Drittes Beispiel: Intellektuelle
mischen sich ein
An den Diskussionen
um eine friedliche Lösung der Kurdenfrage, Demokratisierung und Menschenrechte
nahmen auch 60 namhafte Schriftsteller, Künstler und Nobelpreisträger
aus aller Welt, darunter Günter Grass, Nadine Gordimer, Elie Wiesel,
Jose Saramago, Costa-Gavras, Ingmar Bergman, Arthur Miller und Harold
Pinter mit einem Appell teil, in dem es heißt: "Mit Gewalt
ist weder die Türkisierung der Kurden zu realisieren noch wird sie
den Kurden zu ihren Rechten verhelfen. Die Türkei muss nun mit einem
für die gesamte Welt und das neue Jahrhundert beispielhaften Schritt
die kurdische Frage lösen, indem sie ihre kurdischen Staatsbürger
in ihren eigenen Rechten wahrnimmt."
Diese neue Initiative der Intellektuellen wurde der Öffentlichkeit
am 11. Oktober 1999 auf einer Pressekonferenz in Istanbul von Yasar Kemal,
Ahmet Altan, Orhan Pamuk, Zülfü Livaneli und Mehmed Uzun vorgestellt.
Intellektuelle gelten allgemein als "Gewissen der Gesellschaften
der Welt". Und dieses "Weltgewissen" mischte sich am Ende
des Jahrhunderts und am Vorabend des neuen Jahrtausends ein und fordert
eine politische Lösung der Kurdenfrage:
"Als einer der blutigsten Zeitabschnitte der Menschheitsgeschichte
geht das 20. Jahrhundert zu Ende. In diesen letzten Tagen quält uns
eine Frage: wird das 21. Jahrhundert so blutig wie das vergangene sein?
Werden Waffen, Krieg und Gewalt ihre Vorherrschaft behalten? Werden Rassismus,
Nationalismus und Hass gegen die "anderen" aufs Neue die Welt
abschlachten und in Brand setzen? Wird Unterdrückung auch weiterhin
über ethnische und gesellschaftliche Verantwortung dominieren?
Unsere Antwort auf diese Fragen ist ein kategorisches "Nein".
Das neue Jahrhundert und die Völker des neuen Jahrhunderts haben
die Verpflichtung, jegliche Form von Diskriminierung und Unterdrückung
zurückzuweisen.
Wir, die unterzeichnenden Schriftsteller und Künstler, wünschen
uns, die Türkei im nächsten Jahrhundert als eine führende
Vertreterin bei der Durchsetzung der Menschenrechte und der Demokratie
zu sehen. Wir glauben, dass die Türkei als integraler Teil der zivilisierten
Welt den Willen und den Glauben besitzt, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit
für alle ihre Völker zu verwirklichen.
Gegenwärtig ist die Türkei dafür bekannt, die vitalen Regeln
der Menschenrechte und der Demokratie zu verletzen. Sogar von türkischen
Regierungsmitgliedern wird diese Tatsache zugegeben. Das entscheidende
Problem ist die kurdische Frage. Weil sie dieses Problem nicht angemessen
gelöst hat, kann die Türkei weder die gewünschten Schritte
in der Frage der Menschenrechte unternehmen noch die volle Demokratie
erreichen.
Wir glauben, dass die Türkei die Kraft besitzt, das kurdische Problem
zu lösen. Keines der Bedenken der 1923 auf den Überresten des
Osmanischen Reiches gegründeten jungen Republik hat heute mehr Gültigkeit.
Heute sind die ungefähr fünfzehn Millionen Kurden in der Türkei
unentbehrliche Staatsbürger. Die Kurden fordern nur die Erhaltung
ihrer Sprache und kulturellen Identität und möchten als freie
Staatsbürger in der Einheit der Türkischen Republik leben, kurdisch
lesen und schreiben und im Kurdischen unterrichtet werden, arbeiten, dienen
und ihr Glück suchen bei Bewahrung ihrer besonderen Eigenart und
Kultur.
Seit 1923 gab es rigide politische Anstrengungen zur Türkisierung.
