Tribunal gegen ÖcalanEin historischer Ort wurde für das letzte Tribunal des Jahrhunderts ausgewählt. Die Gefängnisinsel Imrali, wo nach dem Militärputsch 1960 der damalige Ministerpräsident Adnan Menderes und zwei seiner Minister aufgehängt worden sind. Alles wurde vorher tausendmal überlegt und durchdacht. Sowohl die Auswahl des Ortes als auch der Tag der Verkündung der Todesstrafe haben in der kemalistischen Politik eine sehr genaue Bedeutung und die gleiche Botschaft: Mahnung, Drohung und Angst.Öcalan hat am 31. Mai das Schweigen gebrochen und durch seine Verteidigungsrede in Imrali, die unter dem Titel "Demokratische Lösung für die Kurdenfrage" stand, konkrete Vorschläge für einen Weg zum Frieden unterbreitet, womit er sowohl die Kurden als auch die Verantwortlichen des Staates in Erstaunen versetzte. Öcalan sagte: "Der Türkische Staat, Europa und die USA haben nicht das erreicht, was sie sich von ihrem Komplott gegen mich erhofft hatten. Alle waren in dem Glauben, dass nachdem ich auf diese Weise lahmgelegt worden war, die Organisation, die PKK, die Institutionen Kurdistans zerfallen, dass sie sich auflösen würden. Doch sie mussten mit Staunen zur Kenntnis nehmen, dass dies nicht der Fall war... Meine Abwesenheit traf die Organisation wie ein Peitschenhieb, es trug dazu bei, dass ihnen gelang, was sie zuvor nie geschafft hatten. Als sie gefordert waren, verhielten sie sich verantwortungsbewusster, produktiver, initiativer." (61) Wie allgemein bekannt ist, verfolgte die PKK bis Mitte der 90er Jahre das Ziel, einen unabhängigen Kurdenstaat zu gründen, und so bildete ein unabhängiges Kurdistan die Hauptachse im Programm der Partei. Doch mit der Zeit wurden auch andere Lösungsansätze angeregt und aufgenommen. Lösungsvorschläge wie Konföderation, Föderation und Autonomie wurden in den letzten Jahren wiederholt vorgebracht. Dem folgten dann die Vorschläge Öcalans in Imrali. Er vertrat die Ansicht, dass der Weg zu einer Lösung sich ebnen würde, wenn den Kurden in einem demokratischen Staatsgebilde ihre Grundrechte zuerkannt würden: "Der freie Bürger, Freiheit für jeden einzelnen Kurden, für die kurdische Gesellschaft ist der Schüssel zur Demokratisierung der Türkei. Die Lösung ist eine demokratische Republik auf der Basis von Freiheiten. An einer demokratischen Republik können die Kurden mit ihrem freien Willen partizipieren und sich mit der Türkei vereinigen. Ein freiwilliges administratives Bündnis entsteht auf der Basis von Freiheit. Tyrannei, Verbote und Unterdrückung sind Separatismus. Der Weg zur Beendigung von Zerstörung, Vorurteilen, Besorgnis und Leid geht nur über die Freiheit jedes einzelnen Kurden, über Freiheit der kurdischen Gesellschaft, als Bürger einer demokratischen Republik. Dieser Weg ist der Weg zur Vereinigung, zum Zusammenschluss. (...) Es besteht ein Grundbedürfnis nach Freiheit für jeden einzelnen Kurden, nach einer kurdischen Gesellschaft, in der die individuellen Rechte, die Menschenrechte garantiert sind und die kurdische Sprache und Kultur frei ist. Die Lösung liegt in den Begriffen Demokratische Republik und Demokratisches Bündnis." (62) "Friedenspolitik darf nicht etwa als Wankelmut oder Kapitulation verstanden werden; es ist ein Erfordernis realistischer Politik entsprechend der heutigen