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DEZEMBER 2003

Zum Stand der Protest- und Widerstandsbewegung in Europa


Molli-MannVom 12. - 16. November 2003 fand in Paris das zweite Europäische Sozialforum (ESF) statt, an dem sich bis zu 60.000 Menschen aus ganz Europa beteiligten. In 55 Großveranstaltungen und Hunderten von Seminaren und Workshops wurde über Strategien für eine gerechtere Welt und den Widerstand gegen Krieg, Neoliberalismus und Sozialraub auf europäischer Ebene diskutiert. An der gemeinsamen Abschlussdemonstration am Samstag, den 15.11.03 beteiligten sich weieals Ausrichter des Treffens auch die inhaltlichen Debatten und das Erscheinungsbild des ESF entscheidend mitbestimmten.

Die französische Bewegung im und um das ESF ist dabei stark geprägt von reformistischen Kräften, von Attac, die in Frankreich ihren Ursprung haben, von einer starken trotzkistischen Linken, ja selbst die ehemalige Regierungspartei der Sozialisten nahm am ESF teil. Die undogmatische radikale Linke Frankreichs hielt sich aufgrund der Dominanz der reformistischen Kräfte und deren hierarchischer Organisierungsstrukturen zum Großteil am ESF fern, einige nutzten das Treffen aber auch, um eigene Foren durchzuführen, wie etwa ein Teil der anarchistischen Bewegung Frankreichs im libertären Forum FSL. Carlo
Neben den streikenden prekarisierten KünstlerInnen und den sans papiers waren es die AnarchistInnen, die am Rande des ESF immer wieder durch kleinere Straßenaktionen auffällig in Erscheinung traten.
Einen großen Block stellten auch die AktivistInnen aus Italien, deren Basis weit radikaler auftritt als die in Frankreich, von kommunistischen Parteien und Gewerkschaftsumfeld über die radikalen Basisgewerkschaften der COBAS bis hin zum großen noglobal- und disobbedienti-Spektrum der sog. Ungehorsamen. Letztere hatten sich zusammen mit AktivistInnen aus anderen Ländern als radikalerer Teil der sozialen Bewegungen in der Aktion GLAD zusammengetan und ein eigenes Camp und Veranstaltungsforum im Rahmen des ESF organisiert.
Daneben traten noch Zusammenhänge aus Griechenland, Spanien und England sichtbar in Erscheinung.
Auch aus Deutschland sollen bis zu 3000 Menschen in Paris gewesen sein. Aufgrund der Tatsache, dass in der BRD selbst die sozialen Bewegungen noch äußerst marginalisiert sind und kaum über funktionsfähige Strukturen verfügen, eine beachtliche Zahl.
Neben VertreterInnen einzelner existierender großstädtischer Sozialforen waren Attac Deutschland, linke GewerkschaftsaktivistInnen, aber auch Mitglieder der Gewerkschaftsvorstände (!) sowie ein kleiner Teil der radikalen undogmatischen Linken in Paris vor Ort.


Inhaltliche Debatten

Auf den großen Foren und Veranstaltungen nahmen die tages- und realpolitischen Themen, die sich in den jeweiligen Ländern z.T. deutlich überschneiden, den größten Platz ein und standen dabei stark unter dem Gesichtspunkt reformistischer Betrachtungsweisen.
Die Themen reichten von Arbeitsplatzerhaltung, radikaler Arbeitszeitverkürzung, gesicherten Grundeinkommen und Gesundheitspolitik über den Zusammenhang von WTO und Gentechnik, alternativer Landwirtschaftsmodelle bis hin zur restriktiven Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, dem Kampf gegen die extreme Rechte und dem Widerstand gegen das Fortschreiten von Militarisierung und Kriegspolitik.
Im Zentrum der Kritik stand letztendlich die geplante EU-Verfassung, die ein neoliberales Projekt darstellt, das Primat des Marktes in den Verfassungsrang erhebt und zudem noch die Militarisierung und Aufrüstung festschreibt.
In einer Abschlusserklärung blieb die inhaltliche Aussage äußerst oberflächlich, was aufgrund des breiten Spektrums an Teilnehmenden allerdings auch nicht anders zu erwarten war und in der es verkürzt dargestellt heißt:
„Wir kämpfen für ein anderes Europa, ohne Arbeitslosigkeit und Prekarität, für ein Europa, das zur Welt hin hoffen ist, Aufenthaltsrecht und Bürgerrechte anerkennt, für ein Europa, das den Krieg verweigert. Wir kämpfen dafür, dass Menschenrechte, dass soziale, wirtschaftliche, kulturelle und ökologische Rechte Vorrang vor Konkurrenzrecht, Profitlogik und Schuldenabhängigkeit haben“.


