IV. Die Wende

Die Vorgeschichte des Rückzugs
Treffen des Plenums des Zentralkomitees der PKK
Rückzug der Guerilla und Beendigung des bewaffneten Kampfes
Präsidialrat der PKK zum Rückzug der Truppen
"Der Rückzug muss still und ohne Gefechte erfolgen"
"Eine unbenannte Revolution"
Stellvertretender US-Außenminister für mehr Rechte
Auch die Türkei muss ihre Aufgaben erledigen
Rückzug der Einheiten der PKK beginnt
"Reuegesetz" - Amnestie light - Förderung des Verrats
Amnestie, Teilamnestie, Generalamnestie?
Türkische Armee erschwert den Rückzug
Trotz Operationen eine mildere Atmosphäre
Der höchste General meldet sich zu Wort
"PKK wird Geschichte"
Öcalan lädt eine Gruppe seiner Partei als Friedensbotschafter ins Land ein
Einige Steine wurden doch ins Rollen gebracht

Drei Beispiele für zivilgesellschaftliche Einmischung

Erstes Beispiel: Deklaration zu Demokratie und Frieden
Zweites Beispiel: Rede des obersten Richters
Drittes Beispiel: Intellektuelle mischen sich ein
Der Ton der Stimme wird schärfer


Zweites Beispiel: Rede des obersten Richters

Am 6. September 1999 fand kein Erdbeben der Stärke 7 oder 8 auf der Richterskala statt, das die politische Elite des Landes und die Öffentlichkeit wachrüttelte. Nein - es war kein Erdbeben, es war keine Bombe, die mitten in Ankara hochging, sondern lediglich eine zeremoniell alljährlich stattfindende Eröffnungsrede des Ersten Vorsitzenden des Kassationsgerichtshofes, Dr. Sami Selcuk, zum neuen Gerichtsjahr. Zu solchen Zeremonien hat die Staatsspitze vollzählig zu erscheinen. Der Staatschef und der Ministerpräsident, die Oppositionschefs, Armee-Generäle, hochrangige Richter, Vertreter der Institutionen, der Unternehmer, der Universitäten, kurzum die ausgewählte Elite der Oberschicht. Voller Fernsehkameras, die alles, was vom Staat vorbereitet und veranstaltet wird, bereit sind zu senden.
Der Akteur auf der Bühne am Rednerpult sagte: "Die Zeit zu einer Änderung der Verfassung ist gekommen. Dies ist eine ähnlich bahnbrechende Arbeit, wie sie das erste republikanische Parlament geleistet hatte, das die Weichen der modernen Türkei gestellt hat". Die meisten Zuhörer indes waren Selcuks Rede mit versteinerten Mienen gefolgt. Denn als einer der höchsten Richter des Staates sprach er wie ein "regimefeindlicher" Bürgerrechtler, der für weniger deutliche Worte mit einer Haftstrafe hätte rechnen müssen. Richter Selcuk rechnete mit der von den Militärs nach ihrem Putsch von 1980 ausgearbeiteten Verfassung ab. Sie sei von den Wählern "unter Zwang" in einem "fiktiven Referendum" angenommen worden, sagte er. Diese Verfassung verteidige nicht die Rechte und Freiheiten der Bürger, sondern schütze den Staat vor seinen Bürgern, indem sie die Menschenrechte einschränke. Zudem sei diese Verfassung nicht "von einer vom Volk frei gewählten Regierung" entworfen worden, sondern von einer Gruppe handverlesener Leute: "Die Türkei kann, sie darf ins neue Jahrhundert nicht mit einer Verfassung gehen, deren Legitimität beinahe gegen Null geht. (...) Der Verfassung fehlt die formelle Legitimität, und sie ist ungültig. (...) Die Türkei ist kein 'verfassungsmäßiger Staat', sondern nur ein 'Staat mit einer Verfassung'."
Zum Thema Menschenrechte sagte Selcuk, die Türkei habe zwar verschiedene internationale Abkommen zum Schutz dieser Rechte unterzeichnet, die Verträge würden aber in der Türkei verfälscht angewendet. Die türkische Politik nehme zu viel Einfluss auf das Justizsystem.