Situation." (63) Die Erklärungen Öcalans lösten bei den Türken und Kurden heftige Diskussionen aus. Einige bezeichneten die Äußerungen Öcalans sogar als Verrat und warfen ihm Komplizenschaft mit der Türkei vor. Manche Kreise, die heute Öcalan Verrat vorwerfen, haben ihn gestern, weil er einen bewaffneten Kampf führte, als "Terroristen" bezeichnet. Die türkische Elite, die siegestrunken nicht mehr in der Lage war vorauszuschauen, hat durch die letzten Vorschläge begonnen, davon zu sprechen, man müsse das Thema einmal mit kühlem Kopf abwägen und überdenken. Selbst der staatstreue ehemalige Botschafter in den USA Sükrü Elekdag (64)sagte: "Würdigt man dieses historische Ereignis (die Auslieferung Öcalans an die Türkei) und den Erfolg der türkischen Streitkräfte bei der Bekämpfung des PKK-Terrors gemeinsam, so kristallisiert sich heraus, dass der Türkei eine nie dagewesene Chance für die Lösung der Kurdenfrage im Rahmen von Demokratie und einem unitären Staat zuteil geworden ist." Während Ministerpräsident Ecevit noch in einem Brief an Bundeskanzler Schröder im Mai 1999 behauptete, es existiere gar kein Kurdenproblem, stellte Elakdag fest: "Die Umfragen auf Landesebene und im Südosten bezeugen, dass die überwiegende Mehrheit unseres Volkes die Kurdenfrage als ein ethnisches Problem sieht. (...) Die historische Chance zu nutzen und konkrete Schritte in Richtung auf eine Lösung zu unternehmen hängt für die Türkei davon ab, ob sie sich der Realität stellt. Dabei wiederum ist die zwingende Voraussetzung die Anerkennung der kurdischen Identität. Es gibt heute eine eigene kurdische Identität, die gleichberechtigt ist und ein ebenso hohes Ansehen genießt wie alle anderen ethnischen Identitäten auf der Welt." (65) In der letzten Zeit wurden diese und ähnliche Ansichten immer offener zur Sprache gebracht, und das ist erfreulich. Zusammengefasst: Was auf der Insel Imrali stattfand, kann und darf nicht mit einem Prozess verglichen werden. Was dort geschah, war ein Tribunal der Sieger über den "Besiegten". Deswegen wurden Menschen nach bestimmten Kriterien ausgewählt und als Zuschauer zum Prozess zugelassen. Der Saal war überfüllt mit den Angehörigen der Opfer auf der türkischen Seite. Die Öffentlichkeit wurde durch den staatlichen Sender TRT und eine Agentur mit gefilterten "Aussagen" und Materialien versorgt. Öcalan hatte gleich zu Beginn des Verfahrens angekündigt, er werde sich mit politischen Argumenten verteidigen. Zwei lange, schriftlich ausgearbeitete Reden kreisten immer wieder um das Thema "Frieden und Brüderlichkeit". Er war bemüht, den bewaffneten Kampf der PKK, bei dem sicherlich auch schwere Fehler gemacht worden seien, als "illegalen, aber legitimen" Aufstand für die Rechte der Kurden zu rechtfertigen. In seiner Ansprache vor dem Staatssicherheitsgericht hatte Öcalan seinen Anklägern den Wind aus den Segeln genommen, indem er einen Aufruf nach einer auf Gleichheit basierenden demokratischen Republik verbreitete und dem Separatismus- und Terrorismusvorwurf eine Absage erteilte. Er hatte von revolutionären Shows, die nur der Selbstbefriedigung dienen würden, abgesehen und den schwierigeren und komplizierteren Weg eingeschlagen. In seiner Rede, die nicht an das Gericht, sondern an Ankara und an die ausländischen Machtzentren adressiert