Kurdisch wurde als Erziehungssprache und Kommunikationsmittel verboten.
Unter diesem Zwang wurden zahllose Menschen verhaftet und bestraft. Zehntausende
Namen von Städten, Dörfern, Weilern, Bergen, Tälern und
Hügeln wurden durch türkische ersetzt. Bei der Gelegenheit bezeichnete
man die Kurden als "Bergtürken". In der Verfassung und
anderen Gesetz-büchern wurde diese Politik verankert.
Doch ist keine dieser Maßnahmen erfolgreich gewesen. Die Kurden
sind nicht zu Türken geworden. Die kurdische Frage wurde nicht gelöst.
Die blutgetränkten - und unerschwinglich teuren - Ereignisse der
letzten 15 Jahre bekräftigen: Gewalt ist kein Ausweg. Mit Gewalt
ist weder die Türkisierung der Kurden zu realisieren noch wird sie
den Kurden zu ihren Rechten verhelfen.
Die Türkei muss nun mit einem für die gesamte Welt und das neue
Jahrhundert beispielhaften Schritt die kurdische Frage lösen, indem
sie ihre kurdischen Staatsbürger in ihren eigenen Rechten wahrnimmt.
Wir glauben, dass ein solcher Schritt die Türkei wirtschaftlich,
gesellschaftlich und kulturell sehr stärken und bereichern wird.
Kurdisch ist eine der reichsten lebenden Sprachen der mesopotamischen
Zivilisation. Es besitzt sowohl eine reiche klassische Literatur wie eine
vielfältige musikalische Tradition und eine blühende moderne
Literatur. Die überaus alte kurdische Geschichte und ihr kulturelles
Erbe gehören uns allen.
Anstatt sie zu leugnen oder herabzusetzen, müssen diese Kostbarkeiten
zum lebendigen Bestandteil des Reichtums der Türkei werden. Die Kurden,
die in der gesamten Geschichte im Völkermosaik Anatoliens ein Drittel
ausgemacht haben, dürfen nicht länger diskriminiert werden.
Sie müssen ihre Rechte und ihre Würde erhalten, damit sie in
Anatolien und der Türkei wieder zu einem dynamischen Ganzen werden
können. Kurdisch muss zur Schul- und Ausbildungssprache werden. Die
Notwendigkeit kurdischen Rundfunks und Fernsehens muss anerkannt werden.
Das Recht auf die kurdische Sprache, Kultur und Identität muss in
der Verfassung verankert werden.
Wir appellieren an den Präsidenten, den Minister-präsidenten,
das Parlament und die Regierung: Bitte befreien Sie die Türkei von
ihrer Schande. Während Sie sich um die Wunden des schrecklichen Erdbebens
kümmern, das uns alle betrübt hat, wenden Sie sich bitte auch
den gesellschaftlichen Wunden zu, die seit über siebzig Jahren bluten.
Im 21. Jahrhundert soll die Türkei stolz dastehen, als Leuchtfeuer
und Verkörperung humanitärer und demokratischer Werte."
(128)
Ob dieser Appell der Weltliteraten und Künstler überhaupt in
der Türkei oder in Deutschland und Europa auf Interesse stößt
und Widerhall findet, ist fraglich. Die Menschheit hat anscheinend nichts
dazu gelernt. Die Regierung eines führenden europäischen Staates,
die bei ihrem Amtsantritt Werte wie Frieden, Menschenrechte, Gerechtigkeit
und Demokratie groß auf ihre Fahnen geschrieben hatte, bietet heute
der Türkei, die nach wie vor gegen einen Teil ihrer eigenen Bevölkerung
Krieg führt, durch Lieferung weiterer Tötungs- und Kriegsgeräte
eine "Europäische Perspektive" an. So wird der langen und
blutigen Geschichte des Kampfes um Menschenrechte und Demokratie nur noch
ein weiteres trauriges Kapitel hinzugefügt.
(128) Der volle
Wortlaut und die Liste sämtlicher Unterzeichner sind in den Nützlichen
Nachrichten 3/99 abgedruckt. |