Die Komplexität der Veränderungen, die von wodurch auch immer ausgelösten Wanderungsentscheidungen hervorgerufen werden, stellt die in Westeuropa üblichen Bilder, Erklärungsmodelle und "Lösungsmuster" im Zusammenhang mit Migrationsbewegungen und MigrantInnen massiv in Frage. Dies betrifft nicht allein, ja nicht einmal vor allem, die Grundlagen der EU-weit praktizierten Politik der Ausdifferenzierung von MigrantInnen unter rassistischen, sexistischen und klassistischen Gesichtspunkten: Es sind auch die tradierten und in den ideologischen "Normalzustand" einer "christlich-mitteleuropäischen" Gesellschaft bequem eingebetteten Bilder jener Menschen, die sich für Flüchtlinge und gegen Rassismus engagieren, die der Komplexität der Situation nicht gerecht werden und somit über eine Art "humanistischen Paternalismus" die Grundlage rassistischer, sexistischer und klassistischer Ausgrenzung reproduzieren, fortschreiben und de facto auch rechtfertigen.
"Antirassistisches Engagement" fordert quasi objektivierbares Leid als Grundlage einer Migrationsentscheidung und stellt damit auf Menschen mit deutlich begrenzter Autonomie sowie geringer Handlungsfähigkeit ab. Solcherart in den Köpfen zu dankbarkeitspflichtigen BittstellerInnen reduzierte MigrantInnen dienen aufgeklärten, toleranten und antirassistischen WesteuropäerInnen als Projektionsfläche für Wünsche und Erwartungen an künftig zu schaffende Gesellschaften: Unter dem Motto "wer Unrecht erlebt hat, kann doch nicht unrecht handeln" wird MigrantInnen in völliger Umkehrung aller menschlichen Erfahrung ein Verhaltenskodex auferlegt, den keine, sich ihrer Zugehörigkeit zur Majorität (un-)bewussten Person sich selbst je zumuten würde. Die Mundstarre, in die ansonsten jede Form der Öffentlichkeit suchende MenschenrechtspolitikerInnen und -AktivistInnen angesichts der "Operation Spring" verfallen waren, legt beredtes Zeugnis ab: MigrantInnen haben, selbst wenn die österreichische Rechtslage ihre physische Existenz bedroht, nicht mit Drogen zu handeln, keinen Ladendiebstahl zu begehen und nicht ohne Bezahlung öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen!
Eine angeborene Haut abzustreifen ist Vorrecht einiger Reptilienarten, und so können auch wir, die wir diese Sonderausgabe des TATblatts geplant, konzipiert, geschrieben und umgesetzt haben, Vorurteile, Projektionen und Deutungen, die wir als TeilnehmerInnen langandauernder gesellschaftlicher Prozesse erlernt haben, nicht einfach abstreifen. Die vorliegende Ausgabe des TATblatts ist daher als ein Schritt im Rahmen eines Bewusstseinsbildungsprozesses zu sehen, der seiner Verbreiterung, Vertiefung oder gegebenenfalls seiner Falsifikation harrt. Die Sondernummer Flucht.Hilfe ist in gewisser Fortschreibung jenes kritisierten "humanistischen Paternalismus" eine Publikation über Migration, MigrantInnen und den Umgang der Mehrheitsbevölkerung mit MigrantInnen. Diese Einschränkung ergibt sich allein schon aus der schwer zu überwindenden Konstruktion von Mehrheitsbevölkerung und Minorität (dem gesellschaftlichen Konsens): Beiträge von MigrantInnen können im Rahmen dieser Konstruktionen überhaupt nur als solche wahrgenommen werden, wenn sie inhaltlich einen konstitutiven Ansatzpunkt aus der Konstruktion selbst aufgreifen und zum Thema machen; sprich: ihre Situation als Verfolgte, Gedemütigte, Unterstützungsbedürftige darstellen. Jene Beiträge, die tatsächlich von MigrantInnen stammen, sind in dieser Publikation wiederum als solche nicht erkenntlich: Inhaltlich stehen sie für sich, und ausdrückliche Kennzeichnung diente bestenfalls der neuerlichen Reproduktion angeblicher Andersartigkeit.
Die antagonistische Tendenz unserer Arbeit im Kontext des "humanistischen Paternalismus" hätten wir gerne (insbesondere) an folgenden Denkansätzen gemessen, die als inhaltliche Ansatzpunkte bei der Erstellung dieser Ausgabe des TATblatt wie auch als Aufgabenstellung an zukünftige antirassistische Arbeit an das Ende dieses Textes gestellt sind:
*Grenzen sind die konstitutiven Elemente rassistischer Konstruktion. Sie als geronnene Politik und damit einer Deutung zugänglich darzustellen, unterstützt diese Konstruktion. Grenzen müssen daher stets Angriffspunkte antirassistischer Politik sein!
*Geronnener Volkswille wiederum bedarf der Konstruktion eines Volkes. Die gesetzliche Regelung der aufgezwungenen Andersartigkeit - in Österreich insbesondere Fremdengesetz, Aufenthaltsgesetz und Ausländerbeschäftigungsgesetz sowie jede Differenzierung in In- und AusländerInnen - reproduziert die Konstruktion und induziert Gewalt (ob in institutioneller, emotionaler oder physischer Form).
*Rassismus und Sexismus sind zusammenhängende Erscheinungen, die getrennt nicht erfasst und folglich auch nicht getrennt bekämpft werden können.
*Die Konstruktion des Anderen ist Bestandteil unseres Denkens. Ohne
Bewusstsein dessen und laufender Überprüfung des eigenen Handelns
stehen wir mit allem, was wir machen, in einem "konstruktiven Verhältnis"
zum rassistischen Normalzustand. Dieser wird nicht allein von Haider, Dichand
und Schlögl, sondern vor allem von Viktor Klima, Caspar Einem, dem
WWF, dem Kuratorium für Verkehrssicherheit und den Backstreetboys,
kurz: all jenen getragen, die trotz ihrer Position als AkteurInnen der
öffentlichen Debatte keinen Einspruch gegen diesen scheinbaren, rassistischen
Konsens erheben und ihn damit zum wirklichen Konsens machen.
Das vorliegende Heft soll dazu beitragen, diesen zu durchbrechen.
aus: TATblatt nr. +120/121/122/123 (12/13/14/15 1999)
vom oktober 1999
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