Trotz Operationen eine mildere
Atmosphäre
Es war von
Anfang an jedem klar, dass der Weg zum Frieden voller Stolpersteine sein
und dass es vielerlei Provokationen geben würde. In manchen Gegenden
Kurdistans finden militärische Attacken gegen die sich zurückziehenden
Einheiten der PKK statt. Der Rückzug wird mit weiterem Blutvergießen
begleitet. In manchen Gegenden aber ist ein seit langem nicht mehr gekanntes
Klima entstanden. Türkische Soldaten greifen die sich zurückziehenden
"Feinde" nicht mehr an. Sie freuen sich, dass es endlich zu
Ende geht, dass sie lebend nach Hause zurückkehren können. Sie
schreiben an ihre Familien an der Ägäis, am Mittelmeer oder
am Schwarzen Meer, dass sie sich keine Sorgen mehr machen sollen.
Mancherorts werden parallel dazu noch Dörfer und Weiler zerstört,
ihre Bewohner vertrieben. In anderen aber ist das seit Jahren bestehende
Lebensmittelembargo aufgehoben. Die Bauern dürfen auf ihre Felder
gehen, um sie für den Frühling vorzubereiten. Die Hirten wandern
mit ihren Herden durch die ehemals verbotenen, militärisch abgeschirmten
Zonen, wo seit Jahren keine Herde mehr war und wo reichlich Nahrungsmittel
und Gras zu finden sind.
In manchen Gegenden beobachten türkische Soldaten sogar, wie die
sich zurückziehenden Guerillas ihre Lebensmittelvorräte an die
kurdischen Bauern verteilen und sich von ihnen verabschieden.
Verbindungsstraßen, die seit Jahren gesperrt waren, wie z.B. die
Straße von Diyarbakir nach Bingöl, werden für den Zivilverkehr
wieder geöffnet. Dort und in manch anderen Gebieten brauchen die
Menschen nicht mehr zwei Tage und Hunderte Kilometer Umweg hinter sich
zu bringen, um einen ca. 30 km entfernten Ort zu erreichen. Die Touristen
dürfen nach einer Unterbrechung von 12 Jahren wieder ungestört
auf die Gipfel des Ararat klettern.
Nicht überall, aber in manchen Gegenden dürfen Menschen erstmals
seit langem wieder die Grabsteine ihrer Angehörigen und ihre heiligen
Stätten besuchen. (110)
Und am 24. Oktober 1999 besuchte die Staatsführung, an der Spitze
Demirel und Ecevit, Diyarbakir, die heimliche Hauptstadt der Kurden. Zehntausende
KurdInnen, die ihren Protest gegenüber dem türkischen Staat
im März 1999 mit einem Boykott zum Ausdruck brachten und nicht auf
die Straße gingen, als Ecevit kam, trugen diesmal weiße Friedensfahnen
und Tauben oder gelbe HADEP-Fahnen. An jeder Straßenecke, auf jedem
Platz waren sie zu Tausenden zu sehen. "Nein zur Todesstrafe, Generalamnestie"
riefen sie und schwenkten Fahnen mit der Aufschrift "Nein zu den
Waffen, Frieden jetzt". So überraschten die "terroristischen"
Kurden plötzlich ihre Gäste. Nach dem Schock im Erdbebengebiet,
wo sie mehrfach Proteste der Opfer erlebt hatten, tat ihnen die Wärme
der Kurden anscheinend gut. Zum ersten Mal seit langem sah man sie lächeln.
Und am selben Tag gingen über 30.000 Menschen nicht in Kurdistan,
sondern in der durch Krieg und Vertreibung kurdisierten Stadt Adana am
Mittelmeer mit demselben Ziel auf die Straße: "Frieden jetzt!
Nein zur Todesstrafe!"
Dennoch ist es noch zu früh, von einem Frühling zu sprechen.
Es ist noch Herbst und ohne eine Vorbereitung auf den Winter wird es schwierig
sein, den Frühling zu erreichen. Es ist trotz allem aber ein schönes
Gefühl für die kurdischen Bauern, die in ihre Dörfer zurückkehren,
ihre Felder bestellen dürfen oder vom Lebensmittelembargo befreit
sind. Und es ist genauso ein schönes Gefühl für die türkischen
Soldaten, keine Angst mehr davor haben zu müssen, getötet zu
werden oder mit blutbefleckten Händen nach Hause zu ihren Frauen,
Kindern, Eltern und Freunden zurückzukehren.
(110)ÖP, 4.9.99; ÖP, Hürriyet und FR,
6.9.99; ÖP, 16.9.99; Hürriyet und ÖP, 17.9.99; Hürriyet, 21.9.99 |