Gleichzeitig fanden in Paris allerdings auch zahlreiche Theorie- und Diskussionsveranstaltungen statt, die den Rahmen der Tages- und Realpolitik verließen. Für großes Interesse sorgte z.B. eine Diskussionsveranstaltung unter dem Titel „Multitude oder Arbeiterklasse“, auf der Antonio Negri erstmals außerhalb Italiens seine Thesen zu Empire referierte und dabei gegen den englischen Traditionsmarxisten, Alex Callinicos antrat.
Nachdem mehreren hundert Interessierten der Zutritt zum Veranstaltungssaal verwehrt wurde, weil dieser bereits überfüllt war und es zu ersten handgreiflichen Auseinandersetzungen mit dem Ordnungsdienst kam, verlegten die VeranstalterInnen die Diskussion ins Freie. Callinicos verharrte in der bloßen Darstellung der Theorie des klassischen Arbeiterbewegungsmarxismus, ohne aus dieser Perspektive tiefer die zentralen Denkkategorien Negris zu kritisieren. Auch Negri selbst überzeugte weniger durch seine inhaltlichen Ausführungen, als vielmehr durch seine überzeugende Darstellung und eindrucksvolle Redefähigkeit. Unbestritten bleibt allerdings, dass die Empire-Theorie immer mehr Anklang und Interessierte in der Bewegung findet.


Die Vernetzung der radikalen Linken in Europa

Wie bereits erwähnt, trat die radikale Linke in Paris nur am Rande in Erscheinung. Die Berliner Gruppen ALB (Antifaschistische Linke Berlin) und fels (Für eine linke Strömung) wollten das Treffen in Paris aber trotzdem für den Austausch der radikalen Linken aus Europa nutzen und über den Stand und die Zukunft konfrontativer, antikapitalistischer Politik zu diskutieren.
In einem Workshop kamen dabei auch mehrere Gruppen aus Europa zusammen, die alle die Notwendigkeit der europaweiten Vernetzung der radikalen Linken in die Diskussion einbrachten.
Aus Italien nahmen Vertreter der disobbedienti teil, die mit ihren übergreifenden Strategiediskussionen in Theorie und Praxis (was man immer auch davon halten mag) und ihrer landesweiten Vernetzung und Verankerung wohl bereits am weitesten die Anforderungen für eine europaweite Vernetzung mit sich bringen.
Aber auch in Skandinavien sind die dortigen AktivistInnen der undogmatischen radikalen Linken der BRD-Realität schon weit voraus, während aus allen anderen Ländern jeweils nur kleinere Zusammenhänge bzw. Einzelpersonen auf dem Treffen auftreten konnten, da es dort ernstzunehmende überregionale und landesweite Vernetzungs- oder gar Organisierungsansätze einfach nicht gibt. Mit dem Ziel der Vorstellung und des Kennenlernens der jeweiligen Politikansätze, möglichen losen Vernetzungsansätzen und gemeinsamen inhaltlichen sowie praktischen Mobilisierungen zu großen Gipfelprotesten soll dabei längerfristig eine gemeinsame Politik entstehen, die als radikaler antikapitalistischer Zusammenhang konfrontativ und nach Außen wirkungsvoll ist, sowie die Möglichkeit der politischen Einflussnahme eröffnet. Mit dem Treffen in Paris wurde damit das Unterfangen eröffnet und die Bereitschaft der beteiligten Gruppen dazu kam deutlich zum Vorschein. Alles weitere muss die Zukunft zeigen.


Ausblick

In Deutschland werden sich auch nach Paris die Diskussionen um den Aufbau von lokalen Sozialforen und einer landesweiten Vernetzung in diesem Rahmen weiter konkretisieren. Sie könnten eine Möglichkeit sein, eine im entstehen begriffene Bewegung von unten gegen die Politik der kapitalistischen Globalisierung und des Neoliberalismus aller etablierten Parteien weiter voranzutreiben und handlungsfähig zu machen.
Ihre inhaltlichen Ausrichtungen werden dabei wohl je nach den Kräfteverhältnissen vor Ort entschieden werden, wie dies auch in anderen Ländern der Fall ist.
Dass auch die radikale Linke in diesen Foren ihren Platz haben kann, ist unbestritten. Sie muss es aber schaffen, sich nicht für reformistische Politikansätze vor den Karren spannen zu lassen, sondern ihre eigene politische Theorie und Praxis einfliessen lassen und gleichzeitig ihre eigenen Organisierungs- und Vernetzungsansätze vorantreiben.
In Paris wurden bereits einige Termine für gemeinsame und gleichzeitig stattfindende europaweite Aktionen vereinbart, so z.B. der 20. März 2004, der in Absprache mit der us-amerikanischen Antikriegsbewegung zum weltweiten Aktionstag gegen Krieg und militärische Besatzung stattfinden soll. In einem weiteren europaweiten Aktionstag soll darüber hinaus auch der länderübergreifende Angriff auf die ArbeiterInnenklasse und die soziale Kahlschlagspolitik der Regierungen aller Couleur aufgegriffen werden.



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