IV. Die Wende

Die Vorgeschichte des Rückzugs
Treffen des Plenums des Zentralkomitees der PKK
Rückzug der Guerilla und Beendigung des bewaffneten Kampfes
Präsidialrat der PKK zum Rückzug der Truppen
"Der Rückzug muss still und ohne Gefechte erfolgen"
"Eine unbenannte Revolution"
Stellvertretender US-Außenminister für mehr Rechte
Auch die Türkei muss ihre Aufgaben erledigen
Rückzug der Einheiten der PKK beginnt
"Reuegesetz" - Amnestie light - Förderung des Verrats
Amnestie, Teilamnestie, Generalamnestie?
Türkische Armee erschwert den Rückzug
Trotz Operationen eine mildere Atmosphäre
Der höchste General meldet sich zu Wort
"PKK wird Geschichte"
Öcalan lädt eine Gruppe seiner Partei als Friedensbotschafter ins Land ein
Einige Steine wurden doch ins Rollen gebracht

Drei Beispiele für zivilgesellschaftliche Einmischung

Erstes Beispiel: Deklaration zu Demokratie und Frieden
Zweites Beispiel: Rede des obersten Richters
Drittes Beispiel: Intellektuelle mischen sich ein
Der Ton der Stimme wird schärfer


Amnestie, Teilamnestie, Generalamnestie?

Die Diskussion um einen Straferlaß begann im Sommer 1998. Wenn Wahlen anstehen, buhlen Politiker gern um Wählerstimmen mit Versprechungen, die oft nur unerfüllte Hoffnungen wecken. Rahsan Ecevit, Vizevorsitzende der DSP (Partei der demokratischen Linken) und Ehefrau des Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten Bülent Ecevit, regte ganz "naiv" an, im Rahmen einer Generalamnestie anlässlich des 75. Jahrestags der Gründung der Republik am 29. Oktober 1998 Kriminelle, Mörder, Bandenmitglieder und Minderjährige aus der Haft zu entlassen.
Fast alle Politiker und Parteien grenzten jedoch die "Gesinnungstäter" und politischen Häftlinge aus den Amnestiediskussionen aus. Wolfgang Koydl brachte es in der 'Süddeutschen Zeitung' folgendermaßen auf den Punkt: "Wer einen anderen Menschen ersticht, erschießt oder erschlägt, der kann zur Jubelfeier der Republik mit seiner Freilassung rechnen. Wer jedoch in einem Zeitungsartikel, einer Rede oder einem Interview kurdische Sendungen, eine friedliche Lösung des Kurdenkonfliktes oder islamischen Religionsunterricht an den Schulen vorgeschlagen hat, der muss weiter sitzen". (103)
Die geplante und gewünschte "Teilamnestie" konnte zum 75. Jahrestag der Republik im Jahre 1998 nicht in die Praxis umgesetzt werden. Aber "versprochen ist versprochen". Aus diesem Grunde wollte man nun im Sommer 1999 das Versprechen aus dem letzten Jahr einlösen und Mörder, Bandenmitglieder, Mafiabosse, Drogendealer, Frauen-händler, Vergewaltiger und Diebe, kurzum alle, die keine politischen "Delikte" begangen hatten, freilassen.
Obwohl es eine nie zuvor erlebte Gegenstimmung gegen ein solches Gesetz gab und Proteste aus allen Teilen des Landes und aus allen Schichten und Klassen der Gesellschaft laut wurden, wurde am 29. August 1999 in einer Nacht- und Nebelaktion im türkischen Parlament ein "Amnestiegesetz" verabschiedet.
Das erlassene Gesetz sah die Freilassung und Haftminderung bei 58.500 der insgesamt 70.000 Gefängnisinsassen vor. Der Rest von ca. 10.800 gehört dem politischen Teil der Häftlinge an, und der größte Teil von diesen (ca. 10.000) wiederum dem PKK-Lager, als Mitglieder oder als Unterstützer.
Nachdem aber im In- und Ausland die Kritik an diesem "Amnestiegesetz" lauter wurde, hat Staatspräsident Demirel, der bis dahin sagte, dass er sich nicht in die Angelegenheiten des Parlamentes einmischen wolle und das Gesetz unterzeichnen möchte, dieses wieder ans Parlament zurückverwiesen. Diese "Geste" Demirels galt hauptsächlich den bevorstehenden Gipfeltreffen und Reisen der Staatsführung: Ecevits Reise Ende September in die USA, dem OSZE-Gipfeltreffen im November in Istanbul und dem Helsinki-Gipfel der EU im Dezember 1999. (104)
In der gleichen Zeit passierte ebenfalls ein Gesetz über "durch die Presse begangene Straftaten" das Parlament. Ein großer Teil der als 'Gesinnungstäter' inhaftierten Journalisten sollte hiervon aber nicht profitieren können; und wenn doch, dann nur unter inakzeptablen Auflagen. So konnte z.B. am 15. September 1999 der bekannte Soziologe und langjährige Insasse vieler Gefängnisse Ismail Besikci freikommen, darf aber in den nächsten 3 Jahren keine "Straftaten" begehen. Das heißt, er darf auch weiterhin nicht "schreiben", was er denkt.
Es geht bei diesem Gesetz also nicht um den Schutz der Meinungsfreiheit, sondern nur um einen -vorübergehenden- Straferlass.
Der ehemalige Vorsitzende des Menschenrechtsvereins der Türkei (IHD) Akin Birdal wurde wegen der Zunahme seiner Krankheitsbeschwerden für 6 Monate freigelassen. Wenn er in den 6 Monaten wieder gesund wird, muss er zurück ins Gefängnis. (105)
Bezüglich eines Amnestiegesetzes äußerte sich Öcalan wie folgt: "Der Umfang des Amnestiegesetzes muss erweitert werden. Für einen nationalen und gesellschaftlichen Frieden muss eine unterschiedslose Generalamnestie erlassen werden. Wenn das Parlament die Funktion einer verfassunggebenden Versammlung (Konstituierende Versammlung) erfüllen soll, muss es bezüglich dieser grundlegendsten aller Fragen der Türkei seine Pflicht im vollen Bewusstsein seiner historischen Verantwortung tun." (106)


(103)SZ, 23.7.98.

(104)Mehrere Ausgaben von Hürriyet, Sabah, ÖP, Milli Gazete, FR und taz im August und September 1999.

(105)ÖP, 17. u. 26.9.99; Hürriyet, 27.9.99

(106)KIZ, 17.9.99