Einige Steine wurden doch
ins Rollen gebracht
Im Sommer
1999 fanden überall in der Türkei und Kurdistan heftige Diskussionen
über die Erklärungen von Öcalan und der PKK statt. Jeder
führende Politiker, jeder Intellektuelle, Journalist, Schriftsteller,
Gewerkschafter, kurzum Vertreter aller gesellschaftlichen Kreise nahmen
zu den jüngsten und die Türkei erschütternden Erklärungen
und Ereignissen Stellung. Wenn man die Zeitungen der zweiten Hälfte
des Jahres 1999 durchblättert, wird man feststellen, dass sich in
der Türkei eine Wende vollzogen und eine neue Epoche begonnen hat.
Überall wurden runde Tische gebildet. In Ankara trafen im Sommer
1999 zweimal die kurdischen Politiker und Eliten auf Einladung der HADEP
zusammen, um eine Friedenspolitik in der Gesellschaft durchzusetzen und
um eine Vertrauensbasis aufzubauen. Die HADEP ist sogar bereit, sich nötigenfalls
aufzulösen und gemeinsam mit anderen eine Regenbogenpartei zu gründen.
In Istanbul trafen kurdische und türkische Politiker und Intellektuelle
auf Einladung der ÖDP (Partei der Freiheit und Solidarität)
zusammen. Die CHP (Republikanische Volkspartei) holt ihr Lösungspaket
von vor 7-8 Jahren aus dem Schrank heraus. Sogar einer der höchsten
Richter des Staates nahm zu den Diskussionen um eine neue Verfassung,
Demokratie und volle Bürgerrechte Stellung.
Der türkische Journalist Fatih Altayli, der aber eigentlich als Schreibtischtäter
bekannt ist, beschwerte sich über die jüngsten Entwicklungen.
Er beklagte, dass Öcalan in Imrali noch freier sei als zu der Zeit,
als er noch im Ausland war und dass er jeden Tag Erklärungen abgebe
und sogar mittels seiner Rechtsanwälte Pressekonferenzen abhalten
könne. "Obwohl die Gesetze nicht geändert worden sind,
darf man plötzlich alles, was er sagt, schreiben. Apo befiehlt uns
und wir setzen es um in die Praxis." (124)
Zu den geführten Diskussionen äußerte sich Öcalan
in einer am 18. September 1999 veröffentlichten Erklärung und
sprach von der Notwendigkeit des Glaubens daran, dass der Staat sich dank
der Kraft der Politik verändern und transformieren könne. Öcalan
sagte: "Es gibt Kritiken von der Sorte 'der Staat Türkei wird
sich nicht ändern, mit dieser (friedlichen) Methode kann die Türkei
nicht umgewandelt werden', die insbesondere von Intellektuellen kommen,
von unseren eigenen, aber auch von türkischen Intellektuellen. Ich
halte solche Kritiken für äußerst unangebracht. Verstößt
es nicht gegen die Dialektik, wenn wir sagen, der Staat könne sich
nicht wandeln? Der Glaube an Veränderung und Transformation ist notwendig.
Der Glaube an die Kraft der Politik ist notwendig. (...) Wenn unter den
gegenwärtigen Bedingungen der Türkei verschiedenste Kreise von
ihrem Verlangen nach Frieden sprechen, so ist dies ein direktes Resultat
unseres Kampfes. Es ist gewissenlos und respektlos, dies zu übersehen."
Öcalan fügte hinzu, dass diejenigen, die von einem unveränderlichen
Staat ausgehen, wissentlich oder unwissentlich dem anti-demokratischen
Staat dienten. Wer die Friedensbemühungen (der PKK) kritisiere, solle
auch eigene Alternativvorschläge machen.
"Kurz vor der Jahrtausendwende erleben wir in der Türkei Tage
des nahenden Friedens." Dies, so Öcalan, sei in einem so kurzen
Zeitraum wie den letzten 6 Monaten zu Tage getreten. Er bemerkte, dass
in einem Staat wie der Türkei einige Veränderungen geschehen
seien: "Die Stellungnahmen des Präsidenten, des Generalstabs,
des (Ersten Vorsitzenden des Kassationsgerichtshofs) Sami Selcuk, die
Schlag auf Schlag gekommen sind, weisen darauf hin, dass es in der Türkei
gesetzliche Besserungen geben könnte." Zivilgesellschaftliche
Organisationen, Intellektuelle, DemokratInnen und Kapitalbesitzer, die
ihre Interessen in einer EU-Mitgliedschaft der Türkei gewahrt sehen,
müssten sich in den Prozess einbringen. (125)
(124)Hürriyet, 5.9.99
(125)KIZ, 18.9.99
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