Zweites Beispiel: Rede des
obersten Richters
Am 6. September
1999 fand kein Erdbeben der Stärke 7 oder 8 auf der Richterskala
statt, das die politische Elite des Landes und die Öffentlichkeit
wachrüttelte. Nein - es war kein Erdbeben, es war keine Bombe, die
mitten in Ankara hochging, sondern lediglich eine zeremoniell alljährlich
stattfindende Eröffnungsrede des Ersten Vorsitzenden des Kassationsgerichtshofes,
Dr. Sami Selcuk, zum neuen Gerichtsjahr. Zu solchen Zeremonien hat die
Staatsspitze vollzählig zu erscheinen. Der Staatschef und der Ministerpräsident,
die Oppositionschefs, Armee-Generäle, hochrangige Richter, Vertreter
der Institutionen, der Unternehmer, der Universitäten, kurzum die
ausgewählte Elite der Oberschicht. Voller Fernsehkameras, die alles,
was vom Staat vorbereitet und veranstaltet wird, bereit sind zu senden.
Der Akteur auf der Bühne am Rednerpult sagte: "Die Zeit zu einer
Änderung der Verfassung ist gekommen. Dies ist eine ähnlich
bahnbrechende Arbeit, wie sie das erste republikanische Parlament geleistet
hatte, das die Weichen der modernen Türkei gestellt hat". Die
meisten Zuhörer indes waren Selcuks Rede mit versteinerten Mienen
gefolgt. Denn als einer der höchsten Richter des Staates sprach er
wie ein "regimefeindlicher" Bürgerrechtler, der für
weniger deutliche Worte mit einer Haftstrafe hätte rechnen müssen.
Richter Selcuk rechnete mit der von den Militärs nach ihrem Putsch
von 1980 ausgearbeiteten Verfassung ab. Sie sei von den Wählern "unter
Zwang" in einem "fiktiven Referendum" angenommen worden,
sagte er. Diese Verfassung verteidige nicht die Rechte und Freiheiten
der Bürger, sondern schütze den Staat vor seinen Bürgern,
indem sie die Menschenrechte einschränke. Zudem sei diese Verfassung
nicht "von einer vom Volk frei gewählten Regierung" entworfen
worden, sondern von einer Gruppe handverlesener Leute: "Die Türkei
kann, sie darf ins neue Jahrhundert nicht mit einer Verfassung gehen,
deren Legitimität beinahe gegen Null geht. (...) Der Verfassung fehlt
die formelle Legitimität, und sie ist ungültig. (...) Die Türkei
ist kein 'verfassungsmäßiger Staat', sondern nur ein 'Staat
mit einer Verfassung'."
Zum Thema Menschenrechte sagte Selcuk, die Türkei habe zwar verschiedene
internationale Abkommen zum Schutz dieser Rechte unterzeichnet, die Verträge
würden aber in der Türkei verfälscht angewendet. Die türkische
Politik nehme zu viel Einfluss auf das Justizsystem.
Seit dem 6. September 1999 findet eine sehr intensive und konstruktive
Diskussion über eine neue demokratische Verfassung statt. Fast alle
Teile der Gesellschaft, abgesehen von einer kleinen kemalistischen Minderheit
um die Tageszeitung Cumhuriyet unterstützen das Anliegen des Richters.
Es ist bis zu diesem Datum kaum vorstellbar gewesen, dass z.B. alle im
Parlament vertretenen Parteien, darunter auch die islamische Tugendpartei,
alle Gewerkschaften, die z.B. von der MHP als "Kommunisten und Separatisten"
bezeichnet werden, Unternehmer-verbände, Kammern, vor allem die Anwaltskammer
mit allen ihren Zweigstellen und die linken Gruppen über eine Rede,
über eine Position, über ein Projekt der gleichen Meinung sein
könnten. Einige bezeichneten diese Rede sogar als ein Manifest. Viele
Tageszeitungen verbreiteten den Redebeitrag des Richters im vollen Wortlaut.
Ministerpräsident Ecevit erklärte: "Eine sehr wichtige
Rede. Die Gesellschaft muss ernsthaft darüber nachdenken, und das
Parlament muss von nun an wie eine verfassunggebende Versammlung arbeiten.
Wir befinden uns in einer Phase, in der wir alle demokratischen Rechte,
wie Kurdisch zu sprechen, voll anerkennen und gewähren müssen."
Der Vorsitzende der Tugendpartei, Recai Kutan, begrüßte sofort
die Rede Selcuks, die er "ohne Zögern unterschreiben" könne.
Die Chefin der Partei des Rechten Weges (DYP), Tansu Ciller, meinte, dass
der Richter genau die Gedanken geäußert habe, die sie seit
zwei Jahren zu verbreiten versuche.
Laut einer Umfrage der Tageszeitung Sabah unterstützten 83% der 5.800
befragten Personen die Ansichten Selcuks. Bei der Umfrage des Wochenmagazins
aktüel lag der Wert bei 71%. (126)
In einer Erklärung vom 8. September 1999 unterstützte der Präsidialrat
der PKK den Redebeitrag Selcuks: "Die historische Verteidigung des
Vorsitzenden Abdullah Öcalan auf Imrali war das demokratische Lösungsmanifest
der kurdischen Frage. Die historische Rede des obersten Berufungsrichters
ist ein Manifest der Demokratie und sie erfüllt den juristischen
Inhalt (des Projektes) der demokratischen Republik. Diese beiden Manifeste
basieren auf demselben Kern und ergänzen sich gegenseitig. Sie geben
ein fundamentales demokratisches Lösungskonzept für die schweren
Probleme der Türkei und den juristischen und politischen Rahmen der
neuen Türkei im kommenden Jahrhundert. (...) Als Partei und Volk
sind wir bereit, in einer Türkei, deren Grundprinzipien vom Vorsitzenden
des obersten Berufungsgerichts zum Ausdruck gebracht wurden, unseren Dienst
zu erweisen und in Würde zu leben. Wir möchten uns an allen
Bemühungen in dieser Richtung aktiv beteiligen und sie unterstützen".
(127)
Wenn man die Redebeiträge von Öcalan und Selcuk aufmerksam studiert,
wird deutlich, dass sie sich ergänzen und gemeinsam zu einer ganzen
Einheit führen. Fazit der beiden Texte ist die Forderung nach einer
wahren Demokratie mit den dazugehörigen Rechten und Freiheiten, in
der die Menschen, egal welcher Nation sie angehören und an welche
Religion sie glauben, sich entfalten können. (Eine längere Übersetzung
aus der Rede von Dr. Selcuk ist im Anhang zu finden.)
(126)Hürriyet, ÖP, Milli
Gazete, 7.9. bis Ende September 1999; aktüel 425/1999, 9.-15.9.99;
SZ und NZZ, 8.9.99; FR, 10.9.99
(127)KIZ, 8.9.99
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