war, sagte er, dass in einer demokratischen Republik Kurden und Türken gleichberechtigt leben könnten. In einem solchen Staat bräuchten die Kurden keinen eigenen Staat und auch keine Grenzen zwischen beiden Völkern. (66) Die Kurdenfrage könne nur innerhalb der Grenzen der Türkei gelöst werden - und unter demokratischen Verhältnissen, die es den Kurden gestatten würden, sich zu ihrer Identität zu bekennen. Die ausgewählten Richter haben das von den wahren Machthabern, dem Nationalen Sicherheitsrat, gefällte Urteil, das im Vorfeld des Prozesses schon unzählige Male von hochrangigen Politikern und Militärs öffentlich gefordert wurde, schließlich auch verkündet: die Todesstrafe. "Hochverrat" lautete die Begründung, mit der Abdullah Öcalan am 29. Juni 1999 zum Tode verurteilt wurde. Gerichtspräsident Turgut Okyay: "Zum Abschluss des Verfahrens unseres Gerichtshofs gegen den Angeklagten Abdullah Öcalan haben wir einstimmig entschieden, ihn zum Tode zu verurteilen nach Paragraph 125 des Strafgesetzbuches. Der Angeklagte hat die bewaffnete terroristische Organisation PKK gegründet und Aktionen befohlen, die Tausende unschuldige Opfer bewirkt haben. (...) Hunderte von Aktionen, die von der PKK verübt wurden, rechtfertigen für sich alleine eine Verurteilung zum Tode. (...) Der Angeklagte verliert seine Bürgerrechte auf Lebenszeit. Seine Anwälte haben das Recht, Berufung gegen das Urteil einzulegen." (67) Horst Bacia beschrieb in der Frankfurter Allgemeine Zeitung den Tag der Urteilsverkündung mit folgenden Worten: "Nach nur neun Verhandlungstagen ist das in der Türkei oft als "JahrhundertProzess" bezeichnete Gerichtsverfahren gegen Öcalan zu Ende. Das Urteil hat niemanden überrascht. Der Angeklagte wird wegen Hochverrats und Verbrechen gegen die territoriale Integrität der Türkischen Republik mit dem Tod durch Erhängen bestraft. Öcalan nimmt den Spruch mit Würde, ohne erkennbare innere Bewegung entgegen. Aufrecht stehend mit hinter dem Rücken verschränkten Händen blickt er den Vorsitzenden Richter ruhig an, bis das Urteil verlesen ist. Dann wendet er sich in seiner mit kugelsicherem Glas verkleideten Kabine schroff um und gibt mit der Hand ein Zeichen. Die Tür öffnet sich. Sicherheitskräfte nehmen ihn in Empfang, um ihn zurück in seine Zelle zu führen." (68) Öcalan sagte zum Urteil wörtlich: "Ich glaube, dass trotz meiner Verurteilung nach Paragraph 125 des Strafgesetzbuches die Geschichte mich zweifellos moralisch und politisch freisprechen wird." (69) (64)Der neue Kolumnist bei Milliyet, der früher eine große Distanz zu Kurden hatte, ist einer der Wortführer der neuen Politik geworden. Seine Kolumnen rufen zur Versöhnung auf und werden von vielen Kreisen der türkischen Gesellschaft auch ernstgenommen. (66)Seine Rede wurde sogleich in Form eines Buches von 168 Seiten (Savunma, Abdullah Öcalan, Mem Yayinlari) in Istanbul veröffentlicht und war nach ein paar Tagen vergriffen. Am 23. Juni 1999 antwortete Öcalan mit einer Zusammenfassung davon auf das Schlussplädoyer der Staatsanwaltschaft. Diese Rede ist ebenfalls als Broschüre erschienen (Abdullah Öcalan, Kürt sorununda cözüm ve cözümsüzlük ikilemi, Wesanen Serxwebun). Wegen der historischen Bedeutung dieser Rede werden wichtige Auszüge im Anhang in deutscher Übersetzung abgedruckt. |