Amnestie, Teilamnestie, Generalamnestie?
Die Diskussion
um einen Straferlaß begann im Sommer 1998. Wenn Wahlen anstehen,
buhlen Politiker gern um Wählerstimmen mit Versprechungen, die oft
nur unerfüllte Hoffnungen wecken. Rahsan Ecevit, Vizevorsitzende
der DSP (Partei der demokratischen Linken) und Ehefrau des Parteivorsitzenden
und Ministerpräsidenten Bülent Ecevit, regte ganz "naiv"
an, im Rahmen einer Generalamnestie anlässlich des 75. Jahrestags
der Gründung der Republik am 29. Oktober 1998 Kriminelle, Mörder,
Bandenmitglieder und Minderjährige aus der Haft zu entlassen.
Fast alle Politiker und Parteien grenzten jedoch die "Gesinnungstäter"
und politischen Häftlinge aus den Amnestiediskussionen aus. Wolfgang
Koydl brachte es in der 'Süddeutschen Zeitung' folgendermaßen
auf den Punkt: "Wer einen anderen Menschen ersticht, erschießt
oder erschlägt, der kann zur Jubelfeier der Republik mit seiner Freilassung
rechnen. Wer jedoch in einem Zeitungsartikel, einer Rede oder einem Interview
kurdische Sendungen, eine friedliche Lösung des Kurdenkonfliktes
oder islamischen Religionsunterricht an den Schulen vorgeschlagen hat,
der muss weiter sitzen". (103)
Die geplante und gewünschte "Teilamnestie" konnte zum 75.
Jahrestag der Republik im Jahre 1998 nicht in die Praxis umgesetzt werden.
Aber "versprochen ist versprochen". Aus diesem Grunde wollte
man nun im Sommer 1999 das Versprechen aus dem letzten Jahr einlösen
und Mörder, Bandenmitglieder, Mafiabosse, Drogendealer, Frauen-händler,
Vergewaltiger und Diebe, kurzum alle, die keine politischen "Delikte"
begangen hatten, freilassen.
Obwohl es eine nie zuvor erlebte Gegenstimmung gegen ein solches Gesetz
gab und Proteste aus allen Teilen des Landes und aus allen Schichten und
Klassen der Gesellschaft laut wurden, wurde am 29. August 1999 in einer
Nacht- und Nebelaktion im türkischen Parlament ein "Amnestiegesetz"
verabschiedet.
Das erlassene Gesetz sah die Freilassung und Haftminderung bei 58.500
der insgesamt 70.000 Gefängnisinsassen vor. Der Rest von ca. 10.800
gehört dem politischen Teil der Häftlinge an, und der größte
Teil von diesen (ca. 10.000) wiederum dem PKK-Lager, als Mitglieder oder
als Unterstützer.
Nachdem aber im In- und Ausland die Kritik an diesem "Amnestiegesetz"
lauter wurde, hat Staatspräsident Demirel, der bis dahin sagte, dass
er sich nicht in die Angelegenheiten des Parlamentes einmischen wolle
und das Gesetz unterzeichnen möchte, dieses wieder ans Parlament
zurückverwiesen. Diese "Geste" Demirels galt hauptsächlich
den bevorstehenden Gipfeltreffen und Reisen der Staatsführung: Ecevits
Reise Ende September in die USA, dem OSZE-Gipfeltreffen im November in
Istanbul und dem Helsinki-Gipfel der EU im Dezember 1999. (104)
In der gleichen Zeit passierte ebenfalls ein Gesetz über "durch
die Presse begangene Straftaten" das Parlament. Ein großer
Teil der als 'Gesinnungstäter' inhaftierten Journalisten sollte hiervon
aber nicht profitieren können; und wenn doch, dann nur unter inakzeptablen
Auflagen. So konnte z.B. am 15. September 1999 der bekannte Soziologe
und langjährige Insasse vieler Gefängnisse Ismail Besikci freikommen,
darf aber in den nächsten 3 Jahren keine "Straftaten" begehen.
Das heißt, er darf auch weiterhin nicht "schreiben", was
er denkt.
Es geht bei diesem Gesetz also nicht um den Schutz der Meinungsfreiheit,
sondern nur um einen -vorübergehenden- Straferlass.
Der ehemalige Vorsitzende des Menschenrechtsvereins der Türkei (IHD)
Akin Birdal wurde wegen der Zunahme seiner Krankheitsbeschwerden für
6 Monate freigelassen. Wenn er in den 6 Monaten wieder gesund wird, muss
er zurück ins Gefängnis. (105)
Bezüglich eines Amnestiegesetzes äußerte sich Öcalan
wie folgt: "Der Umfang des Amnestiegesetzes muss erweitert werden.
Für einen nationalen und gesellschaftlichen Frieden muss eine unterschiedslose
Generalamnestie erlassen werden. Wenn das Parlament die Funktion einer
verfassunggebenden Versammlung (Konstituierende Versammlung) erfüllen
soll, muss es bezüglich dieser grundlegendsten aller Fragen der Türkei
seine Pflicht im vollen Bewusstsein seiner historischen Verantwortung
tun." (106)
(103)SZ, 23.7.98.
(104)Mehrere Ausgaben von Hürriyet,
Sabah, ÖP, Milli Gazete, FR und taz im August und September 1999.
(105)ÖP, 17. u. 26.9.99; Hürriyet,
27.9.99
(106)KIZ, 17.9.99
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