"Eine unbenannte Revolution"
Einen Monat, nachdem Öcalan zum Tode verurteilt
wurde, sagte Staatspräsident Demirel zum Urteil: "Die Türkei
ist seit langem nicht mit einem solch ernsten Thema konfrontiert gewesen.
Es ist jetzt ein politisches Thema. Wir wissen noch nicht, was geschehen
wird. Wenn die Zeit kommt, werden wir sehen, was für eine Atmosphäre
da ist und was gemacht werden muss. Die Vollstreckung der Todesstrafe
braucht eine politische Entscheidung."(86)
Nach Meinung vieler Kommentatoren und Analytiker wollte Demirel mit seinen
obigen Äußerungen das innenpolitische Klima gegen eine Vollstreckung
vorbereiten. Sie behaupten, sonst würde Demirel -wie nach der Urteilsverkündung
Ende Juni- sagen, "da können wir nichts machen. Dies ist eine
Entscheidung eines unabhängigen Gerichtes." (87)
Der Chefredakteur der Zeitung Hürriyet Ertugrul Özkök (88)
schrieb am 4.8.99 in seiner Kolumne unter anderem:
"General Cevik Bir (89)
ist vor einiger Zeit auf der Insel Imrali
gewesen. Ob er sich mit Öcalan getroffen hat oder nicht, habe ich
nicht erfahren können. Nach diesen Ereignissen verkündet Öcalan
die Beendigung des bewaffneten Kampfes. Aber dies darf nicht so verstanden
werden, als ob der Staat mit Öcalan verhandelt. Vor uns liegt eine
historische Chance. Sie sollen die Waffen niederlegen und sich ergeben,
und dieser Staat soll seinen Bürgern ihre Rechte zugestehen und ein
menschenwürdiges Leben schaffen." (90)
Am nächsten Tag beschäftigte sich Özkök, wie fast
alle seiner Kollegen, mit der Erklärung Öcalans zum Rückzug
und führte der Reihe nach die letzten Äußerungen der Staatsführung
auf. Er zitierte Demirel mit den folgenden Worten zum Urteil: "Die
Türkei ist seit langem nicht mit einem solch ernsten Thema konfrontiert
gewesen". Und Ecevit sagte gleich nach dem Todesurteil, dass "man
dies (Vollstreckung des Todesstrafe) der lösenden Kraft der Zeit
überlassen soll". Zur Waffenniederlegung der PKK sagte Ecevit:
"Der Staat verhandelt nicht. Aber jeder, der die Türkei liebt,
soll seinen Beitrag dazu leisten." (91)
Oktay Eksi, ebenfalls von der Tageszeitung Hürriyet, fasste zusammen:
"Es ist wichtig, dass die Türkei Schritte unternimmt, dass jeder
Bürger seine Kultur und seine Werte pflegt, seine Sprache anwendet
und weiter entwickelt. Es gibt keinen Staat im 20. Jahrhundert auf der
Welt, der sich als zeitgenössisch und als Rechtsstaat bezeichnet,
der dies nicht tut." (92)
Kurz vor diesen Ereignissen, Mitte Juli 1999, hatte der mächtige
Staat als eine "Geste" die seit dem 18. November 1998 inhaftierten
HADEP-Funktionäre, darunter auch den Vorsitzenden Murat Bozlak, freigelassen.
In der ersten Augustwoche bestellte überraschender Weise Staatschef
Demirel sieben HADEP-Bürgermeister, die de facto als 'Unterstützer
der Terroristen' gelten, zu seinem Amtssitz nach Cankaya. Über dieses
Treffen unterrichtete er am 10. August 1999 die Öffentlichkeit. Demirel:
"Alle türkischen Staatsbürger geniessen die gleichen Rechte,
ob sie aus dem Südosten oder aus dem Westen stammen. Wir sind verpflichtet,
die Harmonie in diesem Lande zu bewahren, um dem sozialen Frieden nicht
zu schaden." Auf die Forderung des Oberbürgermeisters von Diyarbakir,
Feridun Celik, "der innere Frieden muss geschaffen und das Blutvergießen
gestoppt werden" erwiderte Demirel: "Unser Kampf richtet sich
gegen den Separatismus. Dies ist der Grundstein der türkischen Republik.
Wer will, dass das Blut der Geschwister vergossen wird?" (93)
Ertugrul Özkök fasste die letzten Ereignisse wieder zusammen
und sagte: "In den letzten 3 bis 4 Wochen finden sehr wichtige und
überraschende Entwicklungen statt. Seit 3 bis 4 Wochen erlebt die
Türkei eine unbenannte Revolution. Diese Revolution ist genauso wichtig
und grundlegend, wie die Beschlüsse vom 24. Januar (1980). (94)
Diese Revolution hat drei Fronten. Erstens: Für die Lösung der
Südostenfrage werden zum ersten Mal Hoffnungen geweckt. Ein namenloses
und unerklärtes Programm wird Schritt für Schritt in die Praxis
umgesetzt. Hier ist die Chronologie dieser historischen Entwicklung: Nachdem
das Todesurteil gegen Öcalan verkündet wurde, erklärte
Ecevit folgendes: "Die Todesstrafe sollen wir der lösenden Kraft
der Zeit überlassen." Nach dieser Erklärung gab Demirel
folgendes bekannt: "Die Todesstrafe ist das sensibelste Thema, mit
dem ich konfrontiert werde." Und gleich danach sagte Ecevit: "Bei
der Lösung dieses Problem muss jeder seinen Beitrag dazu leisten."
Als sich dann noch die Gesellschaft mit diesen Äußerungen beschäftigte,
empfing Demirel die Bürgermeister der HADEP. Dort wollte Demirel
diese Botschaft senden: "Sie, die Gewählten, sind meine Ansprechpartner.
Nicht der Bandit auf den Bergen." Den zweiten Teil dieser Revolution
bildet der DemokratisierungsProzess. Und der dritte Teil hat einen wirtschaftlichen
und sozialen Charakter. Dies alles ist mit jedem seiner Schritte, mit
jeder seiner Gesten eine Politik des harten Kerns des Staates." (95)
(86)Hürriyet, 1.8.99
(87)Hürriyet, 3.8.99
(88)Özkök gilt als 'indirekter
Sprecher' des Staates und hat vielerlei Verbindungen und gute Kontakte
zur Staatsführung.
(89)Auf seinen Reisen in die USA und
nach Israel 1996 und 1997 verkündete er, dass "der Terror besiegt
und die Aufgabe des Militärs somit beendet sei und nun die Politik
an der Reihe sei."
(90)Hürriyet, 4.8.99
(91)Hürriyet, 5.8.99
(92)Hürriyet, 5.8.99
(93)Hürriyet, 11.8.99
(94)Am 24. Januar 1980 wurde der Start der
Liberalisierung verkündet: Privatisierung der staatseigene Betriebe,
Öffnung des Marktes zu Außenkapital, Kontrolle und Verbot von
gewerkschaftlichen Aktivitäten, Streiks usw.
(95)Hürriyet, 14.8.99
|