte Bürgertum Gott ersetzt hat und die identisch ist mit den Gegebenheiten der kapitalistischen Gesellschaft. Ihr nicht zu gehorchen käme nur Idioten in den Sinn, ihrem „Willen“ sind zweifelsfrei alle Menschen unterworfen.

In allen folgenden bürgerlichen Erklärungen angeborener Menschenrechte finden wir beides wieder: die behauptete Allgemeingültigkeit und das Recht auf Eigentumserwerb als wesentlichen Punkt. Da das Recht auf Eigentum nichts weiter ist als das Recht, fremde Arbeitskraft zu kommandieren und sich das Resultat fremder Arbeit anzueignen wird klar, dass dieses Recht nicht von allen genossen werden kann: Kein Diebstahl ohne Bestohlene, kein Kapitalist ohne Menschen, die eben kein Kapital haben und daher ihre Arbeitskraft verkaufen müssen.

Deutlich und umfangreich festgeschrieben wurde die bürgerliche Menschenrechtsidee das erste Mal in der „Déclaration des droits de l´homme et du citoyen“ von 1789. Diese Erklärung der französischen Nationalversammlung feiert in Artikel XVII das Eigentum als heiliges und unverletzliches Recht, in Artikel I verordnet sie die Freiheit von Geburt an und die Gleichheit an Rechten, mit dem feinsinnigen Zusatz: „Soziale Unterschiede dürfen nur im allgemeinen (!) Nutzen begründet sein.“

Als Katechismus des freien Marktes verkauft uns die Menschenrechtserklärung den freien Kapitalisten und die doppelt freien ArbeiterInnen als gleich. Die formelle Chancengleichheit und Gleichheit bei gesetzlichem Schutz wie gesetzlicher Strafe ist gleichzeitig Garant für den Zugang zu Ämtern usw. nach dem Kriterium der Effizienz, Versprechen auf individuellen Aufstieg durch individuelle Tüchtigkeit und, im Umkehrschluß, Rechtfertigung der Unterschiede durch das Argument des individuellen Versagens.

Den AnhängerInnen der Menschenrechtsidee ist es, damals wie heute, in der Regel nicht um die Verwirklichung ihrer Ansprüche zu tun. Sie müssen Ansprüche bleiben. Wenn die Opfer des kapitalistischen Wirtschaftens ernsthaft ihr Recht auf z.B. körperliche Unversehrtheit, Leben, Freiheit durchsetzen wollen, begegnen die Träger der Menschenrechtsidee ihnen, damals wie heute, mit Gewalt.

Schon immer stand der bürgerliche Anspruch im Gegensatz zur bürgerlichen Praxis. Auf einen eklatanten Mangel wies bereits 1791 eine bürgerliche Revolutionärin mit ihrem Pamphlet „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ hin. Den Schöpfern der Menschenrechtserklärung und der Verfassung war es gelungen, die Hälfte der Menschheit schon mal auszuklammern. Dass auch die bürgerlichen Frauen kein Wahlrecht besaßen und rechtlich weiterhin benachteiligt waren schien nicht aufzufallen: Der Bourgeois hatte schon immer die Fähigkeit, sich mit dem Menschen schlechthin gleichzusetzen.

Bereits mit der französischen Revolution begann auch das Ringen um die Rolle, die sozialen Rechten im Rahmen einer Verfassung eingeräumt werden darf- also solch einfachen und wenig abstrakten Rechten wie dem auf Wohnung, Arbeit, Freiheit von Hunger etc.

Schärfer noch als damals trat der Widerspruch zwischen bürgerlicher Abstraktion (der es in den Menschenrechten nicht um Menschen, sondern um den Menschen geht) und dem Willen, wirklichen Menschen wirklich zu helfen nach dem Ende des 2. Weltkriegs zu Tage.

Mit der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen konnte das kapitalistische Lager sich in wesentlichen Punkten durchsetzen. Sie fordert wiederum die Würde des Menschen in einer Welt des Elends, das Recht auf freie Meinungsäußerung ohne den Zugang zu Informationen zu gewährleisten, kurz, sie verbleibt in der Abstraktion und der Verschleierung von Herrschaft. Sechs sozialistische Staaten enthielten sich bei der Abstimmung, da die geforderte Festschreibung sozialer Rechte nur ungenügend durchgesetzt werden konnte. Im Dezember 1948 wurde die Erklärung verabschiedet, der Menschenrechtskatalog der Vereinten Nationen in den folgenden Jahrzehnten um weitere schöne Ansprüche erweitert.

Die Stimmenthaltung (nicht Ablehnung) einiger sozialistischer Regierungen war durchaus vernünftig, da jene Rechte, in deren Namen heute Kriege geführt werden, ihre Ambivalenz haben.

Eine Linke, die den Begriff der Menschenrechte unreflektiert übernimmt, die Funktion der Menschenrechtsansprüche nicht kritisiert und aufdeckt, wird ihrer Aufgabe nicht gerecht. Allerdings kann die Tatsache, dass die Herrschaft des Kapitals niemals ganz unverblümt daherkommen kann (nicht einmal im Faschismus) gegen die Herrschaft genutzt werden. Das bürgerliche Bewußtsein mit den eigenen Unstimmigkeiten zu konfrontieren ist hilfreich.

Bürgerliche Menschenrechtsorganisationen leisten oft nützliche Arbeit zwar im Namen, aber nicht im Dienste einer Abstraktion. Sie helfen Menschen. Diese Arbeit abzulehnen wäre dumm, allerdings müssen ihre Grenzen und ihre Beschränktheit aufgezeigt werden.

Übel wird es, wenn die Herrschaft selber mit den Menschenrechten daherkommt und als Retterin aus der Not, die sie selbst produziert gesehen werden will.

Unser Vorschlag:

Hauen wir den Kriegsparteien SPD und Grüne ihr Gesülze in Bezug auf Menschenrechte um die Ohren!

Konfrontieren wir bürgerliche MenschenrechtlerInnen immer wieder mit der Wirklichkeit, die ihrem Anspruch entgegensteht!

Schaffen wir einer linken Kritik an den ideellen bürgerlichen Ansprüchen eine breitere Basis!

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