Seit dem 6. September 1999 findet eine sehr intensive und konstruktive Diskussion über eine neue demokratische Verfassung statt. Fast alle Teile der Gesellschaft, abgesehen von einer kleinen kemalistischen Minderheit um die Tageszeitung Cumhuriyet unterstützen das Anliegen des Richters. Es ist bis zu diesem Datum kaum vorstellbar gewesen, dass z.B. alle im Parlament vertretenen Parteien, darunter auch die islamische Tugendpartei, alle Gewerkschaften, die z.B. von der MHP als "Kommunisten und Separatisten" bezeichnet werden, Unternehmer-verbände, Kammern, vor allem die Anwaltskammer mit allen ihren Zweigstellen und die linken Gruppen über eine Rede, über eine Position, über ein Projekt der gleichen Meinung sein könnten. Einige bezeichneten diese Rede sogar als ein Manifest. Viele Tageszeitungen verbreiteten den Redebeitrag des Richters im vollen Wortlaut.
Ministerpräsident Ecevit erklärte: "Eine sehr wichtige Rede. Die Gesellschaft muss ernsthaft darüber nachdenken, und das Parlament muss von nun an wie eine verfassunggebende Versammlung arbeiten. Wir befinden uns in einer Phase, in der wir alle demokratischen Rechte, wie Kurdisch zu sprechen, voll anerkennen und gewähren müssen." Der Vorsitzende der Tugendpartei, Recai Kutan, begrüßte sofort die Rede Selcuks, die er "ohne Zögern unterschreiben" könne. Die Chefin der Partei des Rechten Weges (DYP), Tansu Ciller, meinte, dass der Richter genau die Gedanken geäußert habe, die sie seit zwei Jahren zu verbreiten versuche.
Laut einer Umfrage der Tageszeitung Sabah unterstützten 83% der 5.800 befragten Personen die Ansichten Selcuks. Bei der Umfrage des Wochenmagazins aktüel lag der Wert bei 71%. (126)
In einer Erklärung vom 8. September 1999 unterstützte der Präsidialrat der PKK den Redebeitrag Selcuks: "Die historische Verteidigung des Vorsitzenden Abdullah Öcalan auf Imrali war das demokratische Lösungsmanifest der kurdischen Frage. Die historische Rede des obersten Berufungsrichters ist ein Manifest der Demokratie und sie erfüllt den juristischen Inhalt (des Projektes) der demokratischen Republik. Diese beiden Manifeste basieren auf demselben Kern und ergänzen sich gegenseitig. Sie geben ein fundamentales demokratisches Lösungskonzept für die schweren Probleme der Türkei und den juristischen und politischen Rahmen der neuen Türkei im kommenden Jahrhundert. (...) Als Partei und Volk sind wir bereit, in einer Türkei, deren Grundprinzipien vom Vorsitzenden des obersten Berufungsgerichts zum Ausdruck gebracht wurden, unseren Dienst zu erweisen und in Würde zu leben. Wir möchten uns an allen Bemühungen in dieser Richtung aktiv beteiligen und sie unterstützen". (127)
Wenn man die Redebeiträge von Öcalan und Selcuk aufmerksam studiert, wird deutlich, dass sie sich ergänzen und gemeinsam zu einer ganzen Einheit führen. Fazit der beiden Texte ist die Forderung nach einer wahren Demokratie mit den dazugehörigen Rechten und Freiheiten, in der die Menschen, egal welcher Nation sie angehören und an welche Religion sie glauben, sich entfalten können. (Eine längere Übersetzung aus der Rede von Dr. Selcuk ist im Anhang zu finden.)


(126)Hürriyet, ÖP, Milli Gazete, 7.9. bis Ende September 1999; aktüel 425/1999, 9.-15.9.99; SZ und NZZ, 8.9.99; FR, 10.9.99

(127)KIZ, 8